Wednesday, October 31. 2012
  Spinoza, der seinerzeit die eigene Unabhängigkeit einer sicheren, doch abhängigen Anstellung vorzog, beschrieb Reue als ein „doppeltes Elend“. Sie mache einem nicht nur klar, dass man etwas verschuldet hat, sondern lasse einen auch noch an diesem Umstand leiden. Was also sollte es mit Reue Brauchbares auf sich haben, immerhin hat sie sich als reale Möglichkeit gehalten über all die Zeit, allen Konkurrenzen in Form heiteren Übergehens von Gewesenem zum Trotz. Sie ist nicht ausgemendelt worden, scheint also für etwas gut zu sein. Doch für was nur? Dirk Kranz (Foto: Universität Trier) hat im Jahr 2005 an der Universität Trier eine Dissertation zum Thema vorgelegt: „Was nicht mehr zu ändern ist. Eine Untersuchung zur Reue aus bewältigungstheoretischer Sicht“. Erstgutachter war Jochen Brandtstädter, Zweitgutachterin war Sigrun-Heide Filipp. Beide stehen für das Forschungsprojekt einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Dirk Kranz gehört mittlerweile zum Team an der Universität Trier, dem Jochen Brandtstädter bis zu seiner Emeritierung vorstand. Brandtstädter hat sich in seinem Modell assimilativer und akkomodativer Prozesse intensiv mit der Dynamik „zwischen hartnäckiger Zielverfolgung und flexibler Zielanpassung“ befasst. Kranz greift Brandtstädters Überlegungen auf und diskutiert in seiner Dissertation u.a. die Frage „nach der Funktion der Reue im Hinblick auf Selbstregulation und Wohlbefinden“. Er fügt der situationalen Unterscheidung zwischen „tätiger Reue“ und „lähmender Reue“ die Frage nach der Disposition hinzu: „Ob man es bei irreversiblen Fehlern schafft, diesbezügliche Reuegefühle zu überwinden, hängt maßgeblich davon ab, wie man im Allgemeinen mit Zielen, insbesondere mit bislang unerreichten wie künftig unerreichbaren, umgeht. Zentral ist die Fähigkeit, persönliche Vorhaben mit gegebenen Realisierungsmöglichkeiten abzustimmen und sich nötigenfalls von aussichtslosen Bestrebungen zu trennen. Diese akkommodative Flexibilität sollte gerade im Falle selbstverschuldeter, daher besonders belastender Zielblockaden vor einer lähmenden Reue schützen. So gesehen kann die Reue je nach Randbedingung eine durchaus intelligente Emotion sein“ (S.145). Die Dissertation endet mit einer existenziell anmutenden Überlegung. Kranz bekennt sich zu „der Ansicht, dass Einsicht in eigene Fehler ohne Reue nicht „zu haben“ ist. Emotionen sind eben nicht – das mal lästige, mal willkommene – Beiwerk unserer Kognitionen, sondern sie sind dringliche Kognitionen, und zwar jene, die primär uns betreffen, – unser Handeln, unsere Entwicklung, unsere Beziehungen. Gewiss möchte sich jeder eine konkrete Reue ersparen, aber wünscht man sich ernsthaft, für Reue generell unempfänglich zu sein? Wohl kaum, denn Reue erfüllt wesentliche Aufgaben: Einsicht in das eigene Fehlverhalten und Antrieb zur Wiedergutmachung. Dieser funktionale Aspekt ist der Globalkritik der Reue entgegenzuhalten. Er öffnet vielmehr eine differenziertere Sichtweise auf die Rationalität der Reue: Wir erkennen eine Fehlentscheidung oder -handlung und machen diese wieder gut, indem wir bereuen. Wenn die Einsicht in den eigenen Fehler aber geschehen, dieser jedoch nicht mehr zu beheben ist, bekommt nachhaltige Reue tatsächlich ein irrationales Moment.“ (S.147). Die Dissertation von Dirk Kranz gibt’s im Volltext hier
Monday, October 29. 2012
 Als im Mai 1981 Mehmet Ali Ağca das Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübt hatte, sagte der Vater von Oktay Saydam: „Wir Türken werden jetzt darunter leiden!“. Oktay Saydam lebte mit seiner Familie, einer „Arbeitsmigrationsfamilie“, in Tübingen. Gegen die generalisierende Betrachtung der Nachbarn wehrte sich der Junge: Türke ja, aber den Papst habe er doch nicht umgebracht! Oktay Saydam lehrt jetzt an der Trakya Universität in Edirne in der Türkei (Foto: trakya.edu.tr) und hat im Jahr 2009 im Rahmen des XI. Türkischen Internationalen Germanistik-Kongresses in Izmir einen Vortrag über die „Orientrezeptionen Ernst Blochs und Bertolt Brechts“ gehalten, mit dem Untertitel: „ Ein Beitrag zur Rekontextualisierung oder Kontexterweiterung des globalen Humanismus versus Terrorismus“. In diesem Zusammenhang erweist sich der „11. September 2001“ als ein weiteres wirkungsmächtiges Kürzel für eine in der Folge ansteigende „Islamophobie“ in der sog. Westlichen Welt. Ein Aspekt der Globalisierung, der unter (nicht seltenen) Umständen mit einer „erheblichen Strapazierung menschlicher Alltagsbeziehungen“ im lokalen Nahraum korrespondiert. Saydam stellt viele Fragen und eröffnet fragend einen Gedankenraum, in dem sowohl zeittypische wie auch zeitraumübergreifende Dynamiken im Umgang mit dem Fremden aufscheinen. Er geht u.a. auf die Versuche Ernst Blochs und Bertold Brechts ein, in der Auseinandersetzung mit orientalischen Philosophen den interkulturellen Blick zu weiten – und verhehlt nicht, „dass die von Bloch rezipierten Philosophen in der islamischen Welt durchgehend als „Häretiker“ eingestuft wurden. Sie wurden verfolgt, ihre Bücher wurden verbrannt“. Dies könnte dafür sprechen, dass die kulturübergreifende Homogenität der allgemeinen Praktiken von Machtausübung der Heterogenität weltbildnerischer Alltagsbezüge und deren Stiftung kultureller Identität vorausgeht. Dem könnte ein erkenntnistheoretisches, schriftstellerisches und/oder philosophisches Interesse an einer „Globalisierung einer humanen Werteauffassung“ entgegengesetzt werden. Oktay Saydam fasst seinen Aufsatz so zusammen, er beschränke sich, „weitgehend auf die offene, vorurteilsferne, wache und diesseitige Forscher- und Betrachter-Haltung Blochs und Brechts sowie auf die diesseitig orientierten Vertreter des auch türkisch geprägten heterodoxen Islam gegenüber anderen Kulturen“ und wolle zeigen, „dass diese urteils- oder vorurteilsferne Forscher- und Betrachterhaltung eine existenzielle philosophische sowie literarisch/poetische Notwendigkeit ist, um aus anderen Kulturen, Philosophien, Erkenntnisse zu ziehen. Eine solche Betrachtungsweise oder Forscher-Haltung hegen jedoch diejenigen - ungeachtet ihrer Herkunft - die sich m.E. grundsätzlich als „humanistisch“ bezeichnen, bezeichnet werden“ (S.142). Der Aufsatz kann hier im Volltext heruntergeladen werden. [Bibliographische Angaben: Der Aufsatz erschien in: Yadigar Eğit (Hg.) (2010) XI. Türkischer Internationaler Germanistik Kongress, 20.-22. Mai 2009. İzmir: Ege Üniversitesi Matbaası (S.140-155)].
Tuesday, October 23. 2012
 Günter Rothbauer, (Foto: www.rothbauer.at), Volkswirt und Psychologe mit einer Ausbildung in systemischer Therapie bei der ÖAS in Wien, hat im Rahmen einer Diplomarbeit an der Wiener Universität eine konversationsanalytische Studien angefertigt, die die Methode des Reflecting Team mit der von Ludwig Reiter entwickelten Variante des "Fokussierenden Teams" verglich und Ähnlichkeiten wie Unterschiede herausarbeitete. In seiner Zusammenfassung stellt er fest, dass "die Ergebnisse (darauf schließen) lassen, dass - bei sauberer Durchführung - zwischen den beiden Methoden ein beträchtlicher Unterschied hinsichtlich Lösungsorientertheit und der Stringenz in der Themenbearbeitung besteht." Zum vollständigen Text…
Wednesday, October 17. 2012
 Die SCRIPT CORPORATE+PUBLIC COMMUNICATION GmbH, eine Frankfurter Agentur für Unternehmenskommunikation, feiert ihr 10jähriges Jubiläum mit einem interessanten Internet-Projekt: www.wir-sind-zuversichtlich.de. Das Programm ist einfach: "Wo sind und wer kennt die Geheimnisse der Zuversicht? Wie kann man Zuversicht verbreiten, wie es die gängige Formel nahelegt? Auf dieser Website sammeln wir unsystematisch Expertenwissen, Meinungen und Fundstücke. Wir wünschen uns viele Leser und Feed-Back und freuen uns auf Hinweise, Fundstücke und Stellungnahmen." Die Umsetzung ist inhaltlich und ästhetisch gleichermaßen anspruchsvoll. Interviews mit Experten aus unterschiedlichen Bereichen (u.a. auch Gerald Hüther) sollen eine Annäherung an den Zuversichtsbegriff ermöglichen. Kurze Videos sind ebenso wie die Audio-Langfassungen der Interviews und eine prägnante Kurzverschriftung zu finden. Ulrich Clement hat im Gespräch mit Christoph Potting von SCRIPT seine Gedanken zum Thema Zuversicht und Paartherapie formuliert: "'Verhandlungsbeziehungen' brauchen die Zuversicht auf besondere Weise. Ohne Grundvertrauen lassen sich keine Abmachungen treffen. Wenn Paare verhandeln, die Kinder gemeinsam zu erziehen, dann kommt hier kein juristischer Vertrag zustande. Eheverträge regeln den Umgang mit Geld und Besitz. Die Lebensplanung und den Umgang miteinander, können jedoch die Beteiligten gar nicht vertraglich sichern. Da braucht es Zuversicht. Sie ist das, was den justiziablen Kontrakt ersetzt. Weil Beziehungen nicht im Detail durchorganisierbar sind, braucht es diese Ressource der Zuversicht, diese Grundgewissheit: Wir sind uns im Prinzip einig. Paarbeziehungen, die mehr auf Gefühle gründen als auf Konventionen, brauchen mehr Zuversicht. Gefühle sind etwas Wankelmütigeres als soziale Konventionen. Gesellschaften haben soziale Rollen entwickelt, um die Illusion von Berechenbarkeit und Kontinuität in die Welt zu setzen. Gefühle, erst recht Liebesgefühle sind jedoch etwas unendlich Launisches. Und Zuversicht ist der emotionale Versuch, dieser Laune Kontinuität zu geben. So gesehen ist das Eheversprechen, in guten wie in schlechten Tagen zusammen zu bleiben, eigentlich eine Zuversichtsverabredung. Wenn aber die Bindung über Gefühle im Vordergrund steht, dann kommt auf besondere Weise die Zuversicht ins Spiel. Die Zuversicht ist der Kontinuitätsgarant für die Liebe." Zum vollständigen Text…
Tuesday, October 16. 2012
 Psychotherapie ist ein komplexes Geschäft. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man sich therapeutische Kommunikation unter einer mikroanalytischen Perspektive betrachtet. Janet Beavin Bavelas (Foto: web.uvic.ca), die bereits in den 60er Jahren gemeinsam mit Paul Watzlawick und Don D. Jackson den Klassiker "Menschliche Kommunikation" verfasst hat, ist seit dieser Zeit als Forscherin mit der Mikroanalyse therapeutischer Prozesse beschäftigt. Gemeinsam mit Dan McGee, Bruce Phillips und Robin Routledge hat sie 2000 im Journal "Human Systems: The Journal of Systemic Consultation & Management" einen wunderbaren Aufsatz über ihre Arbeit verfasst. Im abstracts heißt es: "Microanalysis, which is the close examination of actual communication sequences, can be a useful way to understand how therapeutic communication works. This is a preliminary report on our research group’s applications of microanalysis to communication in psychotherapy. We first describe the historical origins in the Natural History of an Interview Project of the 1950’s and then the subsequent evolution of an alternative paradigm for psychotherapy, which has two key tenets: communication as co-constructive (vs. merely information transmission) and a more positive (vs. pathological) view of clients. Next, we use microanalysis to illustrate how communication in therapy, examined closely, cannot be nondirective. Finally, we describe the functions of three specific discursive tools available to therapists: Questions both embed the therapist’s presuppositions and invite the client to co-construct a particular version of events. Formulations (such as paraphrasing or reflection) inevitably transform, to some degree, what the client has said. Lexical choice, or the decision to use particular words or phrases, can create new perspectives. Each of these tools is illustrated by contrasting their use in traditional and alternative therapeutic approaches. We propose that the effects of each of these tools are inevitable; the only choice is how to use them." Den vollständigen Text kann man hier herunterladen…
Wednesday, October 10. 2012

Eckard König ist emeritierter Professor der Erziehungswissenschaften und Vertreter der "Personalen Systemtheorie", die sich auf Gregory Bateson und Paul Watzlawick beruft. In der Ausgabe 3/2012 des Coaching-Magazins, die seit dieser Woche online zu lesen ist, gibt es ein ausführliches Interview mit König über seine Arbeit als Organisationsentwickler, sein Verständnis von Coaching und seine Vorstellung über den Nutzen von Systemtheorie: ""Die ursprünglich biologisch gefärbte Systemtheorie eines Bertalanffy spaltet sich in den 60er-Jahren auf. Ein Ansatz ist der soziologische von Luhmann. Personen werden in seinem Ansatz der Systemumwelt zugerechnet. Das macht im Coaching oder Beratungskontext Probleme. Man verändert nicht Personen, sondern nur Kommunikationen. Das empfinde ich als zu eingeschränkt. Dann gibt es den Ansatz der Bateson-Gruppe. Hier sind Personen Elemente sozialer Systeme. (…) Die Versuche, das zu verknüpfen, misslingen eigentlich immer. Ich brauchte einen Ansatz, mit dem ich praktisch arbeiten konnte. Wie konstruiert der Einzelne sein Bild der Wirklichkeit? Was heißt Perspektivenwechsel? Das alles findet man nicht bei Luhmann, daher war es für mich eine ganz bewusste Entscheidung zu sagen, Luhmann gibt an bestimmten Stellen – Stichwort beispielsweise: Reduktion von Komplexität – ausgesprochen hilfreiche Anregungen. Aber unter dem praktischen Primat, wenn es darum geht zu beraten, bei Veränderungen zu unterstützen, braucht es einen anderen wissenschaftstheoretischen Rahmen." Zum vollständigen Heft…
Tuesday, October 9. 2012
Jeff Chang ist Assistant Professor am Graduate Centre for Applied Psychology der Athabasca University in Calgary (Kanada) und Clinical Director am dortigen Family Psychology Centre. Im "The Family Journal" ist 2010 ein Aufsatz von ihm erschienen, in dem er sich mit der Technik des reflektierenden Teams in der Ausbildung von Familienberatern auseinandersetzt: "The reflecting team (RT) is an innovative method used in the training and supervision of family counselors. In this article, I trace the history, development, and current uses of RTs and review current findings on RTs. In my opinion, many users of RTs have diverged from their original theoretical principles and have adopted RTs mainly as a technique. Although some aspects of the RT technique (spatial separation and the generation of multiple perspectives) are novel, the potency of RTs is derived from the strength of the working alliance. Finally, I make specific recommendations on how to use RTs in the education and supervision of family counselors." Der Artikel ist auch online zu lesen, und zwar hier…
Monday, October 8. 2012
 In seinem Buch "Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie: Konstruktives Chaos und chaotische Konstruktionen" (2000 im Westdeutschen Verlag) hat der Journalist Stefan Frerichs (Foto: www.stefre.de) eine sehr lesbare und auch für Laien verständliche Einführung in die Grundlagen der Chaostheorie gegeben, die auch auf seiner website zu lesen ist. In der Zusammenfassung heißt es: "In diesem Text wurden die Grundzüge der Chaostheorie mit ihren natur- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen vorgestellt. Darüber hinaus wurden die wichtigsten Vorbehalte gegen eine geistes- und sozialwissenschaftliche Chaosforschung geschildert und ausgeräumt. Es wurde dargelegt, dass sich nichtlineare chaotische Systeme durch die Iteration ihrer Systemvorgänge im Rahmen einer dynamischen Ordnungsbildung selbst organisieren können. Dabei bilden sie verblüffende Ordnungsmuster, wie Attraktoren, Bifurkationen, Intermittenzen, Fraktale oder Solitonen. Derartige Ausnahmen der Ordnung bestätigen aber lediglich die allgemeine Regellosigkeit im Chaos. Obwohl sich das Verhalten von chaotischen Systemen nicht als zufällig bezeichnen lässt, bleiben sie aber gleichzeitig unvorhersagbar und unberechenbar. Ungeachtet dieser Unschärfe folgen chaotische Systeme aber selbstverständlich den Naturgesetzen, und man spricht daher in der Chaosforschung von einem gesetzmäßigen beziehungsweise deterministischen Chaos. Die widersprüchlichen, gebrochenen Eigenschaften von chaotischen Systemen werden vor allem durch Fraktale und Intermittenzen deutlich. Diese weisen sogar in verschiedenen Größenmaßstäben eine verblüffende Selbstähnlichkeit auf, denn sie haben überall eine ähnliche Struktur und somit auch eine ähnliche fraktale Dimension. Selbstähnlichkeit ist eine universale Erscheinung der Natur und auch ein wichtiges Merkmal von nichtlinearen chaotischen Systemen. Bei einem "chaotischen System" handelt es sich um ein autonomes Gefüge von Teilen, die sich insgesamt unvorhersagbar und unberechenbar verhalten, sich aber mitunter nach eigenen Regeln selbst ordnen können. Die Chaostheorie eröffnet die Möglichkeit, das Verhalten von solchen chaotischen Systemen besser zu verstehen und an alte wissenschaftliche Fragen neu heranzugehen." Zum vollständigen Text…
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