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Klassiker zur Übersicht
Simon, Fritz B.
(Hrsg.): Lebende Systeme
Simon Lebende Systeme Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main
3. Auflage September 2002

200 S., Kt

ISBN: 3-518-28890-3

Preis: 10,00 €

stw 1290
Suhrkamp Verlag





Rezension der Erstausgabe im Springer-Verlag (1988) von Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Im Frühjahr 1986 veranstaltete die Internationale Gesellschaft für systemische Therapie ein Symposium zum Thema "Lebende Systeme". Damit sollte ein Forum geschaffen werden, auf dem therapeutische Praktiker sich mit einigen der "prominentesten Vertreter der gegenwärtigen systemtheoretischen Forschung" auseinandersetzen konnten. Das gegenwärtige Verhältnis von Theorie und Praxis systemischen Arbeitens ist nun wohl gekennzeichnet durch einen immensen innovativen Schub einerseits, und ein nicht unerhebliches Maß an Konfusion über Wege, Kriterien und Sinn der notwendigen Komplexitätsreduktion andererseits. Die nun in Buchform vorliegenden Beiträge des genannten Symposiums markieren dies in beeindruckender Weise. Heinz von FOERSTER (Ingenieur, Physiker), Francisco VARELA (Neurobiologe) und Niklas LUHMANN (Soziologe) stellen grundlegende Aspekte ihrer Forschung vor. Helm STIERLIN (strukturierend), Gunthard WEBER und Bernd SCHMID (anwendend) demonstrieren an einem Fallbeispiel den Stand systemisch-therapeutischer Praxis.
Als reizvoll erweist sich die Idee, die eingeladenen Meister der Theorie zu einer Falldemonstration (WEBER und SCHMID) Stellung nehmen zu lassen. Möglicherweise erleichtert systemische Praktiker die Vorstellung, daß die Theoriecracks in der konkreten Situation mit Klienten auch nur mit Wasser kochen würden. Darüber hinaus vermitteln ihre Stellungnahmen jedoch eine Fülle von Beschreibungsmöglichkeiten (sowohl zur internen Strukturierung von Therapeuten als auch zur Belebung der Suche nach angemessenen Beschreibungen von Therapeuten füreinander im Sinne der von Luhmann erwähnten Anschlußmöglichkeiten).
Ein Kreuzverhör, bei dem die Theoretiker zirkulär befragt ihr Verständnis der Positionen der beiden anderen deutlich machen, sowie Fragen an und Antworten von LUHMANN, VARELA und von FOERSTER (jeweils allein mit dem Auditorium) geben weitere Einblicke, z.T. ergeben sich (natürlich und erleichternderweise) Redundanzen.
Die theoretischen Positionen:
LUHMANN stellt in zwei Beiträgen seine Gedanken über Kommunikation und selbstreferentielle Systeme vor. Seine strikte Beachtung "theoriebautechnische(r) Verwendbarkeit" und sein voluminöses Wissen lassen die Überlegungen des Autors sowohl beinahe zwingend stringent erscheinen, stellen jedoch eine ziemliche Herausforderung dar, sowohl an die eigene Verstehenskapazität als auch an übliche Denkgewohnheiten. Der Vorstellung, es seien "doch immer Menschen, Individuen und Subjekte, die handeln", stellt er entgegen "daß nur die Kommunikation kommunizieren kann" (S.10). Luhmann unterscheidet drei "zirkulär geschlossene Systeme, die jeweils nur den Modus der autopoietischen Reproduktion verwenden können“ (S.16). Soziale Systeme operieren im Modus der Kommunikation, psychische Systeme operieren im Modus der Bewusstheit, und lebende Systeme im Modus biologischer Prozesse. Jedes dieser Systeme ist für die jeweils anderen Umwelt und erzeugt "füreinander jeweils nur Rauschen" (S.48). Mit Hilfe des Begriffs der Interpenetration erklärt Luhmann die Beziehung zwischen diesen Systemen. Er geht davon aus, daß es jeweils einen Kapazitätsüberschuss des jeweiligen Systems über die Operationen der anderen Systeme gebe (z.B. synthetisiere Kommunikation Information, Mitteilung und Verstehen derart, daß es für das Einzelbewußtsein nie möglich sei, dies vollständig nachzuvollziehen). Von daher gebe es nie "problemlose Kongruenz". Indem Systeme interpenetrieren, stellen sie sich nun ihre Komplexität gegenseitig zur Verfügung. Die daraus resultierende Notwendigkeit von Selektion ermöglicht Differenzerfahrungen im Sinne von Kontingenz  (es könnte jeweils auch anders sein) und Unsicherheit, was Luhmann gleichsetzt mit der "unerlässliche(n) Betriebsbedingung von außen" (S.51). Aus diesen Überlegungen verstehen sich Luhmanns Gedanken zur therapeutischen Intervention: Er formuliert als therapeutisches Prinzip das Wiederherstellen von Kontingenz. Z.B. sei "eine Motivunterstellung (...) eigentlich nur eine Herstellung von Ablehnungsbereitschaft, Ablehnungsfähigkeit , (...) eine Herstellung von doppelter Kontingenz" (S.85), die wiederum eine Möglichkeit zu einer neuen Reduktion von Komplexität schaffe. Als Weg schlägt er vor, "Unsicherheit und Desintegration in ein hoch integriertes System" einzuführen (S.135). Die Effekte dieser Intervention erkennt er als nicht präzis prognostizierbar an, woraus folgt: "Die Kunst der Intervention könnte darin bestehen, Gelegenheiten, wenn sie sich bieten, zu nutzen; und vielleicht auch darin, die Chance, daß sich Gelegenheiten bieten, planmäßig zu verdichten" (S.53).
Als interessant erweist sich seine Einschätzung, daß die Attributionstheorie für therapeutische Praktiker nützlicher sein könnte als Systemtheorie. Die weitere Entwicklung der Rezeption und Verarbeitung der Luhmann'schen Gedanken für die systemtherapeutische Praxis verspricht einiges. Zunächst bleibt festzuhalten, daß ein wesentliches Verdienst des Luhmann-Ansatzes zu sein scheint, einen Impuls dafür gesetzt zu haben, wie das Autopoiese-Konzept auf andere als biologische Systeme angewendet werden kann.
Von FOERSTER stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die Unterscheidung von trivialen und nicht-trivialen Maschinen. Erstere sind in ihren Eigenschaften voraussagbar, zweitere nicht. Die Theorie der rekursiven Funktionen liefert ihm einen weiteren Aspekt, für den er den Begriff "Eigen-Wert" wählt. Seine Überlegungen lassen von Foerster "Schwierigkeiten,    die eine Familie um Hilfe bitten läßt", verstehen "als eine unglückliche Entwicklung eines sehr stabilen Verhaltens der Familienmitglieder zueinander" (S.31). Seine "Diagnose einer Familie in Not ist - so komplex ihr Vorliegen klingen mag - eine Verkrüppelung des Zugangs zu ihrer potentiellen Komplexität" (S.33). Von daher schlägt er als therapeutisches Vorgehen – ähnlich wie Luhmann -  "nicht Reduktion, sondern Expansion der Komplexität" vor. Als Beispiel greift er zirkuläres Fragen auf. "Das Faszinierende am zirkulären Fragen ist für mich diese Notwendigkeit, etwas zu erfinden. (...) Man darf aber nicht glauben, das habe etwas mit der Präzisierung der Relationen zu tun (das wäre Reduktion; Anm.) (...) Es hat lediglich damit zu tun, daß diese Frau (im Beispiel; Anm.) durch diesen Trick in eine Stimmung versetzt wird, eine schöne Relation zu erfinden" (S.82). Ganz in diesem Sinne formuliert er als ethischen Imperativ: "Handle stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst" (S.33).
VARELA entwickelte zusammen mit Maturana das Konzept der Autopoiese. In seinen Beiträgen stützt er sich auf seine neurophysiologische Forschungsarbeit. Wahrnehmung beschreibt er mit Hilfe des Begriffs der Koppelung: neuronale Verknüpfungen, die konstant bleiben, ermöglichen eine Geschichte von Koppelungen. Dabei sieht Varela seinen Ansatz als Mittelweg zwischen der Annahme interner Repräsentation von Objekten und der Annahme willkürlicher Projektion: "Die Welt...entsteht aus dieser Geschichte von Koppelungen, die eine bestimmte Kohärenz hervorbringt; und es gibt viele mögliche Formen der Kohärenz, die brauchbar sind" (S.41). Diese möglichen Formen der Kohärenz seien von Beobachtern nicht mehr klassifizierbar. Klassifizieren geht nur von außen, und als Beobachter ist man drinnen, sobald es um menschliche Systeme gehe.
Von daher kommt es für Varela darauf an, das "Verständnis der Basisdimensionen von Koppelung, die all diese kollektiven Realitäten entstehen lassen", zu erhöhen (S.100). Familien erhalten daher eine besondere Bedeutung, weil die fundamentalen Koppelungen in der Familie mit biologischen Notwendigkeiten (Reproduktion, Sexualität, Wohnen, usw.) zu tun haben, so daß Varela vorschlägt, "Familie als Gruppenkörper zu betrachten" (S.114).

Innerhalb dieses hochkomplexen Kontextes systemtheoretischer Forschung erweisen sich STIERLINs 12 Seiten "Prinzipien der Systemischen Therapie "für mich schließlich als überraschender als die "Neuigkeiten" aus den anderen Forschungsbereichen, und dies nicht etwa, weil er grundsätzlich Neues dabei vermittele. Stierlin gibt hauptsächlich einen Überblick über "Fragen, die sich der Therapeut zu stellen hat" (z.B.: Wer gehört zum Problemsystem? Wie können erstarrte Konstruktionen "verflüssigt" werden?), so wie über eine Reihe von Aspekten zirkulären Fragens. Das mehr oder weniger deutlich werdende Ringen um die sprachliche Vermittlung der theoretischen Erkenntnisse der Hauptreferenten wird in Stierlins Beitrag beinahe Trance-induzierend einfach und verständlich ersetzt durch eine Sprache, die man glaubt auf Anhieb zu verstehen (Das Gefühl, wie es ist, wenn man nach Stunden auf einer Schotterpiste plötzlich auf eine normale Straße kommt). Nicht nur von der Plazierung her erinnert mich daher Stierlins Beitrag an die Zentraleinheit in der Lankton'schen "Struktur der eingebetteten Metaphern". Offensichtlich bedarf es einer solch komplexitätsüberlegenen Umwelt (der Bereich der System-Forschung), um ein klareres Verständnis davon zu bekommen, was bei der Gestaltung systemischer Therapie vor sich geht, und wie man das verständlich mitteilen kann.
In seinem reflektierenden Nachwort vermittelt SIMON (wohl etwas untertreibend) die Position eines Praktikers, der die Fülle der Anregungen aus diesem Symposium etwas ambivalent verdaut: Einerseits brauche man, "um therapeutisch wirksam zu werden, (...) keine konsistente Theorie" (S.139), andererseits werde systemische Therapie nur dann "eine konsistente Theorie wie auch pragmatische Behandlungsrezepte (! , Anm.) ... entwickeln können, wenn sie sich als klinische Epistemologie versteht, in der es gilt, die Entwicklung, Veränderung und Aufrechterhaltung der Erkenntnisstrukturen von Patienten und ihren Familienmitgliedern wie auch von Therapeuten in der Interaktion (...) zu studieren" (S.142). Dabei definieren sich Verantwortung und Grenzen des Therapeuten aus dem "Dilemma, zu gestalten ohne die Gestalt bestimmen zu können".
Ein sehr anregendes Buch, allerdings wohl nichts für Phasen, in denen man sich konsolidieren und in Ruhe Erworbenes anwenden und überprüfen will.





Niklas Luhmann, Heinz von Foerster und Francisco Varela sind mittlerweile (2005) verstorben.

Das systemagazin hat im Sommer 2005 ein umfangreiches Luhmann-Special mit Beiträgen und Rezensionen veröffentlicht.

Über Heinz von Foerster gibt es mittlerweile auf der website der Wiener Universität ein schönes Online-Archiv. Hier gibt es auch eine schöne, umfangreiche , von Monika Broecker und Alexander Riegler herausgegebene Festschrift  zum 90. Geburtstag.

Auch Franciso Varela ist mit einer Website vertreten, auf der zahlreiche Arbeiten von ihm (in der Regel in englischer Sprache) gelesen werden können.

Und hier die Website des Herausgebers Fritz B. Simon





Herausgeber:

Fritz B. Simon, Dr. med. habil., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut. Verleger (Carl-Auer-Verlag). Geschäftsführender Gesellschafter des Management Zentrum Witten GmbH und der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 200 wissenschaftlichen Fachartikeln und 18 Büchern, die in 10 Sprachen übersetzt sind.





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