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Neuvorstellung zur Übersicht
07.09.2009
Thomas Gutknecht, Beatrix Himmelmann & Thomas Polednitschek (Hrsg.): Philosophische Praxis und Psychotherapie. Gegenseitige und gemeinsame Herausforderungen
Gutknecht et al: Philosophie und Psychotherapie Jahrbuch der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis Band 3

Lit Verlag, Berlin 2008

228 S., broschiert

Preis: 19,95 €

ISBN-10: 382580299X
ISBN-13: 978-3825802998
Lit-Verlag





Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Im Oktober 2006 veranstaltete die Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis in Berlin ihr 21. Kolloquium, gewidmet den „gegenseitigen und gemeinsamen Herausforderungen“ von Philosophischer Praxis und Psychotherapie. Der vorliegende Band versammelt die Hauptbeiträge, einige Kommentare, sowie einige Beiträge vom Frühjahrstreffen der IGPP im Mai 2007. In einem Rückblick des Mitherausgebers T. Polednitschek wird deutlich, dass auf dem Berliner Treffen „eine Verständigung zwischen den dort versammelten Psychotherapeuten und Psychoanalytikern auf der einen Seite und uns Philosophischen Praktikern auf der anderen Seite (...) schwer möglich“ war. Es sei auf dieser Tagung deutlich geworden, „dass die Psychotherapie und Psychoanalyse der Moderne sich grundsätzlich von der Philosophischen Praxis unterscheidet, die „jenseits“ von Tradition (Seelsorge) und Moderne (Psychotherapie) am Anfang des 21. Jahrhunderts keine alternative Psychotherapie, sondern eine Alternative zur Psychotherapie sein will“ (S.130).
Das klingt nach einem starken Stück, und ich muss gestehen: für mich ist es das auch! Die in diesem Buch versammelten Beiträge strahlen eine ungemein frische und ansteckende Kraft aus, dass ich mich dem Sog kaum entziehen konnte. Ich bekam beim Lesen zunehmend den Eindruck, dass hier, mit diesem Thema und in dieser Form eine Anregung Gestalt annimmt, wie der drohenden Erstarrung Systemischer Therapie, ihrer Versenkung im real existierenden Anpassungsdruck entgegengewirkt werden kann. Und dies nicht wegen der Attraktion eines Neulands, sondern wegen einer Vielzahl von aufscheinenden Querverbindungen und Überschneidungen zwischen den Grundlagen Systemischer und Philosophischer Praxis. „Philosophisch Praktizieren heißt, der latenten Versuchung widerstehen, Menschen zu kategorisieren“, heißt es z.B. im Editorial von T. Gutknecht (S.7) und der norwegische Philosoph Anders Lindseth unterstreicht: „Wollen wir aber dieses Wirken Philosophischer Praxis verstehen, brauchen wir einen anderen Begriff von Wirkung als im üblichen Kausalverstehen, wo Wirkung immer als Folge von Einwirkung verstanden wird“ (S.19). Die Texte des vorliegenden Bandes machen deutlich, dass die Abgrenzung der Philosophischen PraktikerInnen gegenüber Psychotherapie fast ausschließlich auf Prämissen und Methodologie solcher Therapieverfahren zielt, die sich kategorisierend und expertenhaft den Außenblick auf Hilfesuchende sichern. Systemisches Denken, seine Prämissen und Vorgehensweisen ließen sich m.E. wesentlich einfacher in Bezug zu Annahmen Philosophischer Praxis bringen; mir scheint, sie seien wesensverwandt.
Um was geht es bei Philosophischer Praxis? In seinem Beitrag über „Unvermeidliche Berührungspunkte – notwendige Abgrenzungen“ verweist T. Stölzel darauf, dass sie „eine alte Tradition der Philosophie wieder auf[greift], die sich seit ihren griechischen Anfängen nie ganz verloren hat (...). Gemeint ist: die Frage nach einer persönlichen Lebenskunst, nach den Grundlagen eines guten, selbstverantwortlichen Lebens, nach den philosophischen Möglichkeiten, um den Herausforderungen des Existierens zu begegnen“ (S. 66). Das Thema eines „guten, selbstverantwortlichen Lebens“ ist nun ein Bestimmungsstück, mit dem sich sowohl die Verwandtschaft psychotherapeutischer und philosophischer Praxis zeigen lässt, wie auch ihre unterschiedlichen Horizonte. Daraus eine generelle Ferne voneinander abzuleiten, wäre jedoch m.E. ein Fehler und ich stimme T. Gutknecht zu, wenn er in seinem Editorial zuspitzend fragt, ob „die Psychotherapie der Moderne nicht tatsächlich am Ende [ist], wenn sie nicht den Mut zur "schöpferischen Grenzverhandlung" mit der Philosophischen Praxis beweist“ (S.7).
A. Lindseth fragt in seinem Beitrag zum „Wirken Philosophischer Praxis“: „Werden Menschen in prekärer Lage auch als Menschen voll anerkannt, oder werden sie doch irgendwie auf ihre Probleme reduziert?“ (S.10). Auch diese Frage eignet sich zum Markieren einer Schnittstelle: Das Streben Systemischer Therapie nach Anerkennung brachte sie dazu, sich zu „diagnostizierbaren Störungen“ zu bekennen und somit der „Ganzheitlichkeit“, dem ursprünglichen Kerngedanken, eine Ausschnitts-Asymmetrisierung entgegenzusetzen. Ganz im Sinne von Lindseth formuliert T. Polednitschek in seinem Beitrag „Das Denken und die Psychotherapie“ aus, was an die Stelle der fragmentierenden Betrachtung treten solle und aus philosophischer Sicht auch kann. Er grenzt ab gegenüber Psychoanalyse, Gestalttherapie und Kognitiver Verhaltenstherapie und Neuropsychotherapie. Er unterstreicht philosophische Praxis demgegenüber als einen „Ort des dialogischen Denkens“ (S.36) und findet hier auch eine Gemeinsamkeit: „Was Philosophische Beratung und die Psychotherapie heute (…) tun können, ist die Widerstandskraft oder Resilienz der von ihnen begleiteten und beratenen Menschen zu stärken und zu kräftigen, damit sie den Nihilismus unserer Nachmoderne nicht nur als Schicksal, sondern als die Chance wahrnehmen können, die eine Gesellschaft bietet, die ohne substanzielle Mitte auskommen muss“ (S.30). Und er fährt mit der Frage fort: „Welche Chance aber ist das?“
Eine m.E. sehr anregende, doch auch anspruchsvolle Antwort gibt Petra von Morstein in ihrem Beitrag „Denken wendet Lebensnot. Lebensfragen und philosophische Methoden oder die tiefe Verbundenheit von Psychologie und Philosophie“. Sie beschreibt das Verhalten einer Philosophischen PraktikerIn so: Er/Sie „regt Sie an, dialogbereiter Zeuge Ihrer Verunsicherung zu werden und veranlasst Sie, Ihre überwältigenden Gefühle so zutreffend wie möglich zu beschreiben und damit möglicherweise noch zu intensivieren. Er zeigt dabei größten Respekt und Anerkennung für Ihre Desorientierung, als könnte es Ihnen gar nicht anders ergehen“ (S.43). Er wende dabei keine Methode an, die vorgefertigte Bausteine umsetzt, sondern biete eine Methode an, die ein Nachdenken erlaube, im Sinne von: „eine extreme Lebenssituation zu Ende denken: das bedeutet, die Bereitschaft und Fähigkeit erlangen zu wollen, mit ihr wahrhaftig und sinnvoll zu leben und mit dem Erlebten frei zu werden“ (S.45).
Beratung als Kunst. Konsequenzen aus Jaspers‘ Psychotherapiekritik“ heißt der Beitrag von Anette Fintz. Jaspers hatte an der Psychotherapie, so wie sie sich zu seiner Zeit präsentierte, zum einen kritisiert, dass sie nicht ausreichend zwischen Erklären und Verstehen unterscheide, wodurch „ein unheilvoller Mix von Glaube und Wissen“ entstanden sei, „der als Wissenschaft verkauft wird“ (S. 54). Desweiteren hatte er deren „fixierende Anthropologien und Weltanschauungen“ kritisiert, „die den Menschen nicht in dessen Existenzialität sehen, sondern z.B. als psychischen Mechanismus, als Schicksalsträger in einer metaphysischen Kette oder verstrickt in familiäre oder gesellschaftliche Systeme. Damit werde der Mensch auf sein Dasein reduziert und darin fixiert“ (S.55). Aus der Perspektive der Jaspers’schen Kritik entstehe als Aufgabe für TherapeutInnen, „dass sie den Ratsuchenden bei der Suche nach „seiner“ Freiheit und „seiner“ Balance [unterstützen], um „seine“ Lebenskunst entwickeln zu können, bei der eine Balance zwischen Selbstsorge und Sorge für die Gemeinschaft besteht“ (S.56). „Beratung als Kunst“ bedeute in diesem Sinne, „durch die eigene Person hindurch so zu wirken, dass dem Ratsuchenden sein Leben als Möglichkeit aufscheint, und er entscheiden kann, welche der Möglichkeiten er umsetzen und verantworten will“ (S.59).
Einen erhellenden „Versuch einer Begriffsbestimmung“ unternimmt D. Brandt in seinem Beitrag „Was ist Psychotherapie?“ Er stützt sich weitgehend auf Grawe, erweist sich belesen und firm in einem weiten Spektrum anwendungsbezogener und forschungswissenschaftlicher Themen. Im Lauf seiner Auseinandersetzung gelangt er schließlich zu der Frage worauf sich der Heilungsanspruch von Therapie beziehe, und kommt mit Hilfe der Unterscheidung von Krankheit und Leiden zu einem valide klingenden Ergebnis. Der Unterschied zwischen somatischer und psychischer Therapie sei: „erstere ist Krankheits-, letztere Leidensbehandlung“ (S.110). Er definiert psychische Krankheit als „Leiden am Leiden“ und konstatiert, dass es sowohl gesunde als auch kranke „ Modi des Leidens“ gebe. Seelische Gesundheit „bestünde dann nicht in Leidensfreiheit, sondern Leidensfähigkeit, wohingegen der psychisch Kranke gerade nicht mehr in der Lage ist zu leiden bzw. sein leid zu (er)tragen“ (S.111). Brandt fasst seine Ausführungen zusammen: „Der wesentliche Sinn von Psychotherapie besteht in der Heilung krankhaften Leidens und in einer Stärkung der Leidens- und Daseinsfähigkeit von ‚an sich selber leidenden’ Subjekten“ (S.124).
Die weiteren Beiträge des vorliegenden Buches sind ein Rückblick von T. Polednitschek auf das Kolloquium, sowie ein „Offener Brief an unsere Gäste und an uns selbst“ von Heidemarie Bennent-Vahle. Weitere Beiträge aus dem Frühjahrstreffen des folgenden Jahres beinhalten u.a. Aufsätze von T. Polednitschek zur Frage „Was heißt Denken in Philosophischer Praxis?“ und eine äußerst lesenswerte Abhandlung von B. Groth zur Ableitung und Unterscheidung der Begriffe „Lebenskunst – Lebenskönnerschaft – Lebensklugheit“.
Ich habe in letzter Zeit selten ein Fachbuch gelesen, bei dem ich so unmittelbar und so eindeutig ein Gespür für die Substanz unserer Profession erlebte. Ich vermute, dass ein großer Teil meines Beifalls für dieses Buch neben seiner intellektuellen Nahrhaftigkeit auch damit zu tun hat, dass es auf so klare, überzeugende und selbst-verständliche Weise Begriffe wie Solidarität, Freiheit, Verantwortung und Sinn mit unserer Profession nicht nur in Verbindung bringt, sondern als zur Basis gehörig beschreibt, als Kernbegriffe. Wenn es nicht so vermessen wäre: ich denke, die Lektüre dieses Buches sollte verpflichtend sein für die Ausbildung in Systemischer Therapie und Beratung. Weniger vermessen: ich habe von der Lektüre dieses Buches sehr profitiert und möchte es nicht mehr missen.

Literatur:

Deissler, K.G. (2005) Ethik, Ethiken - völlig losgelöst? Bruchstücke ethischer Fragen in kollaborativen Beratungs- und Therapiekontexten. Z.f. Systemische Therapie und Beratung 23(1): 19-26; Volltext im web: http://www.deissler.org/pdf/ethiken.pdf
Deissler, K.G. & S. McNamee (Hg.) (2000) Phil und Sophie auf der Couch. Die soziale Poesie therapeutischer Gespräche. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme
Fintz, A.S. (2006) Die Kunst der Beratung. Jaspers‘ Philosophie in Sinn-orientierter Beratung. Bielefeld, Locarno: Edition Sirius
Loth, W. (2009) Zwischen Existenz und Instrument: Machen Therapie und Beratung Sinn? In: Systeme 23 (1): 100- 108





Verlagsinformation:

Mit ihren Jahrbüchern und einer Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis dokumentiert die IGPP als führende Organisation praktizierender Philosophinnen und Philosophen ihre Arbeit an der Theorie Philosophischer Praxis, gibt der Mitteilung von Erfahrungen bei der praktischen Arbeit aus philosophischen Ressourcen Raum und informiert über Entwicklungen im Bereich der Philosophischen Praxis. Hauptanliegen sind die Klärung des Begriffs Philosophischer Praxis, die kritische Theorie der Philosophischen Praxis, der Austausch von Philosophischer Praxis mit Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft . Bezugspunkt der hier versammelten Texte bildet die gegenseitige Herausforderung von Philosophischer Praxis und Psychotherapie. Der Band enthält Vorträge des 21. Berliner Kolloquiums, das beider Sorge um das "gefährdete Antlitz des Anderen" gewidmet war - in einer herausfordernden Wendung war dabei zunächst die Rede vom "gefährdeten Anderen". Die Eigenart philosophischer Haltung und reflektierter Lebensklugheit wird in immer neuen Variationen und Genres ausgespielt. So verdeutlichen die Beiträge einmal mehr den Zugang zum Menschlichen, der die Qualität des philosophischen Denkens mit leidempfindlicher Vernünftigkeit verbindet.



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