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Rudolf Welter: Innehalten – Kapitel 1, Teil 2

Rudolf Welter
Zähes, klebriges Vorankommen

Es gibt sie, die schreckliche Situation: Während von hinten ein mit Dolch fuchtelnder Mensch, ein Zähne fletschender Hund oder ein schleuderndes Fahrzeug sich bedrohlich nähert, versucht der Verfolgte, dem Angriff zu entkommen. Er möchte fliehen, aber sein Körper macht nicht mit. Die Beine tragen zwar, aber die Füße bleiben wie auf einer Leimschicht fast kleben, sodass ein nur langsames, zähes, kein fliehendes Vorankommen möglich ist. Und Schweißtropfen nässen die Stirn. Und knapp vor dem Angefahren -, Über - oder Angefallen -  werden, erwacht der Träumende unruhig und ist dankbar, dass nicht passiert ist, was im Traum hätte passieren können.
Interessant ist, dass das Umfeld, die Szenerie ausgeblendet wird, gar nicht in Erscheinung tritt in solchen Träumen. Weder spürt der fliehende Träumer Gegen- oder Rückenwind, noch erkennt er, wo genau er sich befindet. Das Traum verarbeitende Hirn scheint die Umfeldbedingungen in solchen Träumen auszublenden, nur die lineare Angriffs- und Fluchtachse sieht der Träumende vor sich und erinnert sich im Wachsein an diese.
Ob Gehbehinderte dieses zähe, klebrige Vorwärtskommen auch träumen? Oder vielleicht nicht, weil diese Menschen in ihrem Alltag diese Art Vorwärtskommen laufend wach erfahren? Träumen sie vielleicht gerade umgekehrt, dass sie Verfolger abhängen, sich mit hoher Geschwindigkeit von ihnen distanzieren können? Dass es die Verfolger sind, die an Ort treten oder nur stockend ihrem Opfer folgen, oder gar nicht folgen können? Es wäre ihnen zu gönnen!

Im Flussbett gegen die Strömung waten. An den Füssen leichte Schuhe tragen, weil der Boden aus spitzen Steinen und scharfen Felskanten besteht. Bei der Verengung des Flussbettes nimmt die Wassertiefe zu. Das Wasser geht von einer nahezu farblosen Durchsichtigkeit über in einen wenig Licht durchlassenden, flaschengrünen Stoff. Der Widerstand beim Gehen wird stärker, der Oberkörper leicht noch vorne geneigt. Die Arme helfen dem Wanderer paddelnd weiter. Trocken zu Bleibendes muss über Wasser gehalten werden. Die Wassertiefe nimmt noch mehr zu. Das Wasser kräuselt jetzt dem Flusswanderer um den Mund. Der Unterleib scheint kürzer geworden, verzerrt, die Füße plötzlich näher beim Betrachter. In der Enge der Felsschlucht verstärkt sich das Echo der Stimmen der Flusswanderer und wird nur nach oben und flussauf- und abwärts entlassen. Wer jetzt nicht untertauchen will, muss sich dem Ufer nähern. Von dort aus betrachtet, bewegen sich die Flusswanderer im Slowmotiontempo. Flussaufwärts türmen sich beim Weitergehen Talsperren aus Felsplatten und Felsbrocken. Dazwischen staut das Wasser zu kleinen Seen. Wer jetzt zurück will zum Ausgangspunkt der Flusswanderung kann flussabwärts gehen oder einen Weg im Trockenen über der Schlucht nehmen.

Gegenwind. Gegen den Wind gehen. Sich schief gestreckt nach vorne neigen. Sich den Schnauf verschlagen lassen, oder sich umkehren und gebeugt rückwärts gehen, die Angriffsfläche verkleinernd. Verlangsamt werden. Aufgehalten werden. Vom Weg abgedrängt werden. Spur zu halten suchen.

Lasten schleppen.
Auf Eis gehen.
An Krücken gehen.
Im Tiefschnee waten.
Langsam Gehende nicht auf die Uhr schauend begleiten.




Stillstehende Uhren

Die Zeiger treibende Feder in der Armbanduhr ist erlahmt. Die Zeiger stehen still und die Zeit läuft stetig weiter.

Wenn Züge verspätet sind, verlangsamt eine Mutteruhr der SBB die Uhren auf Perrons und die Zeit läuft stetig weiter.

Starke Winde stoppen die Zeiger an der Kirchturmuhr und die Zeit läuft stetig weiter.

Am Ende einer Hundertmetersprinterbahn stoppt der Zeiger einer Stoppuhr bei zehnkommaelf Sekunden und die Zeit läuft stetig weiter.

Die Gewicht tragenden Seile in einer Wanduhr sind gerissen, die Gewichte fallen donnernd in den Abgrund des Gehäuses, die Zeiger stehen still und die Zeit läuft stetig weiter.

Die mit dem geschwungenen Gehäuse auf dem Buffet stehende Standuhr wird nicht mehr aufgezogen, die Zeiger stehen seit langer Zeit still und die Zeit lief und läuft seitdem stetig weiter.




Erstarrter Körper

Halter steht neben dem Bett, auf dem der erstarrte und erkaltete Körper der Toten liegt. Die Schwestern haben sie in eine türkisgrüne Bluse und einen dunkelblauen Jupe gekleidet. Kleider, die die Verstorbene besonders gemocht hatte. In den gefalteten Händen liegt der Ast einer Orchidee, die vor dem Tod in einem Topf am Fußende des Sterbebettes stand. Neben dem Kopf sitzt eine der vielen Puppen, die die Verstorbene während Lebzeiten mit bunt Gestricktem eingekleidet hatte. Die Schwestern haben sie dorthin gesetzt.
Einige Tage zuvor lag der Körper noch lebend im Bett. Ein gleichförmiges, flaches Atmen und ein gelegentliches Öffnen eines Auges waren Zeichen eines zur völligen Ruhe gekommenen Körpers, der kein Essen und keine Flüssigkeiten mehr zu sich aufnehmen konnte und der keine Ausscheidungen mehr verrichten musste.
Wochen zuvor saß die Verstorbene im Stuhl am Tisch, las Zeitung, strickte, telefonierte oder ass. In ihrem Zimmer empfing sie Besuche. Diese nahmen sie gelegentlich auf einen kürzeren Ausflug in die Umgebung mit oder auf einen Rundgang ums Heim. Das Schreiben schien ihr aber immer mehr Mühe bereitet zu haben. Die Eintragungen in einem Taschenkalender, den sie als Tagebuch nutzte, wurden immer spärlicher und die Schrift kraftloser.
Und Monate zuvor lebte die Verstorbene selbständig in ihrem Haus. Ihr Mann starb noch jung an den Folgen eines Verkehrunfalls. Sie ging ins Dorf einkaufen, kochte sich die Mahlzeiten und besorgte sich den Haushalt. Mit Freundinnen unternahm sie Wanderungen und größere Reisen.
Und Jahre zuvor lebte sie mit ihrem Mann im selben Haus, nach dem sie sich im Heim noch lange zurück sehnte. Ihrem Mann half sie tatkräftig bei Büroarbeiten und versorgte die Handwerksgesellen mit kräftigem Essen. Als Großeltern unternahmen sie viel mit den Großkindern. Intensive Kontakte mit einer großen Verwandtschaft wurden gepflegt. Miteinander ging es auf Reisen in die nähere und weitere Welt hinaus. Ein reger Austausch von Briefen während des zweiten Weltkrieges, ihr Mann war während des Aktivdienstes oft weg von der Familie, bezeugt eine große, gegenseitige Anteilnahme an ihren Leben in einer schwierigen Zeit. Zu dieser Zeit kümmerte sich die Verstorbene auch um einen polnischen Internierten, der in der Familie lebte. Mit ihren Kindern besuchte sie gelegentlich ein nahe am Wohnort gelegenes Hochmoor. Einmal begruben sie dort eine Amsel, die im Garten der Familie tot aufgefunden worden war. Mit dem Fahrrad fuhr sie in die Wälder, um Pilze zu suchen. Dabei wurde sie manchmal von Gewittern überrascht und bedroht.  
Und weitere Jahrzehnte zurück verbrachte die Verstorbene ihre Jugendzeit im Haus der Eltern, abgelegen oberhalb eines Dorfes neben einem Burghügel. Wenn sie dort nicht das Burgfräulein spielte – die Burg musste sie sich vorstellen, denn von ihr wahr schon damals nicht mehr viel vorhanden -  half sie im Haushalt und ihrem Vater im Stall und im Feld. Ein zwar  kleines Anwesen wurde bewirtschaftet, aber die Mithilfe von allen Beteiligten machte sie nahezu zu Selbstversorgern. Nebenbei arbeitete die jugendliche Tochter als Stickerin in einer mechanischen Stickerei unten im Dorf. Aus ihrem weiter entfernten Geburtsort war sie im Alter von drei Jahren hierher gezogen. In jenem Dorf war die Verstorbene als zappeliger Säugling zur Welt gekommen.
Nach dem Tod im Krankenheim wurde der erstarrte und erkaltete Körper in die Abdankungskappelle des Friedhofs überführt. Angehörige und Freunde nahmen dort ein letztes Mal Abschied von ihr. Asche, Erinnerungen an die Verstorbene sowie ältere und neuere Photographien blieben aus ihrem langen Leben zurück. Die Aufschrift auf dem Urnengrab lautet: HWO, 23. Mai 1907 bis 6. Mai 2004.



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