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systemagazin special: "Das erste Mal"
Rudolf Klein u. Barbara Schmidt-Keller: Wären wir mit mehr Information überhaupt zurechtgekommen?

Unser „erstes Mal“ fand zu einer Zeit statt, als man noch glaubte, die öffentliche Hand habe genügend Geld. Wohlfahrtsverbände schauten optimistisch in die Zukunft, die Renten schienen sicher und Bücher trugen Titel wie „Wendezeit“.
Es war die Zeit, als die systemische Therapie noch Familientherapie hieß und im Setting der Co-Therapie angeboten werden konnte.
Ähnlich wie wir an gefüllte Kassen, optimistische Zukunftsvisionen und sichere Renten glaubten, glaubten wir an die wundersame Wirkung der Familientherapie. Wir „wussten“, dass Probleme im Kontext der Familie verstanden und verändert werden konnten. „Wussten“, dass dies am besten durch Anwesenheit aller Familienmitglieder zu bewerkstelligen war, was dazu führte, dass wir bei Fehlen eines Familienmitgliedes die Sitzung gar nicht erst begonnen haben.
Zur Veränderungen von Symptomen mussten wir „nur“ die symptomerzeugenden und -erhaltenden Regeln des familiären Systems erkennen, diese unter Zuhilfenahme ausgefeilter Fragetechniken, z.B. dem zirkulären Fragen, aufmischen und sie abschließend mit einer passgenauen Intervention – paradox, versteht sich – eliminieren.
An all diese wundersamen Wirkungen glaubten nicht nur wir, sondern auch viele Überweiser. Wir sahen über Jahre hinweg viele vollständige Familien, die uns zur Behandlung geschickt wurden. Mit manchen gab es tatsächlich schnelle und nachhaltige Veränderungen, an anderen bissen wir uns die Zähne aus. Über die erste dieser Familien, ihren Veränderungsprozess und dessen Nachhaltigkeit wollen wir hier erzählen :
Die Familie Meier bestand aus den Eltern und 5 Kindern im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Die Anmeldung erfolgte durch die Mutter, die auf Empfehlung eines Kollegen telefonisch den Kontakt aufnahm. Wir luden die ganze Familie zum ersten Gespräch ein.
Alle sieben kamen.
Der 13-jährige Sohn Frank, zweiter in der Geschwisterreihe, war der „identifizierte Patient“, sein Problem bestand im nächtlichen Bettnässen. Sein älterer Bruder Klaus, der Augapfel der Mutter, präsentierte sich als der Hoffnungsträger der Familie. Maria (11), Gerd (9) und Eva (8) komplettierten die Geschwisterreihe. Der Platz im Therapieraum war knapp und die Familie saß uns – nach Alter und Größe aufgereiht – voll gespannter Erwartung gegenüber.
Wir hatten vor dem Gespräch schon angeregte Hypothesenbildungsprozesse im Hinblick auf das Zustandekommen der Symptomatik durchlaufen und orientierten uns an folgender Eingangshypothese: Das Bettnässen habe die Funktion, die auseinanderdriftenden Eltern zusammen zu halten.
Mit dieser Idee gerüstet, befragten wir die Familie in der ersten Sitzung. Die Antworten waren spärlich und zurückhaltend, die Suchrichtung blieb unergiebig. In den nächsten Sitzungen fokussierten wir auf mögliche Geschwisterrivalität, dysfunktionale Hierarchien, baggerten nach Informationen, die sich in transgenerational ausgerichtete Hypothesen verwandeln ließen und nahmen mögliche generationenübergreifende geheime Koalitionen unter die Lupe.
Die Familie kam weiter erwartungsvoll, pünktlich und vollzählig zu den vierwöchentlich stattfindenden Sitzungen. Unsere Fragen wurden brav beantwortet, aber es gab weder bei uns noch bei der Familie „Aha-Effekte“. In den streng eingehaltenen Interventionspausen blätterten wir auf der Suche nach neuen Anregungen durch die Kapitel von „Paradoxon und Gegenparadoxon“ wie durch Kochbücher und suchten nach dem ultimativen Rezept. 
All dies geschah ohne irgendein Zeichen von Besserung der Symptomatik. Und wir steuerten unausweichlich auf die 10. Sitzung zu, nach der eine systemische Therapie – erfolgreich oder nicht -  zur Beendigung anstand.
Der Frust hatte uns bereits fest im Griff. Wir schienen nicht in der Lage, eine gute Therapie durchzuführen (Unsere Lehrer hätten dieses Symptom mit Sicherheit nach spätesten drei bis vier Sitzungen geheilt…).
Nachdem unsere mit Leidenschaft und Eifer formulierten Hypothesen von der Familie immer wieder freundlich pariert worden waren, konnten wir uns schlicht und ergreifend keinen Reim mehr auf die ganze Symptombildung machen. Da  wir uns an der Frage der Funktion des Symptoms ohne Resultate abgearbeitet hatten, konzentrierten wir uns jetzt auf die mit dem Bettnässen verbundenen Interaktionen.
Hier ging es jetzt ein Stück weiter: Der Sohn nässte fast täglich ein, die Mutter zog das Bett am Morgen ab, wusch und trocknete es und zog es wieder für die Nacht auf. Nun schien es klar: In einer Familie mit fünf Kindern hatte dieser Sohn eine ideale Möglichkeit gefunden, die Aufmerksamkeit der Mutter zu bekommen. Da damit endlich eine symptomaufrechterhaltende Dynamik identifizierbar schien, konnten wir interventionstechnisch ans Werk gehen. Nach genauer und zirkulärer Befragung der Interaktionsmuster entschlossen wir uns zu ungefähr folgendem Kommentar:
„Wir haben heute gesehen, dass das Einnässen einerseits eine unangenehme Angelegenheit für Dich, Frank, und für Sie, Frau Meier, darstellt. Andererseits sichert es Dir, Frank, und Deiner Mutter eine intensive Beziehung zueinander. Gleichzeitig sind sowohl Sie, Herr Meier, und auch Ihre übrigen Kinder bereit, zurückzutreten und Frank diese besonders enge Beziehung zur Mutter zuzugestehen. Wir glauben, dass diese Rücksicht sehr beachtenswert ist und möglicherweise viele positive Effekte hat: Sie, Frau Meier, sind vollauf im Haushalt beschäftigt und spüren, dass Sie hier gebraucht werden. Sie, Herr Meier, wissen, dass Ihre Frau alles für die Kinder zu tun bereit ist und konzentrieren sich voll und ganz auf Ihre Arbeit und tragen so den Unterhalt der Familie. Und ihr Kinder seid ein Stück frei, Euch altersentsprechend um Eure Angelegenheiten zu kümmern und etwas weniger mütterliche Kontrolle zu spüren. An diese Abläufe hat sich die Familie nun seit Jahren gewöhnt.
Aus diesen Gründen sind wir überzeugt, dass die Dinge sich nicht zu schnell, wenn überhaupt, verändern sollten. Du, Frank, solltest auch weiterhin dafür sorgen, dass das Bett morgens nass ist. Sie, Frau Meier, sollten auch weiterhin das Bett abziehen, es waschen, trocknen und wieder aufziehen. Und alle anderen sollten bei ihren bisherigen Einstellungen bleiben.
Solltest Du, Frank, morgens doch einmal ein trockenes Bett vorfinden, was gelegentlich passieren mag, wäre es wichtig, dass Du Dich vor das Bett stellst und heimlich hineinpinkelst, damit Deine Familie nicht zu schnell mit zu großen Veränderungen konfrontiert wird. Sie, Frau Meier, könnten prüfen, ob das nasse Bett eher unwillkürlich oder willkürlich nass gemacht wurde. Man kann dies an den Spritzmustern auf dem Bettlaken erkennen. Sie sollten jedoch keinesfalls eine Veränderung vornehmen.“
In der nächsten Sitzung war das Symptom stark reduziert. Wir legten noch einmal nach und versicherten der Familie, dass die Familie nicht nur eine aufopferungsvolle Mutter, sondern auch den besten aller denkbaren Väter habe. Der Vater strahlte, die Mutter lächelte rätselhaft und etwas säuerlich.
In der letzen Sitzung, es mag die 11. oder 12. gewesen sein, hatte sich die Symptomatik des Bettnässens aufgelöst. Wir beendeten die Therapie hoch zufrieden.
Nach ca. 12 Jahren meldete sich die Mutter erneut zu einem Termin an.
Die Zeiten hatten sich geändert. Die öffentliche Hand hatte kein Geld mehr, die Wohlfahrtsverbände bauten Stellen ab, die Renten wackelten und Bücher trugen Titel wie „Die Klimakatastrophe“.
Familientherapie hieß nun systemische Therapie. Die Einbeziehung der gesamten Familie wurde schon lange nicht mehr als zwingend notwendig angesehen. In Co-Therapie zu arbeiten war aufgrund der steigenden Klientenzahlen zu aufwendig geworden.
Allerdings legte Frau Meier auch keinen gesteigerten Wert auf eine Co-Therapie und schon gar nicht auf die Einbeziehung anderer Familienmitglieder. Rückblickend gab sie der Therapeutin einige Hintergrundinformationen zur  Familiensituation zum Zeitpunkt der Therapie.
Sie berichtete, sie habe bereits damals und bis vor 2 Jahren eine Beziehung zu einem anderen Mann gehabt. Ihr Mann habe zum Zeitpunkt der Therapie noch nichts davon gewusst, aber alles geahnt. Alle Kinder wussten von der mütterlichen Langzeitaffäre, vor allem die beiden Töchter dienten über Jahre als Alibi für ihre heimlichen Treffen mit dem Liebhaber. Sie brachte die Töchter zu irgendwelchen Vereinsaktivitäten wie Turnen usw., verabredete sich in dieser Zeit mit ihrem Freund und honorierte das Stillschweigen der Töchter mit kleinen Vergünstigungen. Als die ältere Tochter Maria dann mit 15 selbst einen älteren Freund hatte, mit dem der Vater nicht einverstanden war, gaben sich Mutter und Tochter wechselseitig Alibis.
Der Hintergrund der neuen Kontaktaufnahme war, dass Frau Meyer sehr gekränkt darüber war, dass Maria, mittlerweile 23, den Kontakt zu ihr seit 2 Jahren völlig abgebrochen hatte und ihr auch den Kontakt zu ihrem einzigen Enkelkind vorenthielt. Zu ihrer Hochzeit vor einem Jahr hatte sie nur den Vater eingeladen.
Außerdem sorgte sie sich um ihren Ältesten, Klaus. Er war seit Jahren arbeitslos, hatte mehrere Ausbildungen abgebrochen, trank erhebliche Mengen Alkohol, warf mit rechtsradikalen Parolen um sich und hatte schon mehrmals im Rausch einen Zimmerbrand verursacht.
Herr Meier arbeitete nach wie vor, stand kurz vor der Berentung und versorgte die Familie materiell. Er hatte nach Ansicht seiner Frau selbst eine Beziehung mit einer Nachbarin und aus dieser Beziehung vermutlich auch ein Kind. Darüber werde aber nicht geredet, eine Trennung sei aus finanziellen Gründen nicht möglich.
Über die anderen Kinder erzählte sie folgendes:
Gerd, 19 Jahre alt, lebte mit einer 10 Jahre älteren Partnerin und deren Kind zusammen. Zur Mutter hatte auch er den Kontakt abgebrochen, als diese versuchte, ihm die Partnerschaft auszureden und seiner Freundin Hausverbot erteilte.
Eva, 18 Jahre alt, lebte mit ihrem Freund noch im elterlichen Haushalt, hatte eine Lehre abgeschlossen, arbeitete und nahm die Versorgungsleistungen des „Hotel Mama“ in Anspruch.
Und Frank? Unser damaliger „Indexpatient“ lebte mit seiner Freundin in einer eigenen Wohnung, hatte eine Berufsausbildung als Maurer abgeschlossen und war inzwischen Polier. Er hatte gerade ein altes Haus gekauft, das er selbst umbaute und renovierte. Von allen 5 Kindern wurde er als der selbständigste und souveränste geschildert. Er hatte allerdings kaum Kontakt zur Familie, weder zu seinen Eltern noch zu seinen Geschwistern.
Verschiedene Fragen beschäftigen uns seither. Kann man die damalige Therapie noch als teilweise erfolgreich bezeichnen? Wie hätte sich ein anderes Setting ausgewirkt? War die Familie vielleicht auch deshalb so kooperativ bezüglich des Settings, weil dadurch das Bewahren des Geheimnisses leichter war als in einem variablen Setting? Und – last but not least- wären wir mit mehr Information überhaupt zurechtgekommen, hätten wir uns an solch komplexe sex-and-crime-Themen herangewagt? Oder doch lieber schnell überwiesen an ältere und erfahrenere Kollegen?
Allerdings sind wir ziemlich sicher, was uns damals motiviert hat: Die Möglichkeit, gemeinsam diese erste Therapie durchzuführen, zusammen die Verunsicherungen, Überforderungen und Zweifel zu tragen und ein von Begeisterung getragener Mut.



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