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Neuvorstellung zur Übersicht
10.06.2006
Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik
Wensierski Schläge im Namen des Herrn DVA - Ein SPIEGEL-Buch

240 Seiten mit 42 s/w-Abbildungen, fester Einband

Preis: 19,90 €/35,20 sFr
ISBN: 3-421-05892-X
DVA





Tom Levold, Köln:

Eine unvoreingenomme Rezension ist dies nicht. Meine mangelnde Unvoreingenommenheit gilt dabei aber nicht dem Autor, sondern dem Gegenstand des vorliegenden Buches. Es rechnet mit den mehr oder weniger systematischen Quälereien in über 3000 kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen ab, denen in den 50er und 60er Jahren nach Schätzungen des Autors etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren.
Ich bin froh, dass sich meine Erfahrungen mit diesem System als fast Neunjähriger nur auf sechs Wochen beschränkten, die nicht einmal eine Erziehungsmaßnahme darstellten, sondern als Erholungskur deklariert waren. Sie gehörten dennoch zu den schlimmsten Wochen meines Lebens. Wir wurden von den Nonnen nicht geprügelt, aber mehr oder weniger zwangsernährt (schließlich bestand der Erfolg der Maßnahme in der Gewichtszunahme), systematisch gekniffen, geschubst, gedemütigt, beschimpft und eingeschüchtert, nachts brutal geweckt, wenn wir auf der falschen Seite schliefen (um schlechte Träume zu vermeiden!), strengen Strafen für Kleinigkeiten unterworfen (stundenlanges Stillsitzen, für 50 Kinder Schuhe putzen usw.). Das Schlimmste aber war, dass meine heimwehgetränkten Briefe an die Eltern zerrissen und neu diktiert wurden, und die Eltern meine Erfahrungen lange Zeit nicht glauben wollten: „Du hast doch immer so schön geschrieben!“
Derart voreingenommen glaube ich also ohne Zögern alles, was in diesem Buch steht, und begreife nun, dass ich tatsächlich nur in einer Erholungskur war und die wirklichen Erziehungsmaßnahmen gottlob an mir vorbei gegangen sind. Peter Wensierski, Spiegel-Reporter, Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist, der mit dem Film „Mauerläufer“ und seinem Buch über verheimlichte Kinder katholischer Priester „Gottes heimliche Kinder“ bekannt geworden ist, breitet in einem quälenden Panorama Leidensgeschichte nach Leidensgeschichte aus, die sich alle ähnlich sind, deren Erzählung jedoch jeweils etwas neues und einmaliges hervorbringt: die Erinnerungen der ehemaligen Heimzöglinge erhalten – in vielen Fällen wohl zum allerersten Mal – eine individuelle Stimme und können sich öffentlich artikulieren.
Es geht hier nicht um Statistiken, sondern um prototypische Kindheits- und Jugenderfahrungen, um zahllose Einzelfälle, an denen man einiges über den allgemeinen Zustand der „Kinder- und Jugendfürsorge“ der damaligen Zeit ablesen kann. In der öffentlichen Wahrnehmung kam das bislang in dieser Drastik nicht vor, wohl auch, weil die von ihr Betroffenen aus Angst und Scham schwiegen. Vielleicht spielte auch die Befürchtung mit, dass ihnen nicht geglaubt werden könnte. Denn wer sich heute in einem Kinder- oder Jugendheim umschaut, wird nicht für möglich halten, was vor vierzig Jahren noch unhinterfragter Standard in der Heim-„Erziehung“ war.
Das Buch ist keine nüchterne wissenschaftliche Bestandsaufnahme  (es gibt zwar ein Literaturverzeichnis, doch weder Literaturhinweise im Text noch irgendwelche Fußnoten), sondern eine Mischung aus Reportage, Dokumentation und Nacherzählung: eine Anklageschrift, die zunächst einmal empören soll - was ihr mühelos gelingt. Sie legt die Struktur einer bestimmten Praxis im Umgang mit „von Verwahrlosung bedrohten“ Kindern und Jugendlichen offen, die - wie zu erkennen ist - fest in das System der Fürsorgeerziehung eingebaut war. Dass bedeutet nicht, dass jeder beteiligte Erwachsene sich im Rahmen dieses Systems schuldig gemacht hat - es bedeutet aber eben auch nicht, dass sich die Misshandlungen von Schutzbefohlenen auf das Konto einzelner individueller Täter buchen ließe, die es einfach nur zu weit getrieben hätten. Zweifellos bot das Heimsystem nicht bloß aus Versehen vielen sadistischen Nonnen und Erziehern Platz, ihre Bestrafungsgelüste auszuleben, es gab praktisch keinerlei Vorschriften oder Kontrollen, die der systematischen Zurichtung der Kinder und Jugendlichen je Einhalt geboten hätten.
Zu groß ist deshalb auch heute noch das Kartell des Schweigens, auf das der Autor bei seinen Recherchen gestoßen ist. Er hat einige Heime besucht und nach den Verantwortlichen gefragt, diese teilweise auch aufgrund von Hinweisen zuhause aufgespürt. Das Ergebnis: vorgetäuschte Ahnungslosigkeit, Verkleinerung, „so schlimm kann es doch nicht gewesen sein“ usw. Statt der Bereitschaft zu einer offenen Auseinandersetzung begegnet er gezielten Vertuschungsversuchen, der Zugang zu Akten und Archiven wird erschwert oder gar verweigert - auch in den Broschüren vieler Einrichtungen, die beispielsweise zu Jubiläumsveranstaltungen erstellt werden, ist deren Geschichte kein Thema, ggf. werden diese Zeiten einfach in der Selbstdarstellung ausgespart.
Das ändert sich allmählich - auch durch die Resonanz, die dieses Buch in der Öffentlichkeit erfahren hat. Mittlerweile sind im Internet Seiten zu finden, auf denen Heimträger nach ihren ehemaligen „Zöglingen“ suchen - und Verantwortungsübernahme anzubieten. Aber eben nicht aufgrund eigener Initiative - man bekommt schnell den Eindruck, dass in vielen Fällen nur auf Druck der Öffentlichkeit gehandelt wird.
Was wird denn nun „verdrängt“? Der Kampfbegriff der von Verwahrlosung bedrohten  Jugend, der zu vielen Heimeinweisungen führte, bezog sich ja nicht auf die Schaffung eines entwicklungsfördernden Kontextes, wie wir das heute kennen, sondern ortete die Gefahr zu allererst in den Jugendlichen selbst, in ihren Ansprüchen auf eine eigene Entwicklung und individuellen Ausdruck (der sich einer eigenen Ästhetik von Mode, Musik und Verhalten bediente). Wer Elvis Presley zu laut hörte, zu enge Hosen anhatte und beim Rauchen erwischt wurde - und zudem aus einer „unvollständigen“ Familie stammte, hatte gute Aussichten, bei entsprechender Denunziation als „verwahrlost“ abgestempelt zu werden oder sich dem entsprechenden Verdacht auszusetzen.
War die Zuschreibung einmal vollzogen (und es ist schon gruselig nachzuvollziehen, wie aktiv und bereitwillig die zuständigen Behörden an diesem Zuschreibungsprozess mitgewirkt haben), gab es kaum noch ein Entkommen.
Die Gesellschaft der 50er Jahre fühlte sich in ihrer „Sittlichkeit“ durch die Jugendkultur bedroht: die Autonomieansprüche, der Widerspruchsgeist, die Vitalität und Triebhaftigkeit mussten enstsprechend rabiat unterdrückt werden - ganz in Übereinstimmung mit einem Menschenbild, dass in vielen Aspekten eine mehr oder weniger bruchlose Kontinuität mit der Nazi-Zeit aufwies.
Die Methoden waren dementsprechend. Stellvertretend für viele Beispiele aus dem Buch seien hier die Strafen aus dem schwäbischen Konradi-Haus zitiert:
  • „zur Strafe mit nackten Beinen auf scharfkantigen Holzscheiten knien und beten;
  • in einen Kartoffelsack stecken, zubinden und in den dunklen Keller stellen;
  • in einer Reihe anstellen, um über eine hoch gehaltene Rute mit eingeflochtenen Dornen zu springen;
  • in eine Badewanne mit kaltem Wasser setzen und gewaltsam untertauchen;
  • eiskalt duschen und nass, frierend und nackt still stehen müssen – bisweilen über eine Stunde lang;
  • Kniebeugen mit ausgestreckten Händen, auf denen Bibeln liegen. Schläge mit dem Riemen auf die Hände, sobald eine Heilige Schrift dabei herunterfällt;
  • vor dem Teller mit erbrochenem Essen sitzen bleiben müssen und durch wiederholte Schläge auf den Kopf gezwungen werden, das Erbrochene vollständig aufzuessen;
  • beim Erbrechen in die Kloschüssel den Kopf des Jugendlichen herunterdrücken und abziehen;
  • die Hände auf den Rücken fesseln und die Jugendlichen im Keller mit einer Halsschlaufe an einen Wandhaken hängen, so dass die Schlaufe beim Zusammensacken nach stundenlangem Stehen würgt;
  • Mädchen mit Kindern das Stillen verbieten.“ (S. 69)
Das weckt heute Assoziationen mit Guantanamo oder Abu Graibh: wie dort ging es hier um Folter, Demütigung und systematische Brechung der Persönlichkeit. Weitere Zitate erspare ich mir an dieser Stelle. Besonders skandalös erscheint mir darüber hinaus, dass viele Heime es verstanden, die gewaltsame Zurichtung ihrer Zögliche nicht nur moralisch zu rechtfertigen, sondern durch Zwangsarbeit (Waschen, Bügeln, Torfstechen usw.) auch noch in klingende Münze zu verwandeln, indem sie als Wirtschaftsbetrieb den Profit aus diesen Tätigkeiten einstrichen und für sich behielten.
Der Absicht des Buches, mit dieser Veröffentlichung einen längst überfälligen Diskurs in Gang zu bringen, dürfte, wenn man sich wenige Monate nach seinem Erscheinen in der Medienöffentlichkeit umschaut, bereits jetzt ein großer Erfolg beschieden sein. Und in der Tat ist es mehr als erstaunlich, wie diese Geschichte über so lange Zeit, wie der Untertitel besagt, „verdrängt“ werden konnte, zumal es bereits in der Zeit der Studentenbewegung eine handfeste Skandalisierung der Zustände in den Erziehungsheimen gegeben hatte.
Die sogenannte „Staffelbergkampagne“ wurde von Frankfurter Mitgliedern der außerparlamentarischen Opposition im Juni 1969 initiiert. Mit dabei waren auch die „Kaufhausbrandstifter“ und späteren RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Astrid Proll sowie Andreas Baader. Publizistisch wurde die Kampagne durch Ulrike Meinhof begleitet, die einen ebenfalls skandalträchtigen TV-Film („Bambule“) über die Heime drehte, der für volle 24 Jahre im Giftschränkchen der ARD verschwand und erst in den 90er Jahren gezeigt wurde, und dann das gleichnamige Buch für die legendäre rororo-aktuell-Reihe verfasste. Das vorletzte Kapitel des Buches ist der genauen Rekonstruktion dieser Ereignisse gewidmet, bis zum Zusammenbruch der Kampagne Ende 1969, als sich die selbsternannte revolutionäre Avantgarde von den enttäuschten Jugendlichen wieder absetzte, um sich größeren revolutionären Herausforderungen zu widmen.
Sicherlich trug die Heimkampagne als eine Art Initialzündung mit dazu bei, dass sich - verbunden mit einer grundlegenden Reformierung der pädagogischen Ausbildung und einer allgemeinen Veränderung der Sicht auf das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern - die Lebensbedingungen in den Heimen in den 70er Jahren nachhaltig zu ändern begannen. Dennoch führte dies nicht zu einer wirklichen Aufarbeitung der Vergangenheit. Es fehlten dafür die Protagonisten.
Die Motive der Kampagnenbetreiber bestanden eher darin, auf der Suche nach dem „revolutionären Subjekt“ für die anstehende gesellschaftliche Umwälzung die „subproletarischen“ Heimzöglinge politisch zu instrumentalisieren, eine Strategie, die letztlich nicht aufging, auch wenn einige der Jugendlichen aus den attackierten Heimen sich später der RAF anschlossen und in den Untergrund gingen (z.B. Peter-Jürgen Boock).
Die Kirchen und anderen Träger der öffentlichen Heimerziehung hatten ebenfalls kein besonderes Interesse an einer Aufarbeitung. Eine neue Generation von Pädagogen übernahm das Steuer, eine sozialisationswissenschaftliche Orientierung löste die Ausrichtung an Recht und Ordnung, Gottesfurcht und Menschenverachtung ab.
Und die Betroffenen selbst: schwiegen - bis heute. Peter Wensierski kommt das Verdienst zu, ihnen eine Stimme gegeben zu haben und ein bislang im Dunkeln gebliebenes Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit zu erleuchten. Dies erscheint mir angesichts  der gegenwärtigen Tendenzen, die überaus dumpfe Zeit der 50er und 60er Jahre im „Retro-Look“ zeitgeschichtlich und ästhetisch zu verschönern, dringend geboten.
 Eine wissenschaftliche Ausarbeitung steht allerdings noch aus. Es bleibt zu hoffen, dass sich die betroffenen Einrichtungen ihrer Verantwortung zur Aufklärung der eigenen Vergangenheit nicht mehr verschließen, sondern aktiv daran mitwirken.





Auszüge aus dem Buch finden sich in einem Beitrag des Autors für die "Zeit" vom 9.2.2006

Eine Rezension von Deutschlandradio Kultur vom 14.3.2006

Das Manuskript eines ZDF-Features von Daniela Schmidt und Eva Schmitz-Gümbel für "Frontal21" (PDF)

Die Website des Autors zum Buch - mit aktuellen Nachrichten, Informationen und vielen weiteren Links

Ein Bericht aus dem Sonntagsblatt Bayern, wonach die "Innere Mission" nach ehemaligen Heimkindern aus den 50er- bis 70er-Jahren sucht

Ein Porträt eines ehemaligen Heimkindes von Martin Reichert in der TAZ vom 11.3.2006

Die Website des Vereins ehemaliger Heimkinder e.V.






Verlagsinfo:

"Ihr Schicksal ist kaum bekannt: Bis in die siebziger Jahre hinein wurden mehr als eine halbe Million Kinder sowohl in kirchlichen wie staatlichen Heimen Westdeutschlands oft seelisch und körperlich schwer mißhandelt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele leiden noch heute unter dem Erlebten, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aber aus Scham – selbst gegenüber Angehörigen.
Manchmal genügte den Ämtern der denunziatorische Hinweis der Nachbarn auf angeblich unsittlichen Lebenswandel, um junge Menschen für Jahre in Heimen verschwinden zu lassen. In diesen Institutionen regierten Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, mit aller Härte. Die »Heimkampagne«, ausgelöst von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, und die Proteste der 68er brachten einen Wandel. Die Erlebnisberichte in diesem Buch enthüllen das vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde."




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