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Neuvorstellung zur Übersicht
27.01.2011
Helm Stierlin: Sinnsuche im Wandel. Herausforderungen für die Psychotherapie
Stierlin Sinnsuche im Wandel Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2010

148 S., broschiert

Preis: 19,95 €

ISBN-10: 389670754X
ISBN-13: 978-3896707543
Carl-Auer-Verlag





Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Auf Stierlins „persönliche Bilanz“ war ich gespannt seit der ersten Ankündigung des nun vorliegenden Buches. Für jemanden, der selber lange genug im Geschäft ist, Moden hat kommen und gehen sehen, und sich selbst oft genug mit der Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns als professioneller Helfer herumgeschlagen hat, entwickelt die Vorstellung einer auf Sinn bezogenen Bilanz eine ziemliche Anziehungskraft. Als ich in der Einleitung dann las, dass der seinerzeitige Einfluss von Karl Jaspers für Stierlin eine wesentliche Anregung für dieses Buch darstellte, war ich erst recht neugierig, hatte ich mir doch Jaspers vor einiger Zeit eher zufällig selbst als Anreger für das Nachdenken über unsere Profession erschlossen. Zu diesem Aspekt haben sich meine Erwartungen für mich jedoch eher nicht erfüllt, Jaspers kommt trotz seiner gelegentlich erwähnten zentralen Bedeutung eher am Rande vor, keinerlei Bezug zu Sinnstiftung im Kontext von Existenzerhellung. Doch stelle ich mir vor, dass Stierlin hier vielleicht implizit eher auf den politischen Denker Jaspers rekurriert, der sich seinerzeit mit Nachdruck und pointiert zu grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Fragen zu Wort gemeldet hat. Außerdem korrespondiert Stierlin in der Form: viele Fragen, die zu weiterem Fragen anregen, und die dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit wach bleibt, keine Illusion eines abgeschlossenen Ganzen entsteht. Mut also, und Tapferkeit angesichts eines offensichtlich nicht „zu Ende“ zu bringenden Vorhabens.
Stierlins zentrales Thema im vorliegenden Essay scheint mir die Frage zu sein, wie und auf welcher Basis PsychotherapeutInnen dabei behilflich sein können, in einer an materiellen und ideellen Wegweisern überbordenden Welt „Sinn“ zu finden. Nun wäre aus einer systemtheoretisch-puristischen Sicht sensu Luhmann leicht zu entgegnen: solange etwas aneinander anschließt, zeigt sich Sinn per se. Eine solche formale Sinnreflexion hat Vorteile (etwa den, nicht verstehen zu müssen, sondern „nur“ empirisch zu überprüfen), doch auch einen wichtigen Nachteil: das erlebt sich so nicht. Was „sich erlebt“, ist in der Lage, Thema von Geschichten zu werden, als Mitteilung, als inhaltliche „Äußerung“ – die natürlich in ihrer stattfindenden oder eben nicht stattfindenden Anschlusswirklichkeit auch system-theoretisch passt, aber erfreulich oder bedrohlich – also bewegend - wird es erst über das persönliche Erfahren im tatsächlichen Vollzug. Hier bietet Stierlin sowohl in seiner Auseinandersetzung mit zwei diametral entgegengesetzt erscheinenden Sinnwelt-Typen bedenkenswerte Einsichten, wie auch über seine Skizzen therapeutischen Tuns nützliche Anregungen.
Die beiden Sinnwelt-Typen, die Stierlin hier kontrastierend vergleicht, sind zum einen die hermetisch geschlossene Sinndiktatur in Nazideutschland, der erbarmungslose Durchmarsch hin zu einem menschenverachtenden Führersinn (sozusagen), zum anderen die auf den ersten Blick so andere, chaotisch anmutende Sinnkakophonie der heutigen „Multioptions- und Beschleunigungsgesellschaften“: (zu) Vieles scheint da möglich, (zu) wenig sicher, (zu) viele Wege, (zu) wenig Boden unter den Füßen. In beiden Sinntypen-Fällen ist Freiheit nur über verantwortliches Auswählen möglich, im ersten Fall gegen die „herrschende“ Meinung, im zweiten Fall inmitten eines Meinungsjahrmarkts, dessen Fülle und Vielfalt jedoch auch eine „beherrschende“ Meinung camoufliert: alles ist möglich, Hauptsache es verkauft sich. Die vermeintliche Vielfalt entpuppt sich nur allzu leicht als beliebige Eingangstür zum gleichen Tempel. Der Unterschied ist dennoch existenziell: Im Fall der Nazidiktatur kostete verantwortliches Denken womöglich Leib und Leben, im Multiverwirrungsfall vielleicht nur den Anschluss an den Mainstream oder den Verzicht auf ein Leben als Popstar. Stierlins Reflexionen und Geschichten aus selbst erlebtem Leben zu diesen Themen zeigen einen Menschen, dem es offenbar gelungen ist, sich in der Fülle der Möglichkeiten sowohl emotional bewegen zu lassen, als auch der reflektierenden Vernunft verbunden zu bleiben. In diesem Sinn: ein Vorbild.
Auch wenn Jaspers als wichtig genannt, Batesons Einfluss vertieft skizziert wird, scheint mir Stierlins Nachdenken am nachhaltigsten durch einen Hegel’schen Einfluss orientiert. Dies zeigt sich sowohl in den häufig vorkommenden Gegenpositionen, die aufeinander bezogen werden: emotionale Berührung/rationale Vernunft, Kontextvergessenheit/-bewusstheit, und insbesondere in der von ihm entwickelten Reflexion der bezogenen Individuation in ihren beiden Polen Individuation gegen/Individuation mit. Die darin implizierte Aufgabe der Versöhnung (für deren Bedingungen und Verlauf es in diesem Buch praktische Beispiele gibt), wird angerissen und kann insbesondere in Stierlins Buch „Gerechtigkeit in nahen Beziehungen“ vertieft nachgelesen werden. Praktisch „machen“ diese Überlegungen viel „Sinn“, deutlich wird jedoch auch, dass es notwendig bleibt, (sich) die entsprechenden Fragen immer wieder neu zu stellen. Fertig im Sinne von: das Ganze sei erschlossen und ließe sich als conclusio fest-halten, kann es nicht werden. Hier wird der (implizite) Bezug zu Jaspers sehr deutlich.
Gelegentlich verweist Stierlin auf den Kontext seines „Heidelberger Teams“, in dem das Konzept „befreiender Kreisprozesse“ entwickelt und zur Blüte gebracht wurde. In einer persönlichen Bilanz scheint es mir verzeihlich, wenn alternative systemische Konzepte im deutschsprachigen Raum nicht erwähnt werden, interessante Ergänzungen nur im globalen Rahmen vorzukommen scheinen. Ob es außerhalb Heidelbergs im deutschsprachigen Raum wirklich nur systemische Provinz gibt? Wie auch immer, zwischen den Zeilen scheint auch in der Heidelberger Sinnsuche Raum für (nicht erzählte) Individuationsgeschichten zu bestehen. Die Art der individuellen (Nicht-)Erwähnung der über die Jahre präsenten Mitglieder des Heidelberger Teams könnte das vermuten lassen.
Ich habe das Buch von Anfang bis Ende neugierig gelesen, bin dem Autor dankbar für das Aufgreifen dieses Themas, fühle mich angeregt und wünsche dem Buch viele LeserInnen, die sich dadurch ermutigen lassen, im Getümmel unserer Profession den Bezug zu Sinn aufrechtzuerhalten und nicht irre zu werden angesichts der Verlockungen von Ideen, die aus unserer Profession einen Strichcode machen würden.

(Mit freundlicher Genehmigung aus "Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung" 1/2011)





Verlagsinformation:

Helm Stierlin, der Pionier der systemischen Familientherapie, führt seine Leser mit diesem Buch auf eine philosophisch-biographische Reise. Es ist einerseits eine Rückschau auf seine mehr als fünfzigjährige Erfahrung als Psychiater und Psychotherapeut, von den ersten Vorlesungen bei Karl Jaspers bis zur Gründung des Helm-Stierlin-Instituts in Heidelberg. Gleichzeitig betrachtet Stierlin den tiefgreifenden Wandel, den Sinnsuche und Sinnfindung im 20. Jahrhundert in Deutschland durchlebten. Das Buch hinterfragt dabei auch den Beitrag der Psychotherapie zur persönlichen Sinnfindung: Was bedeutet Lebenssinn? Wie ist es möglich, in einer von Sinnangeboten überfluteten Moderne zum persönlichen Lebenssinn zu finden? Wann macht Psychotherapie Sinn?


Über den Autor:

Helm Stierlin, Prof. em., Dr. med. et phil., geb. 1926 in Mannheim, arbeitete zwischen 1955 und 1974 an verschiedenen psychiatrischen Kliniken und Forschungsinstituten, vor allem in den USA, wo er zum Psychoanalytiker ausgebildet wurde. Dazwischen nahm er Professuren und Gastdozenturen an verschiedenen amerikanischen Universitäten sowie in Neuseeland und Australien wahr. Von 1974 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 war er ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: psychotische und psychosomatische Störungen, der Ablösungsprozess der Adoleszenz, systemische Familientherapie, psychohistorische Studien. 1985 erhielt er den renommierten Distinguished Professional Contribution to Family Therapy Award der American Association for Marriage and Family Therapy. Helm Stierlin war Mitbegründer und bis 1995 Mitherausgeber der Zeitschrift „Familiendynamik“. Daneben veröffentlichte er über 280 wissenschaftliche Arbeiten und dreizehn Bücher, die in zwölf Sprachen übersetzt wurden, darunter „Nietzsche, Hölderlin und das Verrückte“, „Krebsrisiken – Überlebenschancen“ und „Gerechtigkeit in nahen Beziehungen“.



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