Friday, December 6. 2013Kurt Ludewig: Ein Rennen gegen Wände![]() Vor einigen Tagen bekam ich Tom Levolds Einladung, mich wieder einmal an seinem Adventskalender im systemagazin zu beteiligen. Ich sagte zu, war mir aber nicht ganz sicher, wann ich dazu Zeit haben würde. Denn ich hatte dem Carl-Auer Verlag versprochen, noch im laufenden Jahr 2013 eine revidierte und aktualisierte Fassung meines Erstlingsbuchs »Systemische Therapie« zu liefern. Die Durcharbeitung dieses Buches löste bei mir aber eine Menge an Erinnerungen und Assoziationen aus, über die ich hier berichten möchte: die Gründe, Umstände und Folgen beim damaligen Verfassen des Buches passen durchaus zum diesjährigen Thema des Adventskalenders. Es begann gegen Ende des Jahres 1989. Ich hatte bereits 15 Jahre an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Hamburg gearbeitet, dort wichtige therapeutische Erfahrungen zuerst mit dem Mailänder Modell und später immer mehr mit unserem eigenen Ansatz gemacht und in den vorangegangen Jahren eine ziemliche Anzahl von Arbeiten veröffentlicht. Bis dahin hatte ich naiverweise geglaubt, dass ich als Psychologe an einer medizinischen Einrichtung - anders als Ärzte, die als wissenschaftliche Assistenten befristete Verträge hatten -, so gut wie unkündbar war. Zudem dachte ich, dass meine Arbeit samt der wissenschaftlichen Publikationen von der Universität geschätzt würden. Diese Unterstellung vermittelte mir ein noch stärkeres Gefühl der Sicherheit. Schließlich war ich alles andere als geneigt, sozusagen das Spiel der anderen zu spielen und mich an irgendein ![]() Es ergab sich nämlich, dass kurz davor, im Jahr 1988, die Leiterin der Abteilung, Thea Schönfelder, in Pension gegangen war, sodass wir Mitarbeiter gewissermaßen schutzlos geblieben waren. Es kam zu einer Reihe von Veränderungen in der Klinik, die mich aufhorchen ließen. Meine Position war gar nicht so gesichert, wie ich bis dahin geglaubt hatte. Ich musste also etwas tun, um meinen Stand in der Klinik zu verbessern; es blieb mir nichts anders übrig als den Versuch zu unternehmen, habilitiert zu werden. Um mir aber dennoch treu zu bleiben, sollte das Thema aus dem systemischen Bereich sein. Nach endlosen Auseinandersetzungen mit den metatheoretischen Grundlagen der systemischen Therapie, vor allem mit Maturana, von Foerster und Luhmann in der Theorie, mit Goolishian, de Shazer und White in der Praxis, war es an der Zeit, sie zusammen mit unseren klinischen Erfahrungen zu einer klinischen Theorie des systemischen Therapie zusammenzufassen. Dies schied als Thema einer psychologischen Habilitationsschrift schon deshalb von vornherein aus, weil psychologische Fachbereiche sogenannte Literaturarbeiten nicht akzeptieren, und mir fehlte eine akzeptable Menge an empirischen Arbeiten. Die vorhandenen Katamnesen würden vermutlich dafür nicht reichen, zumal sie über postalische Nachbefragungen mit einem ad hoc erstellten Fragenbogen entstanden waren. Sie fragten insbesondere nach der sogenannten »consumer satisfaction«, die von einem empirisch wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet als wenig aussagefähig gelten. Ich beschloss also, bei meinem Leisten zu bleiben und die Schrift an meinen Vorstellungen vom medizinischen Fachbereich zu orientieren. Ich würde versuchen, in dem Fachbereich, in dem ich die letzten 15 Jahre verbracht hatte, für »klinische Psychologie« zu habilitieren. Das hatten immerhin einige andere Psychologen aus der Klinik vor mir mit Erfolg geschafft. Ich machte mich also an die Arbeit. Mit der Absicht, die systemische Therapie geschichtlich in die Entwicklung des Denkens im Allgemeinen und der Psychotherapie im Besonderen einzuordnen, begab ich mich in ein weitgehend fremdes Terrain. Ich musste mich in die Geschichte der Philosophie und Medizin vertiefen, dazu in die zwar jüngere, jedoch nicht minder komplexe Geschichte der Psychotherapie. Ich kaufte mir eine Menge Bücher, um sie verfügbar zu haben, und nutzte darüber hinaus ausführlich die Bibliothek der Psychiatrischen Klinik. Nach einigen Monaten - schließlich musste ich mindestens 40 Wochenstunden klinisch arbeiten - war es mir klar geworden, dass ich mir sozusagen viel zu große Schuhe bestellt hatte. Es war aber zu spät, um zurückzudrehen oder aufzuhören. So kam es in den Jahren 1990 und 1991 nicht selten dazu, dass ich mich am Freitag Nachmittag an das Manuskript machte und erst damit aufhörte, als am Sonnabend Vormittag die Putzfrauen gegen 8 Uhr morgens kamen und mein Arbeitszimmer putzen wollten. Manchmal blieb ich sogar bis Sonnabend Mittag dabei oder ich machte am Sonntag weiter. Zu allen zeitlichen Hindernissen kamen bei diesem Unternehmen zwei eingebaute Schwierigkeiten hinzu: Erstens, da meine Muttersprache nicht Deutsch ist, war das Ganze dementsprechend erschwert, und es erforderte, liebenswerte Kollegen aus der Klinik damit zu belasten, meine Texte zu »verdeutschen«. Wenn ich mich recht entsinne, kam keiner vom systemischen Team darum herum. Zweitens war es damals noch nicht Usus, dass die Kliniken PCs zur Verfügung stellten, sodass ich mit meinem eigenen kleinen PC der Marke Zenith schreiben musste. Diese erzeugte aber dauerhaft ein derart schrilles Geräusch, dass ich seitdem in einem bestimmten Hörbereich ziemlich taub bin. Schließlich war es im September 1991 so weit, dass der Text mit 391 Seiten und rund 560 Literaturangaben als Habilitationsschrift beim Fachbereich Medizin der Universität Hamburg eingereicht werden konnte. Dabei machte ich eine Reihe Fehler, die teilweise meinem Hochmut, teilweise meiner Naivität zuzuschreiben sind. Ich hatte nämlich die Möglichkeit, einen Teil der Mitglieder des Habilitationsausschusses zu wählen. Statt der beiden mir wohl gesonnenen, einflussreichsten Leiter der Psychiatrischen Klinik zu nennen – ich wollte ihnen diese Mühe ersparen –, nannte ich zwei Professoren, die meiner Altersstufe angehörten und daher wenig geneigt waren, Risiken einzugehen. Ich war vom Wert meiner Schrift derart überzeugt, dass ich es nicht für nötig hielt, strategisch vorzugehen. Ein bewanderter Kollege aus Professorenkreisen erklärte mir etwas später, dass eine Habilitation, anders als eine Promotion, bei der es um die wissenschaftliche Befähigung des Verfassers geht, die Eintrittskarte zu einen abgeschotteten Verein darstellt; sie sei also im Wesentlichen ein politischer und nur sekundär ein wissenschaftlicher Akt. Wie ich damals erfuhr, wurde dennoch mein Antrag in der ersten Sitzung der Kommission insoweit angenommen, dass zwei mir bekannte und wohl gesonnene Professoren mit der Erstellung der entsprechenden Gutachten beauftragt werden sollten. Der Kommission gehörte aber auch ein Psychologe an; das war Teil der Vereinbarung zwischen dem Medizinischen und dem Psychologischen Fachbereich für die Habilitation von Psychologen in der Medizin. An dieser ersten Sitzung hatte aber der einzige Psychologe gefehlt. Dieser Kollege hatte ein großes Interesse, nach Hamburg zu kommen; er übernahm auch nach meinem Weggang von der Klinik meine dann zu einer Professur erhobenen Stellung. Er erfuhr von der wohlwollenden Behandlung meines Antrags in der Kommission und lief dagegen Sturm. Mit der Maßgabe, es handele sich um die Arbeit eines »Totengräbers« der Psychotherapie, die allenfalls gut für eine Promotion sei, ging er zu allen anderen Kommissionsmitgliedern und überzeugte sie davon, meine Arbeit nicht Klinikern, sondern empirisch und statistisch versierten Gutachtern zur Prüfung zu überlassen. Das stellte mir der Vorsitzende der Kommission als Ergebnis der intensiv diskutierten zweiten Sitzung der Kommission vor. Nach nicht langer Überlegung beschloss ich, meinen Antrag zurückzunehmen. Meine Arbeit war im Wesentlichen eine theoretische und die wenigen eingestreuten Ergebnissen meiner empirischen Studien würden nach den Kriterien empirischer Forschung sicher nicht für eine Habilitation ausreichen. Das war zunächst das bittere Ende dieses mühsam erarbeiteten Projekts. Der spätere Versuch, meine als nicht abgelehnt geltende Schrift in drei weiteren Fachbereichen für Psychologie einzureichen, scheiterten daran, dass bei dem ersten der Professor, der es mir angeboten hatten, bei der Abwicklung seiner ostdeutschen Universität nach der »Wende« zurückgestuft worden war und nichts mehr riskieren wollte. Von dem zweiten Versuch wurde mir von vornherein abgeraten, zumal die damaligen Fachreiche sich in einem Fusionsprozess befanden waren und deshalb höchst unsicher sei, womit zu rechnen wäre. Auf den dritten und letzten Versuch musste ich verzichten, weil die dortigen Professoren zu viele Arbeiten zu sichten und wenig Interesse hätten, sich mit außenstehenden Kandidaten zu befassen. Aus der verarbeiteten und gekürzten Habilitationsschrift wurde dann im Jahr 1992 das Buch »Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis« im Klett-Cotta Verlag. Sie führte zwar nicht zu einer Habilitation, dafür aber zu vier Auflagen und fünf Übersetzungen: Ein wohltuender Trost! Alles in allem ein bitteres, trauriges Rennen gegen persönliche Interessen und die Wände des Establishments. Bei allem, was mich dieses Projekt an Mühen und Frust gekostet hat, sehe ich einen Verlust auch darin, dass ich in den Folgejahren als »anerkannter« Wissenschaftler die Möglichkeit gehabt hätte, an meiner späteren Arbeitsstelle an der Universität Münster eigenständig wissenschaftliche Projekte zur systemischen Therapie zu leiten. Dazu kam es dann nicht. Das sind die Erinnerungen, die in mir das Thema des diesjährigen Adventskalenders wachriefen. Dass ich 20 Jahre später immer noch am Buch arbeiten sollte, ist tröstlich; dass ich nun mit einem geräuschlosen PC schreiben kann, wohltuend. Thursday, December 5. 2013Peter Fuchs: Ein Western der Theorie![]() Das Besondere (und mein erstes wichtiges und deshalb erinnertes Leseerlebnis) bestand darin, daß ich nach den ersten Zeilen und Abschnitten nicht mehr von außen das Buch rezipierte, sondern im geschriebenen Geschehen hauste, als ob es nicht geschrieben sei. Ich hörte die Pferde wiehern, die Revolver knallen, hasste die Bösen, liebte den Helden, an dessen Stelle ich trat – noch in meinen Phantasien vor dem Einschlafen und sogar im Traum. Fortan las ich, was immer mir unterkam, man kann wohl sagen: auf der Suche nach vergleichbarer Intensität, die bisweilen sich einstellte, aber meistens nur als Ahnung auftrat, von Enttäuschung begleitet. So erzählt man Initiationsgeschichten, die sich fortsetzen, aber sich selten (wie das Wort schon sagt) wiederholen lassen. In meinem Fall gab es aber eine Art ‚Neu-Initiation‘, viele Jahre später, als ich ungefähr das 40. Lebensjahr erreicht hatte und nach einem kuriosen Lebenslauf das Studium aufnahm. Es führte mich nach Bielefeld, weil ich von Niklas Luhmann gehört hatte. 1984 erschien sein Buch ‚Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie‘. Auch in diesem Fall erinnere ich gut, was mir zustieß, als ich es las. Ich fühlte mich wie damals als Kind eintreten in dieses Buch, nur: dass keine Handlung vorfindlich war, wohl aber eine Erstreckung von 660 Seiten, auf denen ein Tanz von Unterscheidungen inszeniert war, episch, ironisch, pragmatisch und alles andere als trocken – trotz des immer spürbaren Unterstroms einer Ernsthaftigkeit, die viele, nachgerade sakrale Denktraditionen brach, aber sie gerade deswegen seriös würdigte. ![]() Kurz: ich las tagelang gebannt und enthusiasmiert und lernte dabei das theoretische Denken kennen, das nicht gekennzeichnet ist durch schwer verstehbare Begriffe, sondern durch den Blick auf das Webewerk der Unterscheidungen und deren Koppelungen in der Souveränität eines Überschauens. Es ist kein Zufall, dass Theoria und Visio ‚Fernsicht‘ bedeuten. (Foto: Wikipedia) Wednesday, December 4. 2013Sabine Klar: Wildgehendes Schreiben![]() Ich habe die Vorannahme, dass das, was ich zu beschreiben suche, dem entspricht, was der jeweilige Begriff meint. Wenn es meine Vorliebe ist, die diese Vorannahme über die Verwendbarkeit des Begriffs stärkt, dann kann es sein, dass das, was mittels dieses Begriffs im sprachlichen Raum erscheint, mehr mit dieser Vorliebe zu tun hat als mit dem, was ich beschreiben wollte. Da mir andererseits das, was ich zu beschreiben versuche, wichtiger ist als mein dafür gefundener sprachlicher Rahmen und meine Bilder, nehme ich gleichzeitig Abstand davon und versuche herauszufinden, ob ihm andere Formen vielleicht angemessener wären. Im Hinblick auf die jeweils gefundene einzelne sprachliche Form hilft mir Gelassenheit und eine gewisse ironische bzw. humorvolle Distanz. Im Hinblick auf das eigentlich Gemeinte und auf den Versuch, es immer wieder von neuem in Sprache zu fassen, kann und will ich diese Gelassenheit und innere Distanz aber oft nicht aufbringen - denn es ist mir wichtig. Deshalb versuche ich mich der Verführung zu entziehen, mich an dem einen oder anderen Ruheplatz begrifflicher Festlegungen auf Dauer häuslich niederzulassen. Manchmal schreibe ich ![]() Manchmal frage ich mich, ob dieser Schreibwahnsinn ein Erbe meiner Familie ist. Bei meinem Großvater finden sich neben vielen Gedichten auch gereimte Memoiren, welche die 30er und 40er Jahre in Wien zum Inhalt haben. Mein Vater verfasste ebenfalls Gedichte und von meiner Mutter gibt als „Zeitzeugin“ viele persönliche Erinnerungen in Sammelbänden. Meine Tochter produziert Texte seitdem sie die ersten Buchstaben kritzeln konnte (vor kurzem sagte sie mir, dass das der Grund war, weshalb sie so schnell in die Schule gehen wollte – um endlich die Geschichten in ihrem Kopf auf Papier bringen zu können). Inzwischen hat sie die Schriftstellerei zu ihrem Beruf gemacht und hoffentlich bald ihren Platz in der literarischen Szene. Und auch mein Sohn ist seit kurzem angesteckt worden und probiert die Geschichten in Worte zu fassen, die sich – oft über Jahre hinweg – in seinen Gedanken entfalten. Meine Schreiberei bläst Begriffswelten auf und macht mich glücklich, hält mich aber auch vom Lesen und vom sonstigen Leben ab, denn sie kostet viel Zeit. Insofern ist sie ein teures Hobby - noch dazu wenn sie keinen unmittelbar in Geld oder Imagegewinn ablesbaren Nutzen bringt, wie bei mir. Wenn ich meine mit viel Mühe geborenen Wortgebilde nach Monaten und Jahren wieder lese, erscheinen sie mir fremd – so als hätte sie ein anderer verfasst. Manchmal erkenne ich, dass ich vieles geschrieben habe ohne es wirklich zu verstehen – dass ich mich in meine eigenen Worte verliebt und dabei den Inhalt übersehen habe. Dann beginne ich zu streichen und das Unnötige abzulösen. Ich schäle eine Zwiebel und ahne schon, dass letztlich nichts dabei herauskommen wird. Deshalb halte ich zeitweise inne, berge den vorübergehend saftig erscheinenden Kern in meiner Hand und verwende ihn zum Kochen. Tuesday, December 3. 2013Rudolf Klein: Coming Out![]() Es war mir alles zu langweilig. In seiner elenden Langeweile war das Lesen nur noch durch Werkeln oder Basteln zu toppen. (Eine echte Tortur für jemanden, dem man heutzutage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose verpassen würde, um ihn dann in irgendwelche pädagogischen Programme zu stecken, mit Medikamenten zu beruhigen und auf diese Weise vollends dem Vergammeln zu überlassen.) Mich hat nur eines interessiert: Herumrennen. Am liebsten hinter einem Ball her. Ging aber auch ohne. Also: Fußball, Leichtathletik. Egal. Die Hauptsache: Rennen. Und zwar schnell. Auch das Jonglieren mit einem Ball: rechter Fuß, linker Fuß, Wechsel der Füße, Kopf, Brust, Knie, Fuß und wieder von vorne. Endlos. Oder: Innenrist, Außenrist, linker Fuß, rechter Fuß. Immer gegen die Wand. Ich brauchte keine Gegner. Ging auch so. Besser war es aber mit den anderen Kindern. Die waren insgesamt ![]() Als ich dann während des Studiums irgendwann mit dem Lesen anfing und nach dem Studium mit systemischen Ideen Kontakt bekam, änderte sich das gewaltig. Aber dennoch: ich verstand manche Bücher passagenweise einfach nicht. „Paradoxon und Gegenparadoxon“, „Ökologie des Geistes“, „Geist und Natur“, „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“, „Soziale Systeme“, um nur fünf davon zu nennen. Von diesen für mich unverständlichen Textpassagen ging aber etwas anderes aus. Ich konnte es kognitiv nicht erfassen. Es war körperlich. So ein Gefühl wie: da kribbelt es und lässt mich nicht los. Da steckt etwas drin, was mich auf irgendeine Weise körperlich berührt, neugierig macht, fast elektrisiert. Ich verstand es nicht. Noch nicht. Da war es dann sehr hilfreich, dass ich stundenlang jonglieren konnte, endloses Laufen gewöhnt war, ausdauernd gleiche Bewegungen einübte, stupide gegen die Wand prellte. So verfuhr ich dann auch mit Texten. Ich las sie immer wieder. Markierte Textstellen und notierte am Rand. Und las sie erneut von vorne. Wieder und wieder. Ich glaubte zwischenzeitlich, sie verstanden zu haben, um erneut daran zu zweifeln. Und sie dann wieder zu lesen. Im Garten, im Wald, vor dem Schlafen, in Restaurants und manchmal, ja ich gestehe auch das: beim Autofahren. Dort also, wo andere Sex haben. Und dann, irgendwann war es plötzlich da: Der Text erschien mir vollkommen klar und luzide. Was ich vorher auch nicht ansatzweise verstanden hatte, war auf einmal in Gänze vorhanden. Und ich konnte die Gedanken sogar mit anderen Ideen, die ich mir schon früher erarbeitet hatte, verknüpfen. Mit Leichtigkeit und mit der Möglichkeit, sogar eigene Fragestellungen zu bearbeiten, sie neu zu sehen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Das war und ist bis heute beglückend und hört hoffentlich nie auf. Und manchmal schreibe ich sogar selber Texte. So ist das wohl bei manchen Männern, die auf Anhieb fast nichts verstehen, dafür aber rennen können. Monday, December 2. 2013Wolfgang Loth: Wurzeldinge![]() ![]() Wie gesagt, sagt sich so leicht: Vierteljahrhundert. Immerhin: von meinem iMer gesendet. Sunday, December 1. 2013Stephan Baerwolff: Ein starkes Gefühl beim Lesen von Fachartikeln: Rührung![]() auch in diesem Jahr gibt es wieder - in mittlerweile guter Gewohnheit - einen Adventskalender im systemagazin. Dieses Mal dreht er sich thematisch um Fragen, die mit eigenen Lektüre- und Schreiberfahrungen verbunden sind. Welche Erinnerungen gibt es an Texte, die einen seit langem begleiten, wie hat man erste Schreib- und Veröffentlichungsversuche in Erinnerung, welche Erfahrungen mit Verlagen, Herausgebern, Redakteuren, Lesern wurden gemacht, waren amüsant, berührend oder verwunderlich, wie erlebt man das Wiederlesen von Texten, die man vor ewigen Zeiten geschrieben hat, etc. etc. Hierbei hatte ich zunächst die Idee, in erster Linie Kolleginnen und Kollegen einzuladen, die bereits Text veröffentlicht haben. Es hat sich aber gezeigt, dass die Publikationserfahrungen nicht im Zentrum der bislang eingegangenen Beiträge liegen. Deshalb möchte ich gerne auch Sie einladen, Ihre eigenen Geschichten zum Adventskalender beizusteuern. Wie auch in den vergangenen Jahren ist er zum 1.12. noch nicht voll und ich freue mich über Beiträge. Alle Texte, die zu diesem Thema eingehen, werden auf jeden Fall veröffentlicht, wenn der Adventskalender dafür nicht ausreichen sollte, dann vielleicht als eine Sonderseite im systemagazin oder auch als systemagazin-eBook! denkbar. Den Reigen der Kalendertürchen eröffnet heute Stephan Baerwolff aus Hamburg, der von seiner ersten (Lese-)Begegnung mit Michael White erzählt (der Text, auf den er sich in seinem Beitrag bezieht, ist übrigens 2005 in systhema auf Deutsch erschienen): „Auf Tom Levolds Frage nach einer einschneidenden Lektüreerfahrung fiel mir sofort ein Text ein, den ich am 10.6.1989 auf der Zugfahrt von Heidelberg nach Hamburg las. Warum ich das so genau erinnere? Dazu folgende kleine Geschichte: Durch meinen Kontakt zu Kurt Ludewig Anfang der 80er Jahre hatte ich das Glück, schon relativ früh in die systemische Szene hineinzugeraten und deren Entwicklung mitzuerleben. Da zudem mein Arbeitsplatz eine lange Busstrecke von zuhause entfernt lag, hatte ich jeden Tag ausführlich Gelegenheit, mich in systemische Texte zu versenken. So stieß ich auch auf die ersten Artikel von Michael White, die Helm Stierlin dankenswerterweise aufgestöbert und in der Familiendynamik veröffentlicht hatte. Mir gefielen der Witz und die Kreativität, mit der dort Angst-Monster gezähmt und Paarbeziehungen in Bewegung gebracht wurden. So war es für mich keine Frage, dass ich mich 1989 für einen Workshop in Heidelberg anmeldete, zu dem Michael White (ich vermute das erste Mal) nach Deutschland kam. Dort beeindruckte mich sein ebenso bescheidenes wie klares Auftreten, mit dem er seinen Ansatz darstellte. Seine Verschmitztheit zeigte sich z.B. in der Bemerkung, seine KollegInnen und er würden die psychiatrischen Akten der an sie überwiesenen PatientInnen nicht mehr lesen, sondern wiegen! Seine Therapie-Videos zeigten nicht die üblichen gebildeten Mittelschichts-Familien, sondern auch KlientInnen, wie ich sie aus meiner Arbeit in einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus kannte. Ich war beeindruckt, wie warmherzig Michael White mit diesen schwer belasteten Menschen umging und mit ihnen zusammen aus kleinsten Ansatzpunkten von Ressourcen hoffnungsvolle Geschichten entwickelte. Schließlich erinnere ich noch, dass Michael Whites Frage an das Publikum, ob wir die von ihm zitierten (meist anthropologischen) Theoretiker kennen würden, allseits Kopfschütteln auslöste, selbst bei der versammelten systemischen Prominenz. Wie die LeserIn richtig vermutet, verließ ich also den Workshop höchst zufrieden und angeregt, mich weiter mit dem narrativen Ansatz zu beschäftigen. Dazu gab es gleich noch auf der Bahnfahrt Gelegenheit, denn ich fuhr zusammen mit einer Hamburger Kollegin, die längere Zeit in Australien gewesen war und sich von daher getraut hatte, Michael White anzusprechen und dafür mit einem Haufen an Texten von ihm „belohnt“ worden war. In einen davon schaute ich nun hinein, einen kurzen englischsprachigen Artikel, dessen Lektüre (eben weil kurz!) ich mir zutraute. Schon bald überfiel mich ein starkes Gefühl, das mir beim Lesen von Fachartikeln unbekannt war: Rührung! Im Kern ging es in dem Artikel um eine Klientin, deren Mann gestorben war und die nicht über seinen Tod hinweg kam, so dass ihre Mitmenschen (auch Fachleute) begannen, ungeduldig zu werden. Michael Whites Vorgehen basierte auf der Idee, die gängige Vorstellung der Trauerverarbeitung (Loslassen) zu dekonstruieren und der Klientin die Vorstellung anzubieten, den Kontakt zum verstorbenen Ehemann zu verstärken. Dazu bat er sie, sich ihre Situation durch die Augen des Verstorbenen anzusehen (technisch gesprochen handelte es sich also um zirkuläre Fragen) und gewissermaßen seinen Rat einzuholen. Aus dem Artikel (besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrung des Workshops) sprach eine so große Menschenfreundlichkeit und Warmherzigkeit, dass ich hätte heulen können - ein gewisser Kontrast zu der „Aura“ der systemischen Szene zur damaligen Zeit, die mir doch eher durch ausgesprochene Intellektualität und kognitive Brillanz geprägt schien. Diese überaus emotionale Reaktion mag ein Beleg sein für die These, dass wir Ereignisse besonders gut erinnern, die mit starken Gefühlen verbunden sind. Was wiederum plausibel macht, dass ich ausgerechnet diesen Text hier auswählte. In der folgenden Zeit habe ich mich intensiv mit dem narrativen Ansatz beschäftigt, der mich lange Zeit fasziniert und begeistert hat – besonders in Verbindung zu der sozialkonstruktionistischen Infragestellung scheinbarer Selbstverständlichkeiten als gesellschaftlich konstruiert. Zwar fand ich später die Art der therapeutischen Fragen, die individuelle Probleme gesellschaftlich kontextualisieren sollen, für meinen Geschmack manchmal etwas suggestiv und spürte einen Anflug von Selbstgewissheit darin, die ich gern wieder „radikal konstruktivistisch“ hinterfragt hätte. Aber dennoch bildet m. E. der narrative Ansatz einen sehr geeigneten Rahmen, um z. B. systemisch über Biographie und deren Thematisierung in der Therapie nachzudenken (und dabei durchaus Michael Whites Arbeitsweise zu erweitern). Wenn ich auch seit dem Sommer 1989 viele vielleicht intellektuell „wertvollere“ Beiträge als den besagten Artikel gelesen habe, steht er doch auch heute noch für die Fähigkeit, flexibel die eigenen Prämissen infrage zu stellen und die Perspektive des Denkens zu wechseln wie für das Vermögen, eine warmherzige, zutiefst empathische Beziehung zu anderen Menschen zu gestalten. Beides (und gerade ihr aufeinander-bezogen-sein) sind für mich Eckpfeiler des systemischen Ansatzes. Das ließe sich theoretisch ausgefeilter sagen, aber in einem Adventskalender-Türchen ist (zum Glück) nicht so viel Platz …“
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