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Neuvorstellung zur Übersicht
29.01.2006
Sven Lewandowski: Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse
Lewandowski Sexualität transcript Verlag Bielefeld 2004
337 S., Broschiert

ISBN: 3899422104
Preis: 26,80 €
transcript Verlag, Bielefeld





Ulrich Clement, Heidelberg:

Ein interessantes Buch, ein engagiertes Buch, und ein anstrengendes Buch. Sven Lewandowski unternimmt den anspruchsvollen Versuch, zwei Wissenschaftsgebiete zu verbinden, die sich theoretisch wie praktisch bislang ignoriert haben, die Systemtheorie und die Sexualwissenschaft. Es geht ihm um „die Beantwortung der Frage, ob und wie sich Sexualität im Rahmen der Neueren Systemtheorie als ein autonomes  Subsystem der modernen Gesellschaft beschreiben lässt“.
Lewandowski stellt zunächst relevante theoretische  Koordinaten der Systemtheorie vor, wobei es ihm besonders auf die funktionelle Differenzierung und Polykontexturalität sozialer Systeme ankommt. Bei den sexualwissenschaftlichen Ansätzen beschränkt er sich auf  die wichtigen soziologischen Ansätze dieses interdisziplinären Gebiets: Anthony Giddens, Zygmunt Bauman, William Simon, Gunter Schmidt, Volkmar Sigusch und Henning Bech.
Mit sympathisierender, fast verzeihender Kritik analysiert er, wie wenig, ja gar nicht, sich die systemtheoretische Ansätze mit Sexualität befassen. „Die Passionen der Systemtheorie – oder besser: der Systemtheoretiker scheinen sich mehr an der romantischen Liebe als an der Sexualität zu entzünden“ (94).  Dabei bezieht er sich vor allem auf Niklas Luhmanns „Liebe als Passion“ und auf Peter Fuchs’ „Liebe, Sex und solche Sachen“, die ihre Analyse um die Leitunterscheidung geliebt/ungeliebt herum aufbauen, oder um den Code „Wir zwei/Rest der Welt“- wie Fuchs das viel schöner beschreibt.
Lewandowski bewirbt sich mit seinem Buch nicht unbedingt um den Preis für griffige Darstellung und Thesen-Transparenz. Das Buch liest sich nicht leicht. Oft genug führt er voraussetzungsreiche Begriffe ein, die gar nicht oder erst später erklärt werden. Am gravierendsten fällt das bei seinem Schlüsselbegriff des Sexualitätssystems auf, das von der Seite 22 an immer wieder auftaucht, dann aber erst tief in der zweiten Hälfte auf S. 197 erklärt wird. Und auch da eher ausgiebig sich begrifflich abarbeitend als zügig auf den Punkt gebracht.  Ein kurzes Summary-Kapitel hätte dem Buch gut getan. So muss man sich die Leitthese des Buches leider über das ganze Buch verstreut zusammenlesen.
Seine Leitthese geht in etwa so: Die Postmoderne hat zu einem Bedeutungsverlust der Sexualität und der Geschlechtlichkeit geführt, hat sie entkoppelt von der Moral und von der Liebe. Damit ist die Sexualität als funktionell autonomes, autopoietisches System ausdifferenziert und folgt einem eigenen  Code.
Am meisten inspiriert hat den Autor eine Quelle, die wegen Ihrer Originalität eine Bemerkung wert ist. Lewandowski zitiert den Text des (mir nicht bekannten) Autors Rodrigo Jokisch, der offenbar nur als passager verfügbare Internet-Datei existierte („letztmaliger Zugriff am 11.8.01“ heißt es zu der Datei aus einer Website der TU Berlin). So bleibt der Inspirateur flüchtig und unbekannt. Schade, weil er zwar fragliche, aber immerhin profilierte Positionen einnimmt. Lewandowski nutzt den Text vor allem als Folie, gegen die er sich differenzierend absetzt und seine eigene These entwickelt. Jokisch spricht von einem „Sexualsystem“, das mit zwei Leitunterscheidungen arbeitet, der Unterscheidung Lust/Unlust und der Unterscheidung Mann/Frau. Mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust  der Geschlechtsdifferenz durch die Gleichberechtigung und Demokratisierung schrumpfe die Mann/Frau-Unterscheidung auf den sexuellen Kontext zusammen.
Aus der Abgrenzung zu dieser These entwickelt Lewandowski seine Position. Eben nicht, meint er, sei das Geschlecht der zentrale Code des Sexualitätssystems, weil er nicht durch sexualitätssystemische Operationen produziert werde (123). Als plausiblen Beleg führt er an, dass dann ja homosexuelles Verhalten gar nicht sinnvoll beschreibbar sei. Vielmehr sei die Mann/Frau-Differenz ein Umweltfaktor des Sexualitätssystems.
Wichtiger noch scheint mir die Auseinandersetzung mit dem andern Code, den Jokisch vorschlägt: die Lust/Unlust-Unterscheidung. Lewandowski zitiert ihn so: „Erst aus der Verknüpfung der Distinktion Lust/Unlust mit der Distinktion Mann/Frau werde eine ‚Verselbständigung’ von Sexualität möglich. Das Sexualsystem gewinne seine Autonomie und Schließung über die Lusterwartung. … Die Funktion von Lust liege in der Produktion von Lusterwartungen in Rahmen einer „Sonderkommunikation“ ‚Sexualität’ … das Motto  sei ‚Mehr Lust durch mehr Lust durch mehr Lust’. „Lustvolle Erfahrung sei nicht aus der Umwelt zu beziehen, sondern nur aus dem System selbst. Dagegen sei  das Sexualsystem auf seiner Außenseite durch Unlusterwartung bestimmt, und so könne eine Lusthandlung aufgeschoben werden, weil außen eine Unlusterwartung lauere. Hier hakt Lewandowski zu recht ein und lässt Jokischs Argument einstürzen: Wenn Unlust die fremdreferentielle, also Außenseite des Systems ist, eignet sich Lust/Unlust nicht als Codierung eines funktionell autonomen Systems, die da immer „innen“ erzeugt wird.
Warum dieser argumentative Aufwand mit einem Autor, dem er doch nicht zustimmt?
Um an ihm dreierlei zu zeigen: 1. Geschlecht, also die Mann/Frau Differenz, sei für das Sexualitätssystem Umwelt, nicht aber konstitutiv, 2. die Unterscheidung Lust/Unlust entspreche der Selbstreferenz bzw. Fremdreferenz des Sexualitätssystems, und 3. der binäre Code, also die Leitunterscheidung werde durch die Differenz Begehren/Befriedigung bestimmt.
Nachdem die These jetzt herausgearbeitet ist, kommt der Autor im 5., zentralen Kapitel zu seinen Ausführungen. „Der binäre Code des Sexualitätsystems wird durch die Differenz von sexuellem Begehren und sexueller Befriedigung gebildet. Die Referenz auf diese Leitunterscheidung generiert sexuelle Lust, findet der Code keine Verwendung, so geht es nicht um sexuelle Lust. Der binäre Code des Sexualitätssystems ist somit Begehren/Befriedigung.“ (201)
Mit viel Aufwand, dessen Ergebnis  mich nicht zu überzeugen vermochte, wendet sich Lewandowski dagegen, die Codierung Lust/Unlust als binären Code gelten zu lassen. Die Unterscheidung braucht er nämlich, um die System-Umwelt-Grenze zu definieren. Und so legt er sich fest, Lust gehöre zum System, sei also die Selbstreferenz, Unlust zur Umwelt, und sei damit die Fremdreferenz.
Mir leuchtet diese Unterscheidung aus zwei Gründen nicht ein: Für die Definition der Fremdreferenz, also der Umwelt des Sexualitätssystems, legt er sich auf die „Unlust“ fest, die aktive Negation von Lust. Kommunikationspraktiker wie zum Beispiel Therapeuten, wissen nur zu gut, dass die Kommunikation von Unlust  und deren interaktionelle Dynamik in Paarbeziehungen sehr wohl sexuelle Kommunikation sein, weil durch die aktive Verneinung („nicht schon wieder Sex“, „es widerstrebt mir“ usw.) ständig Sex kommuniziert wird. Richtig wäre meines Erachtens die passive Negation der Lust, nämlich „nicht Lust“ oder „hat nichts mit Lust zu tun“, als Markierung der Fremdreferenz, also der Umwelt des Sexualitätssystem.
In Hinsicht auf die binäre Codierung Begehren/Befriedigung habe ich ebenfalls Bedenken. Zunächst ist es etwas enttäuschend, dass angesichts des sonstigen argumentativen Aufwands dieser Code einfach so (201) deklariert wird. Zum zweiten nimmt er eine These auf, die in der Sexualforschung seit über drei Jahrzehnten kritisch diskutiert wird und auf die er überhaupt nicht rekurriert. „Der Orgasmus stellt den zentralen Bezugspunkt moderner Sexualität dar und auf dieser Basis finden die Ausdifferenzierung und die operative Schließung des Sexualitätssystems statt. Wir können sagen, dass das soziale Konstrukt des Orgasmus die selbstreferentielle  Seite des Sexualitätssystems markiert.“ (202) Damit lässt er das Orgasmusparadigma wiederaufleben, das nicht nur im sexualwissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im sozialen Bewusstsein sehr in den Hintergrund getreten ist gegenüber der sehr viel zentraleren Frage sexueller Selbstbestimmung.
Sehr plausibel und genau durchdekliniert lesen sich die Ausführungen zur Selbstreferentialität und Differenzierung der Sexualität und zur strukturelle Kopplung mit anderen Funktionssystemen (v.a. Wirtschaft). Hier werden die sexualsoziologischen Analysen auf systemisch übersetzt, die mit anderen Begrifflichkeiten die Autonomisierung und den Bedeutungsverlust bzw. –wandel der Sexualität beschreiben.
Interessant ist die strukturelle Kopplung mit dem Intimsystem. Hier führt er einen Gedanken fort, der in  seiner Auseinandersetzung mit Luhmann und Fuchs im ersten Teil des Buches liegen geblieben ist. Sexualität kommuniziert demnach nicht im Code des Intimsystems, ist aber gleichwohl strukturell mit diesem gekoppelt.  Das heißt nicht viel anderes, als dass Intimität Sex einschließen kann, aber nicht muss – und umgekehrt. Als intellektueller Alltagsnutzer ohne akademisches Verständnis könnte man einwenden, dass sich das auch einfacher sagen lässt. Aber schade wäre es schon, wenn man etwas Sinn für die Schönheit von Sprache hat, etwa wenn sich der Sex Liebender auf systemisch so  ausdrücken lässt: „Sexuelle Interaktionen eignen sich nämlich…, die Komplettberücksichtigung durch den andern bzw. die  Höchstrelevanzannahme einer Art Prüfung auf körperlicher Basis zu unterziehen.“ (287) oder: „Zudem stellt liebesbasierte Intimität einen wichtigen Motivationsfaktor bereit, sich an sexualitätssystemischen Operationen zu beteiligen.“ (288)
Lewandowskis Buch dürfte, wie Ursula Pasero in einer Rezension der „Zeitschrift für Sexualforschung“  zurecht meint, eher für die systemtheoretisch interessierte als die sexualwissenschaftlich interessierte Leserschaft von Bedeutung sein. Das liegt daran, dass die sexualsoziologischen Ansätze primär als Material verwendet werden, die dann der systemischen Begrifflichkeit subsumiert werden. Das ist völlig legitim, es macht aber die ganze Geschichte wenig griffig.  Für Sexualwissenschaftler, denen das systemische Denken fern ist, hätte es den Reiz des Buch erheblich erhöht, wenn Lewandowski nach der Hinübersetzung für Systemiker eine Rückübersetzung für Sexualwissenschaftler geleistet hätte und mehr in die sexualwissenschaftlichen Inhalte gegangen wäre.
Gerade weil die Sexualwissenschaft Inspiration von außen vertragen kann, wünsche  ich der Weiterentwicklung dieses Ansatzes einen illustrativeren und gegenstandsnäheren Anschluss an die Sexualwissenschaft. Eine Grundlage jedenfalls hat Lewandowski gelegt.





Ein Artikel des erwähnten Rodrigo Jokisch (TU Berlin): Wie ist Geschlecht möglich? Anmerkungen zu einer Soziologie der Leiblichkeit

Eine weitere Rezension von Nils Werber für das IASL München

Die Einleitung des Buches auf der Verlags-website (PDF)





Verlagsinfo:

"Die Sexualwissenschaft leidet nicht an einem Mangel an empirischem Material, wohl aber an einer unzureichenden gesellschaftstheoretischen Fundierung. Der neueren soziologischen Systemtheorie mangelt es hingegen nicht an theoretischen Konzepten, wohl aber an Studien zum Thema Sexualität. Mit Hilfe des systemtheoretischen Analyseinstrumentariums und unter Bezugnahme auf den aktuellen sexualwissenschaftlichen Diskurs zeigt Sven Lewandowski, daß sich "Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung" als autopoietisch operierendes System ausdifferenziert hat. Die vorliegende Analyse des modernen Sexualitätssystems macht einerseits systemtheoretisches Denken für die Sexualwissenschaft fruchtbar und erschließt andererseits der Systemtheorie ein neues Themengebiet von großer gesellschaftlicher Bedeutung."


Autor:

Sven Lewandowski (Dr. phil.) ist Soziologe und zurzeit Lehrbeauftragter an der Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie, Individualisierungstheorie und Sexualsoziologie.


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung (7)

2 Systemtheoretische Perspektiven (11)
2.1 Der systemtheoretische Kommunikationsbegriff und die Genese sozialer Systeme (12)
2.2 Binäre Codierung und Binnendifferenzierung (16)
2.3 Autopoiesis (18)
2.4 Umweltverhältnisse (19)
2.5 Funktionale Differenzierung und Polykontexturalität (20)
2.6 Strukturelle Kopplungen (26)

3 Gesellschaftstheorie und Sexualität - Konkurrierende Ansätze (29)
3.1 Der Wandel der Sexualität - nicht-system-theoretische Ansätze (30)
3.1.1 Der Wandel der Intimität (Anthony Giddens) (31)
3.1.2 Die Postmodernisierung des Sexuellen (William Simon) (48)
3.1.3 Postmoderne Erlebnissexualität (Zygmunt Bauman) (57)
3.1.4 Die Kritik der neosexuellen Revolution (Volkmar Sigusch) (65)
3.1.5 Das Verschwinden der Sexualmoral (Gunter Schmidt) (78)
3.1.6 Die Stadt und der Sex (Hennig Bech) (90)
3.2 Liebe als Passion und Sexualität als Leerstelle? - Systemtheoretische Ansätze (94)
3.2.1 Niklas Luhmanns Anmerkungen zur Sexualität (96)
3.2.2 Das Intimsystem (Peter Fuchs) (99)
3.2.3 Sexuelle Intimsysteme (Heinrich W. Ahlemeyer) (108)
3.2.4 Sexualität und Selbstreferenz (Gunter Runkel) (115)
3.2.5 Ein geschlechtliches "Sexualsystem"? (Rodrigo Jokisch) (122)

4 Die Körper der Gesellschaft (143)
4.1 Körper als polykontexturale Konstruktionen (145)
4.2 Körperkommunikation (155)
4.3 Das Besondere körperbasierter Kommunikationen (163)
4.4 Die Attraktivität des Körpers in modernen Gesellschaften (166)
4.5 Körperprozessierende Systeme (171)
4.5.1 Das Medizinsystem (172)
4.5.2 Vestimentäre Kommunikation (179)
4.5.3 Das Sportsystem (186)
4.6 Exkurs: Beobachtbare Körper - Sport und Pornographie (190)

5 Das Sexualitätssystem (197)
5.1 Binäre Codierung und Orgasmusorientierung (198)
5.2 Selbstreferentialität, Selbstbefriedigung und die Autonomisierung der Sexualität (212)
5.3 Dislozierung (222)
5.4 Funktion(en) (228)
5.5 Ausdifferenzierung (237)
5.5.1 Organisationsdefizite (238)
5.5.2 Systemdifferenzierung und Binnendifferenzierung (243)
5.6 Strukturelle Kopplungen (249)
5.6.1 Prostitution - Sexualitätssystem und Wirtschaftssystem (249)
5.6.2 Pornographie - Sexualität und Massenmedien (270)
5.6.3 Sexualitätssystem und Intimsytem (282)
5.6.4 Zwischenbetrachtung (288)
5.6.5 Sexuelle Identität(en) (291)
5.6.6 Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (308)
5.6.7 Sexualwissenschaft (313)
5.6.8 Fazit (320)
5.7 Jenseits von Moral? - Sexualmoral revisited (322)

6 Wissenschaftliche Fortschritte, Fazit und Ausblick (325)

Literatur (331)



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