Monday, April 19. 2010
 "Das Risiko eines Forschungsprojektes liegt vor allem darin, daß die zugrundeliegenden Hypothesen sich als verfehlt erweisen oder nicht einmal diese Feststellung mit Sicherheit getroffen werden kann. Dieses Risiko spitzt sich dramatisch zu, weil von der Wissenschaft Erzeugung neuen Wissens erwartet wird und aus genau diesem Grunde die Einschätzung des Wahrheitswertes von Neuerungen stark divergiert. Dagegen schützt man sich im typischen Falle (aber eben nicht mit Sicherheit) durch ein Forschungsdesign, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf alle Fälle berichtenswerte (publizierbare, karrierewirksame) Daten erzeugt. Auch kann die Widerlegung (oder belegbare Anzweifelung) bisher unbestrittenen Wissens als Forschungserfolg gelten, vor allem wenn es sich um theoretisch folgenreiches Wissen handelt. Diese Überlegungen zum wissenschaftsinternen Risikomanagement modifizieren die These, daß das Risiko wissenschaftlicher Forschung im Verfehlen der Wahrheit liegt. Wenn man aber nicht das einzelne Projekt, sondern größere Forschungszusammenhänge vor Augen hat, kann Wissenschaft nicht gut von Selbstkritik oder Falsifikation allein leben, denn das würde die dafür geeigneten Wissensvorräte zu rasch aufzehren. Im Dauerbetrieb muß immer wieder bewährbare Wahrheit erzeugt werden, und das Risiko bestimmter Forschungskomplexe oder ganzer Fachgebiete liegt darin, daß dies nicht gelingt." (In: Soziologie des Risikos, de Gruyter, Berlin - New York 1991, S. 218).
Wednesday, February 17. 2010
 "Die deutschen Zensoren -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Dummköpfe -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --" (Aus: "Ideen. Das Buch Le Grand. Kapitel XII". Abb.: Wikipedia)
Monday, February 1. 2010
 Am Samstag ist Ruth Cohn (Foto: Ruth-Cohn-Archiv Hamburg), die bedeutende Vertreterin der Humanistischen Psychologie und Begründerin des TZI-Ansatzes, im Alter von 97 Jahren in Düsseldorf gestorben. Eine Würdigung ihres Werkes, die Friedo Schulz von Thun anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch den Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg vorgetragen hat, findet sich auf den Seiten des Ruth-Cohn-Archivs der Universität Hamburg. Ich habe zwei "Zitate des Tages" ihr zu Ehren ebendort gefunden, beide aus dem Band "Es geht ums Anteilnehmen" (Herder-Verlag, Freiburg 1993): "Anteilnehmen gehört zu uns als Teilhabende an dieser Welt. An was und wie wir anteilnehmen, beruht auf unseren Fähigkeiten und unserer persönlichen Geschichte. Wir nehmen wahr, wir sind motiviert und wir handeln durch unsere Gefühle, Gedanken, Werte. Als Anteilnehmende antworten wir auf Geschehnisse - sind wir ver-antwort-lich. Nachrichten gibt es im Überfluß. Sie können uns bis zur Resignation überschwemmen, zum Abstellen bringen, zur Wählerapathie. Zuviel wollen oder zuwenig wollen macht ohnmächtig. Wenn ich zuviel oder zuwenig anteilnehme an zuvielen oder zuwenigen Botschaften aus meinem Körper, an Nachrichten aus der Familie oder von Freunden oder aus der großen Welt, erschlafft etwas in mir; ich kann zum Gegner meines eigenen Lebens werden. Doch ich kann mich auch als unendlich kleiner Teil der Welt ernst nehmen, wenn ich bewußt anteilnehme. Denn ich bin nicht ohnmächtig; ich kann nicht gar nichts. Ich bin nicht allmächtig, ich kann nicht alles. - Auch im Anteilnehmen und im Tun geht es ums menschliche Maß.” (S. 8 ) „Der Begriff Lebendiges Lernen impliziert den Gegensatz zum Toten Lernen, das wir aushalten müssen, weil du und ich - unsere Gesellschaft - es zulassen, daß Leben in Stunden toten Lernens oder toten Arbeitens und Stunden der Freiheit und Lebendigkeit aufgesplittert wird. Schüler werden aufgefordert, für "später im Leben" zu lernen, um ihre Lebensberechtigung und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während ihr Hier-und-Jetzt-Dasein dieser Zukunft geopfert wird. Diese Trennung von Leben und Lernen ist ein grausiger kultureller Tatbestand und keine biologische Notwendigkeit. Das Baby greift nach seinen Zehen, betrachtet ein surrendes buntes Windrädchen, gibt gurgelnde Laute von sich und formt sie zu artikulierten Wörtern: es strampelt, es zappelt, es lallt - und wird wütend und schreit, wenn ihm etwas nicht gelingt. Lernen und leben sind noch ungeteilt. Dann zwingt unsere Zivilisation Kinder in ungemäße Lern- und Verhaltensformen. Wir bieten ihnen aggressive und rivalisierende, statt individuierende und kooperative Verhaltensweisen an. Was ein lebendiger Lern- und Wachstumsprozeß sein sollte, wird zu einem "Ich bin besser (schlechter) als Du"-Unternehmen, das entfremdende Motivationen einimpft und echte Lebenswerte zerstört.” (S. 13)
Sunday, January 31. 2010
"Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für einen Übertreiber halten, muss ich Ihnen sagen, dass ich es als einen totalitären Charakterzug unserer Zeit empfinde, dass wir das Nichtverstehen nicht ertragen, dass wir ihm gegenüber keine Toleranz aufbringen, dass wir es übertünchen, verschleiern, ausrotten, wo wir nur können. Dass wir - und da sind wir Übersetzer noch die harmlosesten - aus dem Verstanden-werden-wollen, Verstanden-werden-müssen die Ideologie unserer Zeit gemacht haben, deren krasseste Auswirkung der Raubbau an allem ist, was im medialen Diskurs eventuell schwierig und nicht allgemeinverständlich daherkommt. Dass, sobald uns einer etwas mitteilt oder vorführt, was wir nicht gleich verstehen, wir dies als Affront zu deuten geneigt sind. Schalten wir den Fernseher an, und wir bekommen die ganze Welt als verstandene präsentiert. Und wenn wir das oft genug machen, wenn uns ständig alles als bereits Verstandenes vorgeführt wird, werden wir naturgemäß unleidlich gegenüber allem Unverstandenen, sei es ein Wort in einem alten Text, sei es eine Frau, die eine Kleidung trägt, die uns befremdet. Das Diktat des Verstehens reicht bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wer sein Verhalten nicht erklären kann, steht gesellschaftlich auf verlorenem Posten, und ein Freund, dem wir sagen, wir verstünden ihn einfach nicht, wird bald keiner mehr sein. Haben wir nicht, so die herrschende Logik, einen Anspruch darauf, alles zu verstehen, nachdem wir bereits so unglaublich viel verstanden haben, vom Atom bis zum Gen, vom Unbewussten bis zur Entstehung der Sterne?" (In: "Wir wollen sofort verstehen. Zur Übersetzbarkeit des Islam", FR vom 10.12.2009)
Thursday, January 28. 2010
 Heute wäre Don D. Jackson, einer der wichtigsten Pioniere der Familientherapie, Psychiater und Gründer des Mental Research Institute in Palo Alto, 90 Jahre alt geworden. Er starb viel zu früh, einen Tag nach seinem 48. Geburtstag, am 29.1.1968. Auf der "Don D. Jackson Memorial Conference" hielt Nathan Ackerman eine Rede auf Jackson, in dem er die ebenso unorthodoxe wie unabhängige, aber auch ein bisschen einsame Position des Mavericks beschrieb, die Jackson innehatte: "If ever there was a maverick in psychiatry, Don was it. He was the near perfect epitome of all the complexities of a maverick. He had all the gifts, all the oddities, the strangenesses and the aloneness of a maverick. Wherever he went, he jolted his colleagues out of their comfort and complacency and they liked it. His scientific skepticism was his hallmark. Again and again, he asked, "How do you know?"; "Suppose we take the same problem, turn it inside out or upside down and re-examine it in a different way". Yet he had no urge to rebel for the sake of rebelling. He entered the fray of scientific debate, armed with new observations, searching for new and more elegant syntheses. In the quest for truth, he was ever-ready to put new hypotheses to the test. In every sense, he was the living symbol of what Justice Douglas called "His majesty's loyal opposition". His very rebellion added to the strength, wisdom, and leadership of his elders. His soul was possessed; he had a mission and he pursued it to the end." (Fam Proc 9, 1970, S. 117). Zum Gedenken an Don Jackson hier das Zitat des Tages von ihm, aus einem programmatischen Aufsatz "The Individual and the Larger Contexts" aus dem Jahre 1967 (Fam Proc 6, s. 139): "We view symptoms, defenses, character structure, and personality as terms describing the individual's typical interactions which occur in response to a particular interpersonal context, rather than as intra-psychic entities. Since the family is the most influential learning context, surely a more detailed study of family process will yield valuable clues to the etiology of such typical modes of interaction. Whether one thinks in terms of "role," "tactics," or "behavior repertoire," it is obvious that the individual is shaped by, and in turn helps to shape, his family. This may not at first appear to be such a startlingly new approach but rather the most commonplace social psychology or, at best merely a shift of emphasis, an accentuation of ideas which are implicit in many of the great theories of contemporary behavioral science which refer to "interaction," "relationships," etc. But it has been our experience, which I want to share with you, that when one begins to approach or even gather the data, it makes all the difference in the world exactly where the primary emphasis lies. One finds oneself almost immediately faced with certain conceptual watersheds, certain discontinuities between interactional data and individual theories."
Tuesday, January 19. 2010
 "Wie steht es nun mit Organisationen? Sind auch Organisationen temporalisierte soziale Systeme, die sich über die Reproduktion spezifischer Elementarereignisse reproduzieren und über der rekursiven Vernetzung dieser Elementarereignisse schließen? Sind Organisationen autopoietische Systeme, die sich von ihrer Umwelt abkoppeln und anhand des Ausweises eigener Strukturen ausdifferenzieren? Die basale Operation der Entscheidung erfüllt alle Forderungen, die man an ein autopoietisches Element stellen kann. Entscheidungen sind Kommumkationen, die den Mitteilungsakt herauspräparieren zur Spezifizierung von Anschlußoperationen, über deren Konditionen der Informationsakt Auskunft gibt. Eine Entscheidung wird verstanden, wenn diese Engführung einer kommunikativen Situation auf nur noch wenige und in Entscheidungsprogrammen unter Umständen vorab festgelegte Anschlußentscheidungen verstanden wird. Entscheidungen sind somit Kommunikationen, die sich als Grundelemente von Zweck- und Konditionalprogrammen vor allem darum eignen, weil im Anschluß an Entscheidungen fast nur noch Entscheidungen gefällt werden können. Organisationen sind soziale Systeme, die sich in diesem Sog der Entscheidungen installieren, in dem auch beliebige andere Kommunikationen fast immer als Entscheidungen ausgelegt werden können, an die andere Entscheidungen angeschlossen werden können." (In: "Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008 - Neuauflage [1991]).
Wednesday, January 13. 2010
 "62. In den verschiedenen Relativismen werden die universalen Wahr-Falsch-Unterscheidungen entweder relativiert zu »wahr/falsch für …« oder ersetzt durch Unterscheidungen wie: »hinlänglich gerechtfertigt« vs. »nicht hinlänglich gerechtfertigt«, »viabel/nicht viabel«, »passend/nicht passend« oder »angemessen/unangemessen«. 63. Jeder relativistische Bezugrahmen muss zumindest soweit gefasst werden, dass in ihm Platz für Meinungsverschiedenheiten bleibt: dass also ein X für den Einen so sein kann und für den Anderen anders. Es ist trivial, dass jeder relativistische Bezugrahmen Raum lassen muss für die Gedanken, die in ihm auftreten. 64. Ein Problem, das die Relativisten/Konstruktivisten nicht lösen: Wie geschieht der Übergang von der Konstruktion einer Welt-1 zu ihrer Interpretation? Die Unbestimmtheit des Übergangs ermöglicht es im Konfliktfall, etwaige Gegenauffassungen entweder als falsch, aber zum Framework gehörig, zu diskreditieren - das hätte die unliebsame Konsequenz, dass das Framework wahre und falsche Auffassungen vereint - oder die Gegenposition als falsch in ein anderes Framework zu verweisen, womit sie aufhört, Gegenposition zu sein. Die erste Möglichkeit führt zur Frage, wie überhaupt vom Framework aus noch zwischen wahren und falschen Beschreibungen unterschieden werden kann. Die zweite Möglichkeit kann nicht uneingeschränkt realisiert werden, sonst verliert der Relativismus/die relativistische Welt-1 jeden Halt: Wenn in einer Welt-1 nur konsensuelle Auffassungen möglich sind, dann entspricht jede konfligierende Auffassung einer anderen Welt und für Konflikte ist kein Platz. 65. Auch der radikalste Relativismus/Konstruktivismus macht Halt vor einer extremen Vorgangsweise derart, dass durch unser Reden ständig »parallel« dazu Objekte oder gar Welten hervorgebracht werden. Eine solche halt-lose Position, in der jeder Zungenschlag und Augenblick ein neues Versum hervorbringt, würde sogar den Homo-mensura-Satz (und jeden Solipsismus) überbieten. Eine Vorgangsweise, die weder die Resistenz eines »Ich« noch anderer Objekte gegen Beschreibungen anerkennen würde, hätte kein Maß und kein Ziel. 66. Der Homo-mensura-Satz bestimmt den Menschen zum Kriterium für die Dinge - wenn schon nicht, dass sie sind, so doch zumindest, wie sie sind. Der Mensch als Kriterium und Instanz ist dem Relativismus entzogen. Um als Instanz über das Sein oder zumindest das So-Sein der Dinge urteilen zu können, muss der Mensch eine Identität über den momentanen Zustand hinaus besitzen, in dem sein Urteil fällt. Er muss mehr sein als nur der Mensch-zum-Zeitpunkt-eines-Urteils. Sein Urteil muss für ihn eine Gültigkeit über den Urteilsspruch hinaus haben, sonst könnte von einer Identität des Menschen nicht die Rede sein." (In: Die Flucht aus der Beliebigkeit. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2001, 58ff)
Monday, December 21. 2009
"Funktionale Differenzierung produziert (…) genau jenen Widerspruch, auf dessen Hintergrund nichtintendierte Handlungsfolgen politisiert werden können. Unter funktionaler Differenzierung versteht man klassisch ein gesellschaftliches Differenzierungsprinzip, das besondere Mechanismen der Vergesellschaftung von Individuen etabliert. Inklusion, also die Einbeziehung von Individuen in gesellschaftliche Zusammenhänge etwa über soziale Rollen, wird in funktional differenzierten Gesellschaften durch Funktionssysteme organisiert. Der Wohlfahrtsstaat lässt sich in diesem Zusammenhang als Institution auffassen, die versucht, ein gewisses Maß an Inklusion dauerhaft abzusichern. Zugleich aber behalten die Funktionssysteme ihre Autonomie insofern, als sie jeweils eigene Kriterien für Inklusion und Exklusion, d.h. für soziale Berücksichtigung und Ausgrenzung entwickeln. Eine solche funktionssystemspezifische Steuerung von Inklusion und Exklusion hat zwei Folgen: Auf der einen Seite generiert sie das Postulat eines Inklusionsuniversalismus, weil niemand mehr aufgrund seiner Lebenslage und seines sozialen Status ausgeschlossen werden sollte. Insofern zielt funktionale Differenzierung ihrem Prinzip nach auf Allinklusion (…). Damit einher gehen relativ anspruchsvolle, legitime Erwartungen, an gesellschaftlichen Leistungen teilhaben zu können. Zugleich entwickeln sich egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen, die davon ausgehen, dass bei der Inklusion in Funktionssysteme alle Gesellschaftsmitglieder gleiche Chancen haben sollten. Auf der anderen Seite entsteht gerade dadurch, dass Inklusion auf autonome Teilsysteme übergeht, systembedingter Ausschluss. Funktionale Differenzierung verstärkt in diesem Sinne das Problem sozialer Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung. Wir haben es also mit einer gleichzeitigen Universalisierung und Spezialisierung von Inklusion zu tun. Der paradoxe Effekt dieses Widerspruchs ist Exklusion aufgrund (der systemspezifischen Steuerung) von Inklusion. Die Enttäuschung, die von diesem Effekt ausgeht, bildet den Bodensatz für die Entstehung von Konflikten. Allerdings hat die Differenzierungstheorie und insbesondere die Systemtheorie genau diesen Zusammenhang zwischen sozialer Exklusion und sozialem Konflikt nicht nur weitgehend ignoriert, sie ist auch konzeptionell aufgrund eines sehr engen Exklusionsbegriffs nicht ohne weiteres in der Lage, die Frage nach der Konfliktträchtigkeit sozialer Exklusion zu beantworten." (In: Exklusion als Macht. Zu den Bedingungen der Konfliktträchtigkeit sozialer Ausgrenzung. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 7 (2005), Heft 2, S. 41-67.)
Monday, December 14. 2009
 Franziska Becker, Berlinerin und Geschäftsführerin der Systemischen Gesellschaft, war 1989 noch Auszubildende und Jugendvertreterin im Betriebsrat, für den sie am 9.11. in Travemünde tätig war. Nachdem sie zurückkam, verbrachte sie die Nacht in den Straßen Berlins.  "Im frühen Morgengrauen lief ich weiter zur Mauer am Brandenburger Tor. Es war nun schon recht voll, immer mehr Menschen kamen. Langsam rückten die Medienvertreter an. Auf die Mauer wollte ich unbedingt; solch ein historisches Moment wollte ich mir keinesfalls entgehen lassen. Heute oder nie. Der erst Sekt wurde getrunken, das Glück war nicht in Worte zu fassen. Dort blieb ich bis sieben Uhr, weil ich in die Berufsschule musste. Sie war unweit, nur ein paar Meter weiter in Moabit. Als ich dort ankam, war alles wie immer, nur anders. Ich war schockiert. Hören die Leute kein Radio, sehen kein TV? Nur mein Lieblings-Fachkundelehrer stand am Eingang und war völlig emotionalisiert, konnte die Tränen nicht zurückhalten. Mit ihm liefen wir zur Invalidenstraße um mal zu „gucken“, um „Trabbis zu klopfen“ (bemerkenswert sind die vielen neuen Ossi-Wessi-geprägten Worte, die zu der Zeit entstanden)." Zum Adventskalender…
Saturday, December 12. 2009
 "Der emotionale Konstruktivismus geht davon aus, dass wir uns die Welt mit unseren Deutungen und unseren emotionalen Bewertungen so konstruieren, wie wir sie auszuhalten vermögen (…). Und wirklich dauerhaft auszuhalten ist zumeist nur das, was wir bereits kennen oder zu kennen glauben – ein Sachverhalt, der gerade für innovative Kontexte einen erheblichen Kompetenzentwicklungsaufwand mit sich bringt. Es spricht viel dafür, dass der Mensch nur das erkennen kann, was er bereits kennt, weshalb ihm in seinem Leben auch stets Ähnliches widerfährt – zumindest verarbeitet er Neues zumeist im Kontext seiner vertrauten Gewissheiten. Die Wirkungen dieser Festlegungen im Denken, Wahrnehmen und Kommunizieren zu verstehen, ist Thema eines Emotionalen Konstruktivismus. Diesem geht es um eine ganzheitliche Sicht des menschlichen Handelns und er löst sich von der Illusion, dass es vornehmlich Gedanken, Argumente und Konzepte – kurz: „Sinn“ – seien, welchen wir durch unser Verhalten Ausdruck verleihen. Der klärenden Feststellung von Max Weber, der zufolge Menschen stets „sinnhaft motiviert“ handeln, wenn sie handeln, stellt der Emotionale Konstruktivismus die These von der Gewissheit als einer Art Basisemotion ergänzend zur Seite. Diese besagt, dass „Gewissheit“ eine emotionale Balance des Subjekts bezeichnet. Man fühlt sich im Recht (man „hat“ es nicht), man spürt, ob etwas stimmt oder „richtig“ ist, d.h. zur eigenen Richtung passt. Und schließlich bezeichnen wir als „Gewissen“ eine innere Instanz, welche uns deutlich und mit einer emotionalen Entschiedenheit sagt, was wir dürfen und auszuhalten vermögen und was nicht, wollen wir kein „schlechtes Gewissen“ bekommen. Gewissen steht auch für eine unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten unser Verhalten bestimmende Festgelegtheit, über die wir nicht diskutieren wollen. Unser Gewissen steht nicht zur Disposition, wir können es lediglich – und damit uns selbst – strapazieren. Was wirklich gut und böse ist, können wir nicht wissen, wir können es bloß „gewissen“ – ein Wortspiel, welches uns nochmals eindrücklich die Begrenzheiten einer kognitiven Verengung in vielen Versuchen, das Handeln und das interaktive Verhalten der Menschen angemessen zu verstehen, vor Augen zu führen vermag." (In: "Seit wann haben Sie das? Carl Auer Verlag, Heidelberg 2009, S. 39")
Thursday, December 10. 2009
"Zum Kern von Wissenschaft gehört Kritik, die keine Tabus kennt. Sie ist der Lebensquell einer jeden Wissenschaft. Es gilt, Schlussfolgerungen transparent zu machen sowie plausible Argumente auf ihre Geltungsbasis hin zu überprüfen. Kritik erfordert und ermöglicht, Distanz zu praktischen Urteilen und Vorlieben zu nehmen, zu lieb gewonnenen Thesen. Kritik ist kein Privileg der Soziologie oder der Geisteswissenschaften, sondern macht jede Wissenschaft im Innersten aus. Wissenschaft tritt immer mit Verallgemeinerungsanspruch auf, interessiert sich in erster Linie für das Allgemeine, das sie auch im Besonderen sucht. Aber jedes Besondere, das die Geltung des Allgemeinen in Frage stellt, reicht aus, um eine Theorie zum Einsturz zu bringen. Wir können im strengen Sinne sagen: Wo keine Kritik erfolgt, da ist auch keine Wissenschaft, dort erfolgt keine Überprüfung von Schlussfolgerungen und Theorien. Kritik steht also im Zentrum der Soziologie als Wissenschaft; dazu gehört sowohl die methodische Kritik von Alltagswissen, als auch die von wissenschaftlichen Annahmen, Überzeugungen und Erklärungsmodellen. Wie ist es um diese unerlässliche Kritik bestellt? Sie sollte nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch auf Tagungen möglich sein. Das Zeitregime solcher Veranstaltungen ist jedoch sehr rigide. Lassen schon Vorträge von zwanzig Minuten kaum Spielraum, ein Problem angemessen darzulegen, so verhindern Diskussionszeiten von zehn, gar nur fünf Minuten eine Auseinandersetzung mit einer Forschungsfrage vollends. Dabei könnte kollegiale Kritik sich zum Wohle des Fortschritts der Wissenschaft entfalten. Sie macht es zudem auch dem interessierten Laien möglich, sich am wissenschaftlichen Streit zu beteiligen, wodurch er wie selbstverständlich auf die Logik des Arguments verpflichtet wird. Wenn die Kollegialität lebendig ist, bedarf es zur Einhaltung wissenschaftlicher Regeln auch keiner aufwendigen Kontrollen und Evaluationen. Wird auf Tagungen diese Kultur der Kritik nicht mehr gepflegt, geraten sie in Gefahr, sich in Instrumente einer "Karrierepolitik" zu verwandeln: zur Plattform für Auftritte, um bekannt zu werden. Dies hat eine gewisse Beliebigkeit befördert: Der Verpflichtung zur Kritik wird etwa mit dem Hinweis ausgewichen, man gehöre einer anderen Schule an." (In: "Soziologie - Gegenwart und Zukunft einer Wissenschaft", In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34-35/2005, S. 24)
Wednesday, December 9. 2009
 "die welt, in der der mensch bislang lebte, war die ihn umgebende natur, der kosmos, in dem er stand. und philosophie war die frage, wie wir mit diesem kosmos verbunden sind. erst seit etwas mehr als einem jahrhundert beschäftigt sich die philosophie mit den organisationsformen des gesellschaftlichen lebens, darunter den wirtschaftlichen bedingungen seiner existenz. es gibt eine philosophie der arbeit, eine philosophie der produktion, eine philosophie der technik gibt es nicht, keine philosophie. wie technik entsteht, entworfen, organisiert, vermarktet wird und verantwortet werden kann. wir gefallen uns in einer phi- losophie der erkenntnis und des wissens. eine philosophie des machens und des entwurfs steht aus. der mensch ist umstellt nicht mehr von natur und welt, sondern von dem, was er gemacht und entworfen hat. gleichwohl wird das machen herabgesetzt. ein denker ist etwas besseres als ein macher, wer organisiert, ist mehr als wer produziert, der manager ist mehr als der ingenieur, die universität ist mehr als die technische hochschule, der bankier ist mehr als der fabrikant. ein handwerker ist ohnehin abgehängt. und wer gar selbst sein gemüse zieht, wird belächelt. man kann es doch kaufen. auf hegel und marx geht zwar das heute allgemeine bewußtsein zurück, daß der mensch mitglied der gesellschaft erst wird durch sein handeln und seine tätigkeit. aber zwischen tätigkeit, arbeiten und machen sind essen- tielle unterschiede. die meisten menschen haben nur einen job, aber keine arbeit mehr, und von dem, der arbeitet, ist noch lange nicht gesagt, daß er etwas macht. machen ist ein selbst zu verantwortendes tun, an dem jemand mit konzept, entwurf, ausführung und überprüfung beteiligt ist. das, was er macht, steht unter seiner kontrolle und verantwortung und ist teil seiner selbst. machen ist die verlängerung des ich in die selbstorgani- sierte welt hinaus. im machen erfüllt sich die person. und dies in dem maße, als ein eigenes konzept, ein eigener entwurf beteiligt ist und in einer ständigen rückkoppelung aus dem machen erkenntnisse gewonnen werden für die korrektur von konzept und entwurf. nur das schöpferische machen ist wirkliche arbeit, ist entfaltung der person. der entwurf ist das signum der kreativität, durch ihn wird aktivismus und job erst human. eine humane welt setzt eine arbeit und ein machen vor- aus, die durch den entwurf gekennzeichnet sind, weil im entwurf das motiv der person erscheint." (In: "die welt als entwurf". ernst & sohn, berlin 1991, S. 191f.)
Monday, December 7. 2009
"  Kooperation und Vertrauen werden häufig in engstem Zusammenhang genannt. Oft bleibt jedoch unklar, ob Vertrauen ein Ergebnis von Kooperation oder dessen Bedingung ist. Eine minimale Ausprägung von Kooperationen und Vertrauen in genau diese Kooperationen ist unverzichtbar, damit soziales Handeln überhaupt möglich wird25. An irgendeiner Stelle müssen wir die Relativierungen beenden, einstweilig gültige Markierungen setzen und uns daran messen lassen. Im täglichen Handeln (dies ist von Reflexionen desselben zu unterscheiden) haben wir keine Alternative. Wir kommen grundsätzlich über Trial und Error nicht hinaus. Wir müssen so tun als ob wir die Zeichen der Interaktionsprozesse valide lesen könnten. Es gilt sicherzustellen, dass die Zeichen zur Verfügung stehen (z.B. Regeln), dass diese gelesen werden und die Anderen erfahren, dass man das Regelwerk kennt. Des Weiteren ist (ohne Droh- gebärden!) klar zu kommunizieren, dass Vertrauen als absolut unverzichtbares Gut angesehen wird. Nur indem auf Vertrauen bestanden wird, können Andere mit Zuversicht davon ausgehen, dass genau dies die ihm gebührende Rolle spielt. Dies wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich zur Aussage Vertrauen wäre nicht einklagbar. Zur Verdeutlichung: Wenn Vertrauen ein konstituierendes Merkmal erfolgreicher Coachingprozesse darstellt, aber nicht kommunikativ herbeigelockt werden kann, gibt es die Möglichkeit des Rückzuges durch den Coach. Wenn die Zuversicht und das Vertrau- en unserer Kunden wichtig sind, gilt es dies intern zu verdeutlichen und kompromisslos darauf zu bestehen. Wer bei diesem Teil des Aushandelns nicht gesehen wird, bleibt hinsichtlich der Frage im Dunkeln, wieviel Wert er Zuversicht und Vertrauen beimisst. Einmal gedreht lautet die Empfehlung für Kunden: Vertraue keinem Coach, der nicht auf Vertrauen und Zuversicht setzt!" (In: "Business-Coaching. Der Coach als Mountain Guide und Hofnarr". VS-Verlag, Wiesbaden 2009, S. 72f.)
Saturday, December 5. 2009
 "Liebe ist ein Ereignis, aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick. Die Ehe als Institution der Gesellschaft zerreibt dies Ereignis, wie alle Institutionen die Ereignisse aufzehren, auf denen sie gegründet waren. Institutionen, die sich Ereignisse gründen, halten der Zeit so lange stand, als die Ereignisse nicht völlig aufgezehrt sind. Vor solchem Verzehrt-werden sind nur Institutionen sicher, die auf Gesetzen basieren. Solange die Ehe, immer zweideutig in dieser Hinsicht, als unscheidbar galt, war sie doch wesentlich auf dem Gesetz, nicht auf dem Ereignis der Liebe gegründet und damit eine echte Institution. Inzwischen ist die Ehe zur Institution der Liebe geworden, und als solche ist sie noch um ein weniges hinfälliger als die meisten Institutionen der Zeit. Die Liebe wiederum ist seit ihrer Institutionalisierung ganz und gar heimat- und schutzlos geworden." (In: Denktagebuch. 1950-1973, 2 Bde., hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München-Zürich 2002, Dezember 1950; S. 49-51).
Thursday, December 3. 2009
 "Ein mentalitäres Grundmuster dieser entmythologisierten Arbeitsgesellschaft setzt sich fest und wird zur kollektiven Identität der DDR-Bürger: die Standardisierung des Lebens, die Egalität der sozialen Reproduktion. Die „arbeiterliche" Gesellschaft, wie immer unproduktiv sie vor sich hin wirtschaftet, ist eine Gesellschaft der Gleichen. Und Gleichheit war keineswegs nur eine Ideologie der Herrschenden. Die Herstellung egalitärer Strukturen im Alltag, der Kleidung, des Auftretens, des Gesprächs war ein interaktiver Prozess. Dieser Prozess ließ Exposition nicht zu, verpönte das Besondere, Außergewöhnliche, stieß auch das Fremde ab, wenn es sich dem Egalitätssog widersetzte. Der sympathische Zug dieses egalitären Habitus, die Akzeptanz des „anderen Gleichen", hat eine dunkle Seite: die kollektive Ausgrenzung des Anderen, Widerspenstigen, Eigensinnigen. Selbst die privaten „Nischen" können sich der Egalitätsnorm nicht entziehen. Die DDR-Gesellschaft hat einen Aspekt der systemischen Formierung verinnerlicht und zur eigenen Sache gemacht: die Konformität - keineswegs als ideologische Konformität, sondern als eine Egalisierung des kollektiven Habitus. Und auch diese mentale Disposition ist „modernisierungsresistent" und sorgt für das Überdauern der „ostdeutschen" Haltung, selbst nach der Wiedervereinigung. Denn nun machen alle nicht nur die Erfahrung der Überschichtung durch eine westdeutsche Pseudo-Elite, sondern zusätzlich noch die erzwungene Bekanntschaft mit Habituszumutungen, die den verinnerlichten egalitären Habitus notorisch entwerten. Dieses Gefühl führt nicht nur zu kollektiven Kränkungen, es fordert auch das Bedürfnis nach kollektiven Abgrenzungen gegen alles Fremde, von dem „das Westdeutsche" nur einen Aspekt darstellt." (In: Biographie und Mentalität: Spuren des Kollektiven im Individuellen [36]. In: Bettina Völter, Bettina Dausien, Helma Lutz, Gabriele Rosenthal (Hrsg.): Biographieforschung im Diskurs. VS-Verlag, Wiesbaden 2004, S. 21-45)
Monday, November 30. 2009
 "Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der Diskussion, und fast möchte man sagen in der Beweisführung, Recht behalten zu wollen. Das Recht-behaltenwollen selber, bis in seine subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade ausmacht. Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie, Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sich einlud, mit jedem einzeln sein System durchdiskutierte und, nachdem keiner mehr gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen wagte, seine Sache für schlechterdings wertbeständig hielt. Etwas von solcher Naivetät ist überall dort noch am Werk, wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus des Überzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzung einer universitas literarum zugrunde, eines apriorischen Einverständnisses der Geister, die miteinander kommunizieren können, und damit schon der ganze Konformismus. Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden, daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind — solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus —, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet." (In: Minima Moralia. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1951, S. 121f.)
Thursday, November 12. 2009
 "Unterscheidungen verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen gemacht werden. Das heißt auch: sie können gewählt werden. Man macht die eine oder die andere Unterscheidung, um etwas bezeichnen zu können. Jede Bezeichnung setzt eine Unterscheidung voraus – auch dann, wenn das, wovon sie etwas unterscheidet, gänzlich unbestimmt bleibt. Sagt man Sokrates, so meint man Sokrates und niemanden sonst. In diesem Falle fällt das, wovon das Bezeichnete unterschieden wird, mit dem zusammen, wovon die Unterscheidung selbst unterschieden wird. In anderen Fällen kommt diese Unterscheidung der Unterscheidung hinzu. Zum Beispiel wird etwas als groß bezeichnet, um es von Kleinem zu unterscheiden, nicht dagegen von etwas Leisem (laut/leise) und oder etwas Langsamem (schnell/langsam). Ungeachtet dieses Unterschiedes von unterscheidenden Unterscheidungen und nichtunterscheidenden Unterscheidungen, den wir hier nicht weiter verfolgen wollen (Fußnote: Und zwar: um den Paradoxieverdacht zu vermeiden, der aufkommen könnte, wenn man fragt, ob dieser Unterschied selbst eine unterscheidende oder eine nichtunterscheidende Unterscheidung ist. »Unterschied« (in Unterscheidung von »Unterscheidung«) dient uns mithin als Paradoxieabwehrbegriff. Natürlich nur: im Moment), kommt eine Unterscheidung nur vor, wenn sie gemacht wird. Wenn sie nicht gemacht wird, wird sie nicht gemacht. Sie ist nur eine Operation, hat also einen über Zeit vermittelten Bezug zur Faktizität. Sie realisiert sich selber, allerdings nur für einen Moment, und sie muß sich dann am Bezeichneten ihrer Kontinuierbarkeit und ihrer Wiederholbarkeit versichern, um sich zu de-arbitrarisieren. Wir wollen eine Operation, die etwas unterscheidet, um es zu bezeichnen, Beobachtung nennen. Ohne Unterscheidungen sind Beobachtungen nicht möglich. Mit Unterscheidungen geraten sie unter die Bedingungen der Zeit, das heißt: in den Bann der Frage, ob eine De-arbitrarisierung gelingt oder nicht. Wenn sie gelingt, nimmt man an, daß die Operation der Beobachtung weltad-adäquat läuft. Wenn sie gelingt, nimmt man außerdem an, daß das Problem der Paradoxie geschickt vermieden ist. Sehr zu Unrecht, wie eine genauere Analyse immer wieder zeigen kann." (In: Anfang und Ende: Probleme einer Unterscheidung. In: Luhmann, Niklas / Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1990, Suhrkamp, S. 11f)
Monday, November 9. 2009
"die endgültige Antwort auf diese ungeheuer schwere Frage - wie viel ich der Unterdrückung zu verdanken habe -, weiß ich immer noch nicht. Es war die Freiheit des Irrenhauses, aber es war Freiheit, in gewissem Sinne, in einer perversen Art und Weise; es war die Freiheit der Unterdrückten und Ausgelieferten, ein Zustand, in dem man ganz andere, in der echten Freiheit unvorstellbare und unmögliche Bemerkungen und Erfahrungen gemacht hat. Das verlangte nach einer spezifischen Darstellungsweise der Wirklichkeit - der man ausgeliefert war, die man niemals bewegen, nur ertragen konnte. Der enorme Druck ließ die Phantasie und die Sprache frei, ließ eine neue Anschauungsweise entstehen, die da drin, im Irrenhaus als wahr und authentisch zu sein schien. Aber was passiert, wenn der Druck nachlässt, wenn man nicht mehr von Mauern umgeben wird? Ich musste den Versuch unternehmen, ob ich auch ohne Druck existieren kann, das heißt: ob ich an den Diktaturen erkrankte, deformiert wurde, ob mir die Fähigkeit des freien Atmens abhanden gekommen ist, oder im Gegenteil: vielleicht haben mir diese Terrorsysteme gerade geholfen, weil sie mich gezwungen haben, meine schöpferische Kraft, meinen Stil, die Lust zu Schreiben zu entfalten. Es war wichtig, in Erfahrung zu bringen, ob ich auch als freier Mensch Romane schreiben kann." (Imre Kertesz, der heute 80 wird, in einem Interview, das im Perlentaucher zu lesen ist)
Friday, November 6. 2009
 "Bewusstsein und Kultur stehen in einem reziproken Verhältnis. Eine Kultur entsteht aus den Versuchen eines Bewusstseins mit sich erweiternden Fähigkeiten, in Verbindung mit anderen Individuen zu treten. Das spezifisch Menschliche an unserem Bewusstsein lässt sich nicht an einem anatomischen Merkmal des Gehirns festmachen, sondern ist auf seine Einbettung in eine Kultur zurückzuführen. Enkulturation erfordert zum einen, dass sich das Arbeitsgedächtnis früh in multiple Aufmerksamkeitsfelder ausdifferenziert, und zum anderen, dass der hocheffiziente Erinnerungsabruf, zu dem es fähig ist, für eingespielte kognitive Sequenzen nutzbar gemacht wird, die für die Interaktion mit der Kultur wesentlich sind. Diese Operationen versetzen das Gehirn in die Lage, die Aufmerksamkeit auf Markierungspunkte und Wegweiser zu richten, die es ins Herz der Kultur geleiten. Wir wissen zwar noch zu wenig darüber, wie sich diese Sequenzen im Detail entfalten, doch Beobachtungen an wildlebenden Affen und so genannten Wolfskindern machen deutlich, dass wir, falls die Sequenzen dem Gehirn nicht früh genug eingeschrieben wurden, irgendwann nicht mehr im Stande sind, sie uns anzueignen. Ein entscheidender Schritt ist, dass das Aufmerksamkeitssystem des Kindes sich mit dem anderer Menschen verzahnt. Dieses Ineinandergreifen erfolgt über Kanäle wie Blickkontakt, Stimmäußerungen und Berührungen, die an eingespielten Interaktionsmustern wie Begrüßungen, Umarmungen und Spielen beteiligt sind. Damit ein wechselseitiger Austausch entstehen kann, muss das Kind als aktiver Teilnehmer einbezogen sein. Die entsprechenden Formen der Interaktion eignet es sich vor allem im Kontakt zu seinen zentralen Bezugspersonen an. Am Beginn steht meist das gegenseitige Nachahmen von Kind und Mutter. Das Hin und Her von Mimik, Lautäußerungen und Gestik differenziert sich in spielerischen Interaktionen wie dem »So tun, als ob« immer weiter aus. Solche Begegnungen regen das Kind dazu an, ein komplexes Repertoire mentaler Operationen aufzubauen, die es von da an in Situationen einsetzen wird, die eine gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit erfordern. Das kognitive Repertoire, mittels dessen das Kind in die Kultur hineinwachsen kann, ist ein kulturelles Steuerungssystem, das sich Schicht um Schicht in seinem Geist aufbaut. Der heranreifende Geist des Kindes verzahnt sich mit dem seiner Bezugspersonen und nach und nach mit seinem gesamten Umfeld. Auf diese Weise werden Muster des gemeinsamen Beobachtens, Anteilnehmens, Empfindens und Erinnerns eingeübt und verfeinert, die das Kind auf seine späteren Erfahrungen innerhalb der Kultur vorbereiten. Zum Erlernen neuer Fertigkeiten sind immer subtilere Mechanismen der Aufmerksamkeitskopplung notwendig, die es uns zum Beispiel ermöglichen, die Intentionen von Gruppen zu registrieren. Mit Hilfe derselben Mechanismen können wir auch überprüfen, ob unsere Einschätzungen und Bewertungen sich mit denen von anderen decken oder nicht. Solche kognitiven Muster werden dadurch, dass Erwachsene sie bei der Anleitung von Kindern wiederholen, von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dieser auf viele mentale Systeme verteilte pädagogische Prozess bildet eine Art kulturelles Gedächtnis, in dem das gewaltige Geflecht aus sozialen Bindungen und gemeinsamem Handeln und Empfinden gespeichert ist, das der tiefgreifenden Enkulturation jedes Kindes zugrunde liegt. Dieses System des kulturellen Zusammenhalts ist zwar offenbar an der Basis der kognitiven Hierarchie angesiedelt, operiert aber auf einer sehr hohen Abstraktionsebene, die weit jenseits der Möglichkeiten anderer Primaten liegt." (In: Triumph des Bewusstseins, Klett Verlag, Stuttgart 2008, S. 266-268)
Wednesday, November 4. 2009
 Wie heute zu erfahren war, ist am 1.11. Claude Lévi-Strauss, sicherlich einer der berühmtesten Ethnologen des 20. Jahrhunderts, im hohen Alter von 100 Jahren, kurz vor seinem 101. Geburtstag in Paris gestorben. Wie kaum ein anderer hat er durch seine strukturalistischen Analysen des "wilden Denkens", in denen er versuchte, universale Denkprinzipien der menschlichen Klassifikationen und Bedeutungssysteme zu beweisen, der Ethnologie in der intellektuellen Öffentlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine breite Schneise geschlagen. Unabhängig von der Bewertung seiner umstrittenen Thesen, die ihm auch immer den Ruf einer gewissen "Kälte" einbrachten, wird sein großartiger und sehr persönlicher Bericht über seine Forschungsreise zu den Indianerstämmen in Brasilien in den dreißiger Jahren, der gleichzeitig auch eine wunderbare Reflexion über das Reisen an sich und die westliche Kultur darstellt, immer ein wesentlicher Bestandteil der ethnographischen Literatur (auch für Nicht-Ethnologen) bleiben. Aus diesem großartigen Buch "Traurige Tropen" daher das heutige schöne Zitat des Tages: "Im allgemeinen stellt man sich das Reisen als eine Ortsveränderung vor. Das ist zu wenig. Eine Reise vollzieht sich sowohl im Raum wie in der Zeit und in der sozialen Hierarchie. Jeder Eindruck lässt sich nur in Bezug auf diese drei Achsen definieren, und da allein schon der Raum drei Dimensionen hat, so wären mindestens fünf erforderlich, um sich vom Reisen eine adäquate Vorstellung zu machen. (...) Es gab eine Zeit, da der Reisende Kulturen begegnete, die sich von seiner eigenen von Grund auf unterschieden und ihn zunächst durch ihre Fremdartigkeit überwältigten. Seit einigen Jahrhunderten haben wir dazu immer weniger Gelegenheit. Ob in Indien oder in Amerika - der moderne Reisende ist weit weniger überrascht, als es sich eingestehen mag. Wenn er sich Reiseziele und Routen auswählt, bedeutet das für ihn in erster Linie die Freiheit, lieber an diesem als an jenem Tag anzukommen, lieber dieses als jenes Transportmittel der mechanisierten Zivilisation zu benutzen. Die Jagd nach dem Exotischen beschränkt sich auf das Sammeln von Stadien, die einer bereits vertrauten Entwicklung entweder vorauseilen oder hinterherhinken. Der Reisende wird zum Antiquitätenhändler, den der Mangel an Kunstgegenständen zwingt, seine Galerie aufzugeben, um mit alten Souvenirs vorlieb zunehmen, die er auf seinen Spaziergängen durch die Flohmärkte der bewohnten Erde erhandelt." (In: "Traurige Tropen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978, stw240, S. 76-78)
|