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Vorabdruck aus Andreas Manteufel: Nerven bewahren. Alltag in der Akutpsychiatrie - Aus dem Sudelheft eines Psychologen

Manteufel: Nerven bewahren Paranus-Verlag, Neumünster 20012 (April)

184 S., Broschiert

Preis: 14,80 €

ISBN-10: 3940636193
ISBN-13: 978-3940636195


Verlagsinformation: „Ich habe gleich zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit eine Art Sudelheft angelegt. Darin hielt und halte ich fest, was ich staunend, erheitert, beeindruckt und manchmal mit Unverständnis im Klinikalltag aufschnapp(t)e. Auch Zitate aus der Literatur oder Zeitungen, die einen psychiatrischen Nagel auf den Kopf treffen, schreibe ich bisweilen in dieses Sudelheft. Dieser Fundus ist der Grundstock des vorliegenden Buches, angereichert mit Erinnerungen und Kommentaren, die mir jetzt, beim Zusammenschreiben, dazu einfallen.
„Nerven bewahren“ ist ein Buch über Metaphern und Sprachspiele in der Psychiatrie. Und es ist ein Buch zu der Frage, wie man dort seine Nerven bewahrt. Die Antwort lautet unterm Strich: Mit einer gewissen Distanz und mit Humor. Humor brauchen wir als Gegengift zu der Schwere, die vielen Gesprächen und Geschichten, die wir miterleben, anhaftet. Humor beflügelt die Kreativität, hilft dabei, Dinge einmal ganz anders zu sehen und vermittelt eine positive, lösungsorientierte Grundhaltung. Genau dieser Humor spiegelt sich in vielen Äußerungen unserer Patienten wider, und das ist es, was mich daran reizt, solche besonderen Sprachblüten zu sammeln und Ihnen hier verdichtet vorzustellen.“

Über den Autor: Dr. phil., Jg. 1963, psychologischer Psychotherapeut. Studium der Psychologie (Diplom) und der Angewandten Sprachwissenschaften (Magister). Seit 1992 in der LVR-Klinik Bonn in der Abteilung Allgemeine Psychiatrie 1 tätig. Promotion bei Prof. Günter Schiepek 1996 mit einer Arbeit über Systemspiele. Zahlreiche Fachveröffentlichungen. Praktische Arbeitsschwerpunkte: Systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie, Supervision und Coaching.



Einträge ins Sudelbuch (S. 13-30)


„Wo arbeitest du?“
„Im psychiatrischen Krankenhaus.“
„Ach du meine Güte, was machst du denn da?“
(gängiger Alltagsdialog)

In solchen Momenten wünsche ich mir manchmal, einen anderen Beruf zu haben, einen, der sich leicht erklären lässt, den jeder kennt und der kein Stirnrunzeln auslöst. Oft weiß ich nicht, ob mir echtes Interesse entgegenkommt oder eher Bedauern. „Das ist sicher eine schwere Arbeit“, wird gerne angehängt.
Aber die Leute haben ja recht. Leicht ist diese Arbeit sicher nicht, und was wir als Psychiatriemitarbeiter genau machen, weiß kaum jemand, der nicht selbst irgendeine Erfahrung mit dieser Institution gemacht hat. Beginne ich dann, von meinem Beruf zu erzählen, merke ich, dass das gar nicht so leicht ist. Womit fange ich an, was ist wesentlich, was interessiert den Fragesteller? Und vor allem: Ja, was mache ich denn eigentlich wirklich im psychiatrischen Krankenhaus?

Was ich an meinem Arbeitsplatz mache, hat nach fast zwanzig Jahren schon viel mit Routine zu tun. Deshalb denke ich meist gar nicht mehr so viel darüber nach. Bekanntlich gefährdet zu viel Nachdenken die Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit des routinierten Handelns. Das gilt für einfache wie für komplexe motorische Abläufe wie Jonglieren, Fahrrad- oder Autofahren, Fußballspielen (wehe dem Stürmer, der vor dem Torschuss zu viel nachdenkt), oder für soziale Ereignisse und Small Talk, manchmal vielleicht auch für Kindererziehung, und natürlich für die vielfältigen beruflichen Routinen. Viele hochkomplexe Abläufe mögen mir aus der Intuition heraus gelingen, weil das implizite Gedächtnis genug „ähnliche Fälle“ abgespeichert hat. Auch wenn wir in unserem Beruf über die Fallbesprechung oder Supervision Instrumente eingebaut haben, die uns immer wieder zum Reflektieren über das, was wir tun, zwingen, so sind Routinen natürlich sehr hilfreich. Damit verkürzen sich Entscheidungsprozesse, wir sparen Zeit und Nerven. Je mehr Information man sammelt und abwägt, je mehr unterschiedliche Argumente und Meinungen man in einer Teamsitzung sammelt, umso schwieriger kann die Entscheidungsfindung werden. Berufsanfänger beneiden die Erfahrenen um ihre schnellen Antworten.

Einerseits garantiert Routine also rasches, entschiedenes Handeln ohne allzu großen Zweifel. Auf der anderen Seite habe ich auch bald die „erstarrte“ Routine, die keine Abweichung zulässt und Neulernen verhindert, kennengelernt. „Das haben wir immer so gemacht“, hörte ich als Novize auf Station von den Älteren sehr häufig. Neue Vorschläge stießen auf kollektives Unverständnis: „Das haben wir noch nie gemacht“. Eine solche Haltung können wir uns jedoch in unserem Job nicht leisten. Nicht nur, dass wir so keine attraktiven Gesprächspartner mehr für unsere Patienten sind, die ja mit unserer Hilfe nach eigener Orientierung suchen. Unsere Arbeit ist auch einfach nicht von der vorgestanzten Art, für die Routine alleine ausreicht. Im Gegenteil. Das täglich Neue und Überraschende, mit dem wir auf einer psychiatrischen Station rechnen müssen, erfordert viel Flexibilität und Spontaneität. So erleichtern zum Beispiel diagnostische Kategorien zwar zunächst die Orientierung und die professionelle Kommunikation. Doch sie zwingen jeden einzelnen Fall auch in ein häufig erdrückendes Korsett. Jede individuelle Geschichte, jede persönliche Konstellation, jede einzelne Entwicklung von Krankheit und Gesundheit ist anders. Stecken wir sie in die viel beschworene Schublade, werden wir rasch erleben, dass die Schublade klemmt – und damit auch unser Denken. Das erkennen auch Forscher, die zunehmend darüber nachdenken, dass die klassischen Diagnosen (zum Beispiel nach dem ICD, der „International Classification of Diseases“ oder dem DSM, dem „Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen“ formalisiert) eher Übergänge, Zwischenstufen, „Dimensionen“ abbilden, statt klar voneinander zu trennende Krankheitseinheiten.

Es lässt sich also paradoxerweise formulieren: Wir brauchen bestimmte professionelle Handlungsroutinen zur schnellen Erfassung und Entscheidungsfindung. Dies hat mit der viel beschworenen Intuition zu tun. Auf der anderen Seite brauchen wir Methoden, um der besonderen Einzigartigkeit jedes Patienten und seiner Geschichte gerecht zu werden. Solche Methoden sind beispielsweise Interviewleitfäden, mit denen wir relevante Informationen sammeln, Genogramme, mit denen wir eine familiäre Konstellation über Generationen hinweg in der Art eines Stammbaums grafisch abbilden, oder die individuellen Fragetechniken und Methoden der Gesprächsführung. Diese Methoden dienen uns als weitere Instrumente, um jeden Einzelfall erfassen und abbilden zu können.

Es ist also, bei allem Segen beruflicher Routine, auch wichtig, sich die Frage zu stellen: „Was mache ich und warum mache ich es so?“. Solche Reflektionszeiten müssen daher in unserem Berufsalltag ausreichend zur Verfügung stehen. In der Regel sind das Teambesprechungen, Supervisionen, Fallseminare, aber natürlich auch kleine informelle Gespräche unter Kollegen am Rande. Einen großen Stellenwert haben in dieser Hinsicht für mich die Praktikantinnen und Praktikanten, die mich in der Zeit ihrer teilnehmenden Beobachtung meiner Arbeit immer wieder zur Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung auffordern, indem sie ganz offen und direkt Fragen stellen wie: „Warum haben Sie das jetzt gesagt?“ „Was haben Sie sich dabei gedacht?“ oder auch Fragen nach allgemeinen Vorgehensweisen: „Wie reagieren Sie, wenn jemand schweigt?“ oder „Wie lange ist es gut, in der Klinik behandelt zu werden?“. Ihnen gegenüber und damit auch mir selbst gegenüber muss ich Stellung zu meinem täglichen Handeln beziehen.

Mit diesem Buch trete ich nun auch schreibend die Flucht nach vorne an und stelle meine alltäglichen beruflichen Erfahrungen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Alltagsszenen, Zitate, Gedanken und Interpretationen, aus denen Sie bei der Lektüre vielleicht Muster erkennen können, reihen sich aneinander, ganz so, wie es dem kaum planbaren Alltag an meinem Arbeitsplatz entspricht. So können Sie das Buch von vorne nach hinten oder von hinten nach vorne lesen oder auch von Thema zu Thema springen – ganz wie Sie möchten. In meiner täglichen Arbeit, in der ich viele verschiedene Aufgaben zu erfüllen habe, mäandere ich auch von einem Ort zum anderen, von einer Einzel- zur Gruppenpsychotherapie, von Angehörigen- und Familiengesprächen zum Organisieren der Wochenstruktur eines Patienten, vom kollegialen Austausch mit anderen Berufsgruppen (den Pflegekräften, Ärzten, Bewegungs- und Ergotherapeuten, Tanz- oder Musiktherapeuten, um nur einige zu nennen) zur Beschäftigung mit Akten und Dokumenten (in der Regel am Computer), manchmal auch von einer Krisenintervention zur nächsten. Lassen Sie sich mit dieser Sammlung von Alltagsszenen und ihren „Auslegungen“ mitten in den Klinikalltag hinein entführen. So könnte das an der Oberfläche manchmal seltsam oder chaotisch erscheinende Treiben in einem psychiatrischen Krankenhaus für Sie allmählich Sinn bekommen. Dass ich es bin, der dies oder jenes denkt oder tut, ist zweitrangig. Andere Psychiatriemitarbeiter sehen die Dinge nicht wie ich, obwohl sie ähnliche Erfahrungen machen. Sie würden ein ganz anderes Buch schreiben. Wichtig ist, was Ihnen als Leserinnen und Lesern sinnvoll erscheint. Oder um ein altes konstruktivistisches Bonmot zu bemühen: Ich bin voll und ganz verantwortlich für alles, was ich schreibe. Aber Sie für das, was Sie lesen.

Sehr bald nach meinem Berufsstart legte ich mir das erwähnte Sudelheft an. Ich fand meinen Arbeitsplatz, den ich im Mai 1992 antrat, ganz schön erstaunlich und hatte früh das Bedürfnis, manche Dinge, die ich noch gar nicht so richtig einordnen konnte, erst einmal festzuhalten. Vielleicht kann es nützen, dachte ich, es nach und nach zu verstehen, wenn sich erst einmal der Nebel gelichtet haben würde. So lautete einer der ersten Einträge folgendermaßen:


„Das ist hier ja wie im Irrenhaus!“

Eine psychiatrische Akutstation als Arbeitsplatz lässt Außenstehende sicher an Chaos, Hektik, Krisenmanagement denken. Speziell für die geschützt-geschlossenen Stationen trifft dies auch zu. Auch unsere offenen Stationen nennen wir mittlerweile „Akutstationen“. Der Auftrag der Klinik ist damit im Prinzip auf das akute Krisenmanagement konzentriert. Aber intern wissen wir natürlich weiterhin zu unterscheiden zwischen „mehr oder weniger akut“, zwischen Notfall und sofortigem Handlungsbedarf auf der einen und ruhigeren Verläufen auf der anderen Seite. So gibt es auf offenen Stationen durchaus Zeiten, in denen das Tempo gemächlicher ist. Doch auch hier müssen wir jederzeit mit allem rechnen. Und Tage andauernder Umtriebigkeit auf allen Seiten gehören zu unserem Geschäft. Unvergessen ist mir ein „erfahrener“ Patient in den mittleren Jahren, der inmitten einer außergewöhnlich hektischen Betriebsamkeit rund um den Stationsstützpunkt verzweifelt mit den Armen rudernd halblaut in die Flure rief: „Das ist hier ja wie im Irrenhaus!“ Für einen Moment konnte er vernachlässigen, dass sich Metapher und Realität deckten. Mit demselben Patienten hielten wir auch wortlose Visiten ab, da es ihm in seinen depressiven Phasen im wahrsten Sinne des Wortes „die Sprache verschlagen“ hatte. Ein anderer depressiver Patient lag einmal während der Zimmervisite im Bett und antwortete auf die Frage nach seinen Tagesaktivitäten behutsam mit „Einatmen – Ausatmen“, dem langsamen Fluss seines Atems folgend. Ich empfand dabei die Zeit wie stehende Hitze. Kommt plötzlich die Meldung, dass ein suizidaler Patient die Station verlassen hat, wird es auf der Station demgegenüber turbulent und wir alle sind dann plötzlich wieder im Wettlauf mit der Uhr, um den Patienten rechtzeitig zu finden. Ich will nicht sagen, dass meine Nerven permanent angespannt sind. Aber einen Arbeitsplatz zum Ausruhen habe ich mir nicht ausgesucht.

Ich arbeite in einer der wirklich großen psychiatrischen Kliniken. Heute heißt sie „LVR-Klinik-Bonn“, Träger ist der Landschaftsverband Rheinland. Im Volksmund werden wir noch häufig „Landesklinik“ genannt, noch kürzer auch LKH (Landeskrankenhaus). Vor Kurzem wurde der 125-jährige Geburtstag der Klinik gefeiert. Ihre Geschichte repräsentiert die Geschichte der deutschen Psychiatrie durch die Epochen. Zu dieser Historie gehören die nationalsozialistische Ära der Auslese und „Ausmerzung“, die Psychiatriereform der 70- und 80er-Jahre und heute die Entwicklung zum „modernen Dienstleistungszentrum“, das freilich unter ständigem wirtschaftlichem Druck und damit auch Zeitdruck, was die Behandlungsdauer betrifft, steht. Als ich meinen Job in der Klinik begann, war die Ära der Langzeitpsychiatrie besiegelt und die Klinik befand sich gerade im Übergang zum Akutkrankenhaus.

Mein erster Einsatzort war eine offene Station, die noch die Zusatzbezeichnung „Langzeitstation“ trug. So etwas gibt es schon längst nicht mehr. Ich kam in einer Zeit des Umbruchs dorthin, denn die Zeit der vom Gesundheitssystem geduldeten offiziellen Langzeitbehandlungen lief damals gerade ab. Längst war der Übergang der Patienten in neu errichtete Wohnheime für psychisch Kranke beschlossene Sache und wir waren fortan damit beschäftigt, für diejenigen Patienten, die nicht in ein bestehendes Zuhause entlassen werden konnten, diesen Umzug zu organisieren. Ich lernte also zu Beginn meiner Laufbahn die letzten Langzeitpatienten kennen. Die Station kannte kein Rauchverbot und keine Raucherecken, auch nicht für Mitarbeiter. Eigentlich arbeitete ich, sobald ich den Stationsflur betrat, den ganzen Tag eingehüllt in einer wabernden Nikotinwolke. So manches Antlitz der Menschen, die mir aus dem Nebel entgegenkamen, zeugte davon, dass die Zeit des Zwangsduschens längst vorbei war, aber auch keine konsequente Motivationsarbeit zur Körperpflege betrieben wurde.
Die ersten Eindrücke kann ich gedanklich leicht abrufen, weil sie lange haften bleiben. An meinem ersten Arbeitstag wurde ich im Stationszimmer mit einem reichlich gedeckten Frühstückstisch begrüßt. Ich war erstaunt und erfreut darüber, dass ich einen Arbeitsplatz mit Halbpension gewählt hatte. Als ich das Zimmer später verließ, hörte ich hinter mir, wie mein Stuhl mit Wucht an den Tisch herangerückt wurde und die Stationsschwester halblaut und sehr streng sagte: „Das Aufräumen bringen wir dem auch noch bei.“ Ich begann zu ahnen, was für einen pseudofamiliären Charakter ein Stationsteam hatte, mit allen Vor- und Nachteilen. Heutige Stationsteams wirken „professioneller“, „kühler“, und gefrühstückt wird auch nicht mehr so viel. Mein erstes selbst geführtes Einzelgespräch mit einem Patienten musste ich letztlich ohne eine einzige Antwort beenden, da mein Gegenüber ganz in der Wahrnehmung von bekannten und unbekannten Flugobjekten außerhalb des Gebäudes gefangen war.

In den Zimmern der Patienten stapelte sich deren gesamtes Hab und Gut. Mit völligem Unverständnis hörte ich, dass ein Patient einen Suizidversuch mit genau dem Medikament unternommen hatte, das er von seinem Arzt zur Gesundung verschrieben bekam. Was mich heute keinen Moment des Nachdenkens mehr kostet, kam mir damals unglaublich, fast wie ein Selbstmordanschlag auf das Gesundheitssystem, vor. Will hier jemand aus Rache die ihm zur Heilung verordneten Medikamente zum tödlichen Gift – verrückterweise gegen sich selbst – umfunktionieren? So dachte ich damals.

Über meine Gespräche schrieb ich seitenweise handschriftliche Protokolle, die mittlerweile längst im digitalen Archiv eingescannt sind. Gelesen hat sie außer mir niemand.

Vieles vermisse ich wirklich nicht. Ich hätte keine Lust, mein Berufsleben mit Lungenkrebs zu beenden, und bin dankbar dafür, dass das Rauchen nach draußen verdrängt wurde. Niemand wünscht sich die Zeit der jahrelangen Klinikaufenthalte zurück. Die ambulante Behandlung und Versorgung psychisch Kranker hat sich enorm entwickelt. Die Klinik versteht sich als Akutkrankenhaus. Viele schwere medikamentöse Nebenwirkungen von Psychopharmaka sehen wir heute zum Glück wesentlich seltener. Einiges ist in der Entwicklung zum modernen Behandlungszentrum aber auch auf der Strecke geblieben. Das ist neben der berühmten Beziehungsebene zum Beispiel das Erheben und Dokumentieren ausführlicher Anamnesen, Biografien und therapeutischer Gespräche. Früher nahmen wir uns viel häufiger die Zeit für Hausbesuche. Es gab noch Geld für Freizeitaktivitäten, die das Stationsteam mit den Patienten organisieren und durchführen konnte. Eine ältere „Langzeitpatientin“ verweilte jahrelang auf einer geschlossenen Station, wo sie als Küchenhilfe einen, natürlich nicht offiziellen, Job hatte. Solche Konstruktionen sind kaum noch denkbar, waren aber kreativ und hilfreich. Die Psychiatrie, die selbst eine Art gesellschaftliches Nischendasein bestreitet, hatte mehr Möglichkeiten, solche Nischen zu schaffen, als heute. Man mag es als Fortschritt sehen oder bedauern.

Im Folgenden lasse ich nun weiter das Sudelheft sprechen. Die Einträge daraus sind in Fettschrift wiedergegeben und aus heutiger Sicht kommentiert, häufig auch mit anknüpfenden Erfahrungen ergänzt. Der folgende Eintrag stammt aus den allerersten Monaten meiner Berufstätigkeit in der Klinik und spricht ein Dauerbrennerthema an, die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und damit der Menschen, die an ihnen leiden.


Die Postamt-Metapher psychischer Erkrankungen: Abstempeln und aufgeben!

Es wäre blauäugig anzunehmen, dass die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen der Vergangenheit angehört. Offen ausgesprochen werden die Vorbehalte selten, aber die Ängste der Betroffenen, nicht mehr ernst genommen und/oder abgewertet zu werden, sind real. Häufig berichten Patienten davon, dass ihnen vonseiten ihrer Arbeitgeber zunächst volle Unterstützung zugesichert wird. „Werden Sie erst mal richtig gesund“, „Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen, um gesund zu werden“, lauten die ermutigenden Worte am Anfang. Beim erhofften Wiedereinstieg nach der Genesung klingen die Botschaften dann schnell anders. Längst ist der bisherige Arbeitsplatz neu besetzt, Arbeitsverträge werden nicht verlängert, jetzt heißt es zum Beispiel: „Das Unternehmen kann sich so lange Fehlzeiten nicht leisten.“ Ungeduldige Arbeitgeber rufen uns an und fragen nach der Dauer der Behandlung, denn „wir müssen auch planen“. Der befürchtete „Gesichtsverlust“ verhindert das offene Wort über Krankheit oder therapeutische Behandlung insbesondere da, wo Helden erwartet werden, denken wir an den Suizid des Nationaltorhüters Robert Enke oder an typische „Männerberufe“. Ein Patient unserer Station arbeitete schon jahrelang als Geldtransportfahrer. Bei der Arbeit trug er eine Waffe. Er wusste von Überfällen und Gewalt zu berichten. Wir lernten ihn als sensiblen, auf der emotionalen Ebene schnell überforderten Menschen kennen. Glaubhaft versicherte er uns, dass er sich in seiner beruflichen Rolle von dieser „schwachen“ Seite einfach nicht zeigen könne.

Viele Patienten mahnen an, dass unser Klinikstempel auf der Krankschreibung ihren Aufenthalt in „der Psychiatrie“ verrät und sie damit nicht mehr mit Unvoreingenommenheit des Arbeitgebers bezüglich der Art ihrer Erkrankung rechnen können.

Stigmatisierung erleben psychisch Kranke vielerorts. Schon das psychiatrische Krankenhaus als solches war seit jeher wie ein Tabu. So ist zu erklären, dass sich für die entsprechenden Kliniken in den großen Städten Synonyme eingebürgert haben, die das explizite Nennen des Aufenthaltsort überflüssig machen. Bei uns in Bonn stand zum Beispiel lange Zeit der Name des langjährigen Chefarztes für die ganze Klinik, wenn man drohend sagte: „Pass op, sonst küss de bei de Pelman“ (1). Später ersetzte der Name der Straße, an der die „Landesheilanstalt“ lag, die Klinikbezeichnung. Und noch heute wissen viele alteingesessene Bonner genau, was gemeint ist, wenn dieser Straßenname verschämt oder augenzwinkernd spöttisch ausgesprochen wird. Dabei spielt es keine Rolle, dass die postalische Anschrift der Klinik seit Jahrzehnten auf eine andere Straße übergegangen ist.

Solche Beispiele lassen sich sicher für andere Städte sinngleich finden: Begriffe von Stadtteilen oder Straßen, die anfangs zur „Vertuschung“ oder Verharmlosung des wahren Klinikcharakters verwendet wurden, verselbständigten sich in der Folge und wurden selbst zu „Stigmata“.

Aber auch unter den Patienten auf psychiatrischen Stationen wird nicht nur Solidarität geübt. Die „Suchtis“ und die „Psychos“ sind traditionell schwer miteinander verträgliche Gruppen. Einige Patienten sprechen von den Süchten ihrer Eltern mit wenig Verständnis und etikettieren die Eltern schnell als Verursacher der eigenen Probleme und Krankheitsgeschichte. Damit werden die eigenen Abhängigkeiten in ein milderes Licht getaucht. Andere Patienten lehnen die Angebote sozialpsychiatrischer Zentren häufig mit dem Argument ab, dass sie „dort auf zu viele psychisch Kranke treffen“. Auch wenn das verständlich ist – labile Menschen stützen sich gegenseitig nicht automatisch – fördert auch das ein Klima der gegenseitigen Stigmatisierung.

Aber auch wir Mitarbeiter laufen Gefahr, die immer wieder geforderte Klarheit gegenüber psychischer Erkrankung zu unterlaufen, zum Beispiel, wenn wir kritische Wörter oder Diagnosen im Patientenkontakt vermeiden. Zu viel Vorsicht weckt erst recht den Verdacht, dass über etwas ganz Schlimmes gesprochen wird. So fällt das Wort „Schizophrenie“ zum Beispiel in der Klinik zunehmend seltener, „Psychose“ klingt weniger bedrohlich und wir gehen davon aus, dass das für Patienten weniger abwertend klingt. In der Fachliteratur und auf Fachtagungen dagegen wird der alte Terminus wie selbstverständlich weiter verwendet. Auch wenn es berechtigt ist, den inhaltlich in die Irre führenden Begriff Schizophrenie zu ersetzen, so sind manche Patienten über die Ambivalenz, mit der die Fachleute ihre Krankheit benennen, sehr irritiert.

Jemanden zum Intelligenztest zu schicken, ist uns oft peinlich. Sagen wir es nicht offen, wird aber auch der Dümmste merken, dass wir ihn nicht ernst nehmen. Und neigen wir Therapeuten nicht dazu, lieber von Selbsterfahrung als von Eigentherapie zu sprechen?

Mittlerweile gibt es überall Anti-Stigma-Projekte. Ernsthafte, aber nicht abschreckende Aufklärung in Schulen, Kliniken, Zeitungen etc. trägt dazu bei, Basiswissen über psychische Erkrankungen zu verbreiten, Fragen zu beantworten und Berührungsängste zu senken. Auch vonseiten der akademischen Psychiatrie wird die Anti-Stigma-Fahne geschwenkt. Nicht immer kann dabei der Verdacht zerstreut werden, dass es dabei auch um die eigene „Entstigmatisierung“ zum Beispiel als „Nur-Psychiater“ geht. Der Berufsstand des Psychiatriemitarbeiters, welcher Profession auch immer, ist nicht der angesehenste. Unverständnis, Bedauern oder höflichen Abstand in Partygesprächen über Arbeitsplätze kenne ich auch. Die moderne Außendarstellung psychiatrischer Krankenhäuser in Broschüren, auf Internetseiten oder Fachtagungen lässt deutlich erkennen: Auch wir wollen als seriös, modern und „mitten im Leben“ anerkannt werden. Das ist gut, wenn wir die Patienten auf diese Reise mitnehmen. Schlecht wäre es, wenn wir die ungemütlichen Seiten der Psychiatrie retouchieren wollen. Dann entfernen wir uns mit unseren schicken Flyern nur weiter von unserem eigentlichen Einsatzgebiet.


„Was, denken Sie, hat Ihnen in der Behandlung geholfen, wieder gesund zu werden?“
Antwort: „Drei geregelte Mahlzeiten am Tag.“

Dieser Kurzdialog zwischen mir und einem Patienten kurz vor seiner Entlassung nach langer stationärer Behandlung gibt mir zu denken. Was hat dieser Patient in den Wochen seiner Behandlung nicht alles von uns bekommen: Eine maßgeschneiderte medikamentöse Behandlung, psychologische Gespräche, kreative Ergotherapie, Sport und Bewegungstherapie, Gruppenangebote, eine Sozialarbeiterin, die sich um die finanziellen Belange kümmerte, liebevolle Zuwendung, Kontakte, Aktivitätsaufbau, Aufklärung über die Erkrankung und so weiter. Und was erlebt er als letztlich hilfreich in seiner Behandlung? Frühstück, Mittag- und Abendessen!

In dieser Antwort steckt sicherlich vieles, was die bei uns viel beschworene „Tagesstruktur“ ausmacht. Regelmäßige Mahlzeiten takten den Tag und helfen bei der zeitlichen Orientierung. Sie wecken Erinnerung an das, was man einmal als Maßstab sogenannter „Normalität“ als Kind erfahren hat. Häufig ist es die unverbindliche Gemeinsamkeit bei den Mahlzeiten, die ängstliche Menschen behutsam aus ihrer Einsamkeit herauslockt. Die Regelmäßigkeit, zu essen und zu trinken, geht in psychischen Krisen schnell verloren. Das kann chronisch werden und wird von manchen Patienten überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Ich habe es mir angewöhnt, Patienten und häufig auch ihren ebenfalls belasteten Angehörigen zunächst einmal regelmäßiges Essen und vor allem Trinken anzuraten, wenn die Frage nach den ersten Schritten aus einer Krise gestellt wird. Ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist für viele keine Selbstverständlichkeit mehr und in der Umsetzung anfangs richtig schwere Arbeit.

Angesichts der oben geschilderten Antwort liegt die Frage nahe, was in einer komplexen Behandlung wie unserer stationären eigentlich heilsam wirkt und wie man das feststellen kann. Natürlich sieht jeder Beteiligte am Ende einer Gesamtbehandlung vor allem seinen eigenen Beitrag als besonders bedeutsam an. „Endlich wirken die Medikamente“, sagt der eine; „Gut, dass wir drüber gesprochen haben“; „Intensives Konzentrationstraining macht sich bezahlt“, „Der Patient hat in der kreativen Arbeit zu sich gefunden“, die anderen. Sozialarbeiterische Interventionen, die offene finanzielle oder Wohnungsfragen klären können, ermöglichen häufig nicht mehr geglaubte Spontanremissionen. Und so mancher Patient oder so manche Patientin muss sich einfach nur verlieben. Oft haben wir den Eindruck, dass Patienten untereinander viel intensivere Gespräche führen als mit uns. Und manchmal, um ehrlich zu sein, wollen wir vielleicht gar nicht alles wissen, was sich hinter den Türen der Patientenzimmer abspielt. Häufig sind es wichtige Veränderungen zu Hause, mit denen die Klinik gar nichts zu tun hat, die sich auf das Befinden unserer Patienten massiv auswirken.
Die Psychotherapieforschung nennt solche Effekte indirekte oder außertherapeutische Wirkfaktoren und weiß, wie viel Einfluss sie auf therapeutische Verläufe ausüben. Wir sollten uns schlichtweg nicht einbilden, allzu viel Einfluss auf das zu haben, was im Laufe einer stationären Klinikbehandlung mit Patienten geschieht. Überhaupt ist angesichts der Komplexität therapeutischer Prozesse der Mythos der gezielten „Intervention“ kaum noch haltbar. Zu sehr greifen die feinen Dynamiken auf allen Ebenen auch zeitlich ineinander, als dass von einer linearen Abfolge von therapeutischen Instruktionen und entsprechenden Reaktionen der Patienten darauf ausgegangen werden darf.

So bahnt sich beispielsweise häufig bereits im Vorfeld einer sogenannten therapeutischen Intervention eine relevante Veränderung beim Patienten an („pre-session-changes“). Familientherapeuten haben immer schon beschrieben, dass es häufig bereits vor der allerersten Sitzung zu Verbesserungen im familiären Klima kommt. Man nimmt an, dass die Entscheidung zur Therapie, die ersten telefonischen Kontakte mit den Therapeuten oder ihren Sekretärinnen oder die Vorbereitungen innerhalb der Familie vor der ersten Sitzung bereits erste Veränderungen hinsichtlich Motivation, Bereitschaft zur Veränderung oder der Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern anstoßen konnten. Die moderne Hirnforschung könnte als Modell dienen, um zu zeigen, wie in komplexen Netzwerken, also zum Beispiel im Gehirn und in einer Therapie, Verhaltensmuster entstehen, nämlich nicht an einem Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt, und nicht durch ein zeitliches Nacheinander von A und B, sondern über ein Zusammenspiel von kleinen und größeren Netzwerken oder Teilen von Netzwerken über das ganze System hinweg. Das ist von einer einzigen „Kommandozentrale“ aus nicht zu beobachten und schon gar nicht zu kontrollieren.

Entscheidet sich ein Therapeut für eine Intervention, mag er Informationen der Patienten erspüren, die deren Aufnahmebereitschaft für die Absichten des Therapeuten signalisieren. Er mag die kritischen Fluktuationen wahrnehmen, die sich im Zusammenspiel vieler Einzelfaktoren einstellen, bevor das ganze System einer relevanten Veränderung zustrebt. Und dann springt er eben auf den schon fahrenden Zug auf. Manchmal treffen Therapeuten mutige Entscheidungen, ohne zu wissen, was genau daraufhin geschieht. Und sie machen häufig die Erfahrungen, dass „ähnliche“ Entscheidungen zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führen. Die Chaostheorie stellt dafür den Begriff des Schmetterlingseffekts zur Verfügung, der sensiblen Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen. Da die Ausgangssituation niemals genau dieselbe ist, ist das Ergebnis eines therapeutischen Inputs eben nie vorherzusehen.

Man sollte sich dieser Begrenztheiten bewusst sein, ohne sich in seinem Einfallsreichtum bremsen zu lassen. Wir pflegen unseren Patienten zu sagen, dass bei uns eben vieles zusammen wirkt, und man das nicht scharf voneinander abgrenzen kann. Das Beste ist, wenn es uns gelingt, die vielen Behandlungsbausteine wirklich ineinandergreifen zu lassen. Ist etwa Selbstbewusstsein ein Thema, kann das sowohl im Umgang mit Medikamenten (sich gründlich aufklären lassen und informiert bleiben, mit dem Arzt über Nebenwirkungen sprechen) geübt werden, als auch in der Ergotherapie (etwas Schönes fertigstellen können, etwas Neues lernen können, „zeigen, was man kann“), beim Sport (sich „freilaufen“ oder durchbeißen), in der Tanz- und Bewegungstherapie (sich „präsentieren“), in der Gruppentherapie, im Familiengespräch usw. Und auch hier bestätigt uns die Gehirnforschung: Je vielfältiger etwas im Gehirn vernetzt ist, also von vielen Seiten her gelernt oder geübt wird, umso stabiler wird sich das Verhalten etablieren.

Von daher ist jedes Konkurrenzdenken bei der Frage nach der ausschlaggebenden therapeutischen Wirkung fehl am Platz. Für alles, was wir anbieten, muss die Prüffrage lauten: Inwiefern kann es dem Patienten helfen, (s)einem Therapieziel näher zu kommen?


Anmerkung:

(1) Carl Wilhelm Pelman war von 1889 bis 1904 Direktor der Bonner Anstalt und erster ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Bonn. Dieses damals geflügelte Wort wählten Linda Orth u.a. als Titel einer Veröffentlichung mit dem Untertitel: Das Irrenwesen im Rheinland des 19. Jahrhunderts, Bonn: Verlag Grenzenlos e.V., 1996.





Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Paranus-Verlages



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