Sunday, April 29. 2012
Gestern ging die Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft in Köln zu Ende, diesmal ausgerichtet vom Weinheimer Institut für Familientherapie. Eröffnet wurde der gestrige Tag von einem aufrüttelnden Vortrag von Jürgen Kriz, der von seinen Erfahrungen (u.a. als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats) mit dem bisherigen Prozess der wissenschaftlichen Anerkennung systemischer Therapie berichtete und prognostizierte, dass sich die Widerstände im nächsten Schritt, nämlich der sozialrechtlichen Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA sicher nicht verkleinern werden. Angesichts dieser Tatsache plädierte er dafür, zwar dennoch diesen Weg zu gehen, aber nicht alle Energien in die "Eroberung" des G-BA zu investieren, sondern ganz im Gegensatz dazu die Vielfalt systemischer Praxis weiter zu kultivieren. Zur Frage der Wissenschaftlichen Fundierung der Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses zitierte Jürgen Kriz eine Arbeit von Bernhard Strauß, Martin Hautzinger, Harald J. Freyberger, Jochen Eckert und Rainer Richter, also von Vertretern unterschiedlicher Psychotherapieverfahren, aus dem Jahre 2010, in dem diese den Umgang des G-BA mit der Gesprächspsychotherapie untersuchen - ein Prozess, der für die systemische Therapie nicht strukturell anders verlaufen dürfte. Im abstract heißt es lakonisch: "Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bei der Beurteilung des Nutzens der Gesprächpsychotherapie angewandten Methoden werden kritisch untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass der G-BA seine Beurteilung nicht auf der Grundlage des aktuellen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgenommen hat und so zu einem Ergebnis kommt, das weder von der Wissenschaft noch vom Berufsstand geteilt wird. Es erhebt sich der Verdacht, dass ein Interessenkonflikt vorliegt." Zum vollständigen Text…
Friday, April 27. 2012
 Unter diesem Titel hat Martin Hafen, Sozialarbeiter und Soziologe an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern (Foto: website von Martin Hafen - ein Besuch lohnt sich!), 2004 einen Beitrag im von Ueli Mäder und Claus-Heinrich Daub herausgegebenen Band "Soziale Arbeit: Beiträge zu Theorie und Praxis" (Basel), geschrieben: "Der folgende Text bezieht sich auf das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Theoriebildung und professioneller Praxis. Im Zentrum steht die Frage, aus welchen Gründen die soziologische Systemtheorie für die Beobachtung der Sozialen Arbeit prädestiniert ist und wie eine so komplexe Theorie für die Praxis nutzbar gemacht werden kann. Dabei stellt sich das Problem, dass die Systemtheorie für viele professionelle Praktiker und Praktikerinnen wegen ihrer Abstraktheit und Komplexität über Originaltexte kaum erschliessbar ist. Das führt unter anderem dazu, dass bei kritischen Bemerkungen zu Luhmanns Theorie aus Praxiskontexten oft inhaltliche Missverständnisse zu Grunde liegen scheinen. Der Weg, der beschritten wird, um die Leitfragen dieses Textes zu beantworten, soll über die Praxis der Theorie führen. Dass bedeutet, dass primär einige Theoriestücke vorgestellt werden, welche die Systemtheorie auszeichnen und die auch für die Beschreibung der Sozialen Arbeit von besonderer Bedeutung sind. Weiter wird es darum gehen, auf der Basis der aktuellen Literatur die wichtigsten Erkenntnisse einer systemtheoretischen Beschreibung der sozialarbeiterischen Praxis zusammenzufassen. Zum Abschluss sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis angestellt werden." Zum vollständigen Text…
Monday, April 23. 2012
 Helmut de Waal, Lehrtherapeut an der Wiener Lehranstalt für Systemische Familientherapie, schreibt immer wieder schöne Texte über therapeutische Themen, die sich jenseits von Theoriendiskursen und methodischen Anwendungen bewegen, aber dennoch immer ins Zentrum dessen treffen, womit wir uns als Therapeuten und Berater täglich beschäftigen. Sein Beitrag aus dem Jahre 2004 erörtert die Frage nach dem Platz des Pathetischen in der Systemischen Therapie und sei zur Lektüre empfohlen. Einleitend heißt es: "Vom Pathetischen sprechen wir dann, wenn wir erfasst werden oder uns erfassen lassen von etwas, das – unserer Empfindung nach – größer ist als wir, es ist ein Zustand von Passivität, in den wir uns begeben, den wir riskieren und erleiden: „Wir lassen uns ergreifen“. Wobei das nicht negativ gemeint ist, alle Erfahrung von Hingabe, Begeisterung, Faszination usw. ist so geartet; „überrascht sein“, „sich wundern“ ist eine pathetische Erfahrung, auch die Erkenntnis des Neuen, zumindest im Moment der Entdeckung, wenn die aktive Neugierde umschlägt in die passive Verwunderung. Das Gegenüber des Pathetischen ist das Skeptische. Es ist immer mehrdeutig oder führt die Mehrdeutigkeit in den Diskurs zwischen Menschen ein – das Pathetische hingegen behauptet Eindeutigkeit und, zumindest meistens („ich erlebe es so“), Gültigkeit. Das Pathetische findet immer in der Gegenwart statt, ja schafft Gegenwart. Es entbehrt im Unterschied zum Skeptischen (das nur aus der Distanz heraus möglich ist) der Distanz. In der modischen Terminologie von gestern: Das Pathetische ist das „Hier und Jetzt“ per se. Nachdem das Pathetische subjektiv assoziiert erlebt wird – dem eigenen Gefühl nach tatsächlich erlitten – kann auch leicht die Verantwortung dafür abgegeben werden – „etwas Höheres hat uns erfasst“. Für den Psychotherapeuten eine problematische Geschichte, trotzdem manchmal unvermeidlich, an sich auch nützlich. Unter dem Motto „man kann zumindest darüber reden“ soll hier reflektiert und auch nach plausibler, verantwortungsvoller und nachvollziehbarer Anwendung gesucht werden. Zum vollständigen Text…
Friday, April 20. 2012
 Wurde die Gruppe in der Blütezeit der Human Relations-Bewegung als der Schlüssel für eine humane (und möglichst hierarchiefreie) Arbeitswelt betrachtet, hat ihr Ruf in der Organisationstheorie insbesondere systemischer Prägung etwas gelitten. In einem kurzen Beitrag für das soeben erschienene und sehr lesenswerte "Lexikon des systemischen Arbeitens" (Hrsg: Heiko Kleve und Jan V. Werth) hat Rudolf Wimmer die Entwicklungsgeschichte des Gruppenbegriffes skizziert und weist auf die fortdauernde Nützlichkeit dieses Konzeptes hin: "Begreift man Gruppe als eigenständigen Typus sozialer Systembildung, dann wird deutlich, dass hier eine spezifische Kombination von Merkmalen bedeutsam wird, die sowohl für Interaktionssysteme als auch für Organisationen kennzeichnend sind: Kommunikation unter Anwesenden mit all den damit verbundenen Implikationen (z. B. Verpersönlichung der Beziehungen) auf der einen Seite und Mitgliedschaft, Entscheidungskompetenz, eine dauerhafte Zeitperspektive, Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion etc. auf der anderen Seite. Diese Merkmalskombination verleiht Gruppen ihren typischen Hybridcharakter (…), der es eigentlich verbietet, solche sozialen Systeme der einen oder anderen Seite zuzuschlagen." Der Text ist auch online zu lesen, und zwar hier…
Tuesday, April 17. 2012
 In einer "Studie zur ärztlichen Herstellung von dem, 'was der Fall ist' im gewöhnlichen Krankenhausalltag", hat der Soziologe Werner Vogd, Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke, Kontext und Bedingungen ärztlichen Handelns in der Klinik vorabe jeden Patientenkontaktes: "Noch bevor sich eine Arzt-Patient-Beziehung in konkreter Form entfalten und entwickeln kann - sei es in paternalistischer oder demokratischer Form -, prägen zuvor getroffene Situationsdefinitionen, sogenannte 'Rahmen', ihre Gestaltung. Diese Rahmen stellen im Sinne von Goffman sozusagen eine Wirklichkeitssicht, eine Perspektive dar, in der ein gegebenes Problem gesehen und verstanden werden kann. Es ist zu erwarten, dass diese Situationseinschätzungen die Arzt-Patient-Beziehung in erheblichem Maße beeinflussen. Am Beispiel verschiedener medizinischer Abteilungen (Chirurgie, Innere Medizin, Psychosomatische Medizin) wird die Dynamik unterschiedlicher medizinischer Rahmungsprozesse rekonstruiert. Hierzu fanden auf drei Stationen (zwei Krankenhäuser der Maximalversorgung und ein Universitätsklinikum) jeweils 8- bis 10-wöchige Feldaufenthalte statt, in denen Ärzte unterschiedlicher Funktionsbereiche begleitet wurden, wobei deren Kommunikationen soweit wie möglich schriftlich fixiert wurden. Mit den ärztlichen und einigen nicht-ärztlichen Mitarbeitern der Stationen wurden anschließend Leitfaden-Interviews durchgeführt (insgesamt 30). Die Auswertung erfolgt anlehnend an die dokumentarische Methode von Bohnsack in den drei Schritten 'formulierende Interpretation', 'reflektierende Interpretation' und 'komparative Analyse'. Die Analyse zeigt auf, dass Patientenerwartungen, veränderte ökonomische Rahmenbedingungen, die Antizipation möglicher juristischer Konsequenzen, die Interaktionsdynamik im Team, fachspezifische Problemdefinitionen, aber auch die Spezifika der Krankenhaushierarchie eine wichtige Rolle für die Gestaltung der Beziehung zum Patienten spielen. Die Ergebnisse machen deutlich, dass Arzt-Patient-Interaktionen komplexe soziale Prozesse darstellen, die nur über die Systemdynamik medizinischer Organisationen, insbesondere dem reziproken Abtasten von Erwartungen und den sich hieraus entfaltenden 'Täuschungsmanövern', verstanden werden können." Zum vollständigen Text…
Friday, April 6. 2012
 In Teams und Organisationen spielt sich vieles ab, das man als "Atmosphäre" wahrnimmt. Dicke Luft, tolles Klima, Eiseskälte: das sind keine leicht überprüfbaren oder begrifflich bestimmbaren Konzepte, aber dennoch weiß man intuitiv, was damit gemeint ist. Das Atmosphärische in einem System beeinflusst Produktivität, Kundenzufriedenheit und Arbeitsmotivation. Raimund Schöll, Soziologe, Organisationsberater und Mitbetreiber der website atmosphaeriker.de, hat in einem Text für managerseminare sein Konzept "atmosphärischer Intelligenz" vorgestellt und beschreibt hier sechs "typische Atmosphären in der Arbeitswelt", nämlich die aufgekratzt-hektische, die kämpferisch-hitzige, die niedergeschlagen-ohnmächtige, die freundlich-gelassene, die kühl-distanzierte und die abwertend-dämonisierende Atmosphäre. "Die Erfahrung zeigt: Ist eine atmosphärische Perspektive erst einmal akzeptiert, fangen viele an, die Zusammenarbeit neu zu gestalten. Die Mitarbeiter empfinden ihre Firma nicht mehr nur als Arbeits-, sondern auch als Lebensraum. Konflikte können über bewusst hergestellte Atmosphären entschärft bzw. konstruktiv ausgetragen werden. Und Führung wird durch atmosphärische Kompetenz nicht mehr nur als soziotechnische Angelegenheit angesehen, sondern sie fordert den Chef als ganzen Menschen." Zum vollen Text…
Thursday, April 5. 2012
 Auf einem großen Familientherapie-Kongress in Melbourne 2001 führte Brian Stagoll ein Interview mit Salvador Minuchin, das über Satellit in den Kongress-Saal live übertragen wurde. Es ist ein wunderbares Interview geworden, in dem Minuchin über die Anfänge der Familientherapie und über deren Pioniere Nathan Ackerman, Gregory Bateson, Murray Bowen, Carl Whitaker und natürlich über sich selbst ins Erzählen kommt. Das Interview ist 2002 im Australian and New Zealand Journal of Family Therapy erschienen und hier vollständig zu lesen…
Wednesday, April 4. 2012
 Lothar Eder gehört zu den interessanten Autoren im systemischen Feld, gerade weil er sowohl den systemischen Diskurs überblickt als auch immer wieder über den Tellerrand des Systemischen hinausschaut. 2004 hat er über seine Modifizierung der Arbeit mit der "Inneren Familie" in der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung geschrieben, bei der die "innere Familie" durch die "Inneren Organisation" ersetzt wird: "Von innerer Organisation statt von innerer Familie zu sprechen, ergibt sich aus den Unterschieden von Familien zu anderen sozialen Verbänden. Die Mitgliedschaft in einer Familie ist – soweit dies die Verwandtschaftsbeziehungen betrifft - irreversibel, wie auch immer sie gestaltet wird. Ein Beispiel: Ein Vater kann seinen Sohn verstoßen, er kann sagen 'ich habe keinen Sohn mehr', der Sohn aber bleibt für dieses Leben sein Sohn. Die Mitgliedschaft in einer Organisation hingegen ist herstellbar und kündbar. Man kann in eine Organisation eintreten, man kann aus ihr ausscheiden. In der Arbeit mit inneren Konferenzen zeigt sich hier eine Art Mischverhältnis. Der oder die 'Vorsitzende' der Konferenz (dies ist derjenige, auf den der Pass ausgestellt ist) und die Stimme der Körperlichkeit (dies wird weiter unten ausgeführt) sind vorausgesetzte und damit nicht kündbare Mitglieder. Andere Mitglieder jedoch können sich als vorübergehende erweisen und sich in der Folge eines Beratungsprozesses verabschieden oder nur noch teilzeitmäßig oder in anderer Funktion genutzt werden (z.B. die Stimme, die ständig mit dem eigenen Schicksal hadert). Bei genauerer Betrachtung sprechen somit Argumente für den Begriff der inneren Organisation." Zum vollständigen Text…
Sunday, April 1. 2012
 In einem interessanten Beitrag, der 2011 in dem von der EQUA-Stiftung herausgegebenen Reader Gesellschafterkompetenz. Die Verantwortung der Eigentümer von Familienunternehmen" erschienen ist, setzt sich Rudolf Wimmer mit der Situation von Mitgliedern von Familien als Gesellschafter ihrer Familienunternehmen auseinander. Diese ist in gewisserweise paradox, weil unser Recht einerseits nur Individualbesitz kennt, die Familie aber keine juristische Person darstellt, andererseits aber Gesellschafter im Familienunternehmen nur Aussichten auf Erfolg haben, wenn sie ihre Rechte als Eigentümer in den langfristigen Dienst nicht nur des Unternehmens, sondern auch der Eigentümerfamilie stellen: "Letztlich sind Familienunternehmen so gebaut, dass die konsequente Verfolgung von Einzelinteressen der Gesellschafter ohne Rücksicht auf den Familienzusammenhang am Ende des Tages immer zu einer massiven Selbstschädigung aller Beteiligten führt. Konflikte im Gesellschafterkreis haben es meist an sich, eine ungebremste Eskalationsdynamik zu entwickeln, in der diese Selbstschädigungsprozesse (oftmals sehenden Auges) in Kauf genommen werden." Unternehmen und Familie stehen also in einem wechselseitigen Verantwortungszusammenhang, der die Vitalisierung beider Systeme im Blick behalten muss. Zum vollständigen Text…
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