Saturday, December 31. 2011"Egal, wie gut der Mensch ist, er wird zu einem toxischen Ärgernis, wenn er zu lange herumlungert"![]() hier direkt herunterzuladen… Friday, December 30. 2011Konzeptionelle Innovationen und Finessen im Coaching…![]() … sind im letzten Heft des 2012-Jahrganges von OSC zu finden. Dabei geht es um Wissensvermittlung in Beratungsprozessen, die Verbindung von Fach- und Prozessberatung, Führung und Coaching in Netzwerkorganisationen, Ethische Kompetenz u.a. Ein Beitrag aus systemischer Perspektive kommt von Mirko Zwack, Audris Muraitis und Jochen Schweitzer zum Thema Wertschätzung in Organisationen, einem Thema, das die beiden Erstautoren auch schon in ihrem Workshop auf der letzten DGSF-Tagung in Bremen bearbeitet haben. Zu den vollständigen abstracts… Saturday, December 24. 2011„Tun se mal spekulieren…“![]() im letzten Kalendertürchen für dieses Jahr befindet sich ein Beitrag von Sabine Timme, die in Hannover neben ihrer Tätigkeit in einem Frauenberatungsprojekt in freier Praxis als "Paar- und Familiencoachberaterintherapeutin" sowie als Supervisorin tätig ist. An dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, dass sich der systemagazin-Adventskalender auch in diesem Jahr wieder gefüllt hat. Ich hoffe, Ihnen hat die Lektüre Vergnügen bereitet! Ich wünsche Ihnen allen schöne Weihnachtsfeiertage, Ruhe und Erholung, Freude und Anregung und was immer sonst Sie sich wünschen! Herzliche Grüße Tom Levold Herausgeber ![]() … so Prof. Dr. Hellmuth Freybergers unermüdlich wiederholter Anschubversuch bei „Weiss-ich-nich“-Antworten auf zirkuläre Fragen. Hundertfach gehört von einer, die Anno 1988 bis 1990 in der Medizinischen Hochschule Hannover als protokollierende Praktikantin hinter einer Einwegscheibe saß und grosses Glück hatte zwei Jahre lang jungen Frauen mit anorektischem und bulimischem Verhalten lauschen zu dürfen. Rahmen war das von der Bosch-Stiftung finanzierte Forschungsprojekt „Psychoanalytische Therapie versus Familientherapie“ bei Essstörungen. Heute entspräche die Stimmung und das Verhalten mancher Akteure in der Abteilung Psychosomatik deren Direktor Freyberger war, der eines BATTLEs. Angetreten war: stationär versus ambulant. Psychoanalyse versus Konstruktivismus. Deskriptive versus operative Diagnostik. HipHop versus Standart. Go for it, B-boys! Hinter der Scheibe auf kleinstem Raum abwechselnd zur Supervison herbeigetanzt: Gunthard Weber, Fritze Simon, Gunther Schmidt, Arnold Retzer, Jochen Schweizer und Paul Watzlawick. In meinem frisch magistrierten Sozialpsychologinnenhirn herrschte damals rege Synapsentätigkeit in den Arealen für Ethnopsychoanalyse, Kulturanthropologie und Paarungsverhalten. Andere Regionen waren mit der Gründung eines Ethnomedizinischen Zentrums beschäftigt. Da richteten sowohl die systemischen Grundlagen als auch die Tanzschritte des therapeutischen Servicepersonals im Gehirn arges Chaos an. Cells that wire together fire together, Verwirrung löst Suchprozesse aus und dann erst die ganzkörperlichen Folgen… Meine Erinnerung gaukelt mir vor, wie im Therapiezimmer sechs Familienmitglieder mit ihren Kontrollkompetenzen glänzten und hinter der Scheibe – Homöostase sei Dank – vergnügtes Chaos herrschte. Wie manche Bulimieversion sich, einmal quer durchs Familiensystem gerauscht, ein Hypothesen-Hintertürchen zum Verdünnisieren suchte. Wie eine Anorexievariante sich in zähen Verhandlungen gegen einen Porsche tauschen ließ. Wie ein Supervisior sich klopfend seinen Wegs ins Therapiesetting bahnte und recht freundlich fragte, ob jemand dem Vater ins Hirn geschissen hätte? Atemstillstand vor und hinter der Scheibe. Der Vater lächelt entspannt: interessant, das habe er sich auch gerade gefragt. Wie ich im Losverfahren ein Abendessen mit Watzlawick im Hause Freyberger gewann. Wie Margret Gröne aus diesem Projekt heraus ihr Buch über die verhungerte Bulimie schrieb. Wie ein Teil des damaligen Therapieteams das Niedersächsische Institut für Systemische Therapie und Beratung (nis) gründete, in dem ich mit vielen anderen im ersten Durchgang Deutsch/systemisch lernte. Ach ja: der Battle endete nahezu mit Gleichstand, ich baue mit homies und B-Girls eine essstörungsspezifische Mädchen-WG auf und tue – Freyberger sei Dank - immer noch spekulieren… Friday, December 23. 2011An ecology of mind![]() ![]() Im Sommer schloss sich für mich ein Bogen, als ich eingeladen wurde, auf der Deutschland-Premiere des Films „An Ecology of Mind“ von Nora Bateson, mit der Filmemacherin über ihren Vater Gregory Bateson und seine Bedeutung für die Gegenwart zu sprechen. Die Erscheinung Batesons, seine Austrahlung, Gelassenheit und sein Humor, bringen im Film wunderbar zum Ausdruck, was auch die Lektüre seiner Bücher spüren lässt: eine Begegnung, die einen Unterschied macht. Sie wissen schon… Thursday, December 22. 2011Systemtheorie - keine Liebe auf den ersten Blick![]() ![]() Auch wenn die Lektüre bürgerlicher Theorien gewissermaßen verboten war und man sich auf ihre Darstellung und Kritik in den einschlägigen revolutionären Texten verlassen musste, tauchten bei mir zunehmend Zweifel an solchen Darstellungen auf - genährt durch die Tatsache, dass sich offenkundig und enttäuschenderweise unter der revolutionären Linken auch viele Menschen tummelten, die intellektuell mit ihren Gegnern kaum mithalten konnten. Der Schock, dass Intelligenz genauso wenig an die Revolution geknüpft war wie Dummheit an die Verhinderung derselben, war jedoch insofern heilsam, als ich begann, nun doch auch neben der Kritik bürgerlicher Soziologie die Schriften zur Kenntnis zu nehmen, die solcherart der Kritik unterzogen wurden. Der Schock, dass es hier spannende und interessante Dinge zu lesen gab, die leider oft viel interessanter waren als das, ihre Kritiker fabrizierten, traf mich noch stärker. Immerhin fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass ich vor allem eines bislang nicht verstanden hatte: dass es in der Welt wie in der Wissenschaft und der Theorie immer komplexer zugeht als man vielleicht wahrhaben möchte und dass die Zurkenntnisnahme differerierender Positionen überhaupt erst einen Zugang zu den zugrundeliegenden Problemen eröffnet. Diese Einsicht bahnte den Entschluss, die Kritik bürgerlicher Wissenschaften selbst am Original vorzunehmen. Die Entscheidung fiel auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, der damals in Bochum äußerst unbeliebt war und zudem als Antipode von Habermas als Apologet der herrschenden Verhältnisse galt. In meiner ziemlich dicken Diplomarbeit, die ich mühsam Seite um Seite auf einer alten und leicht klemmenden Olympia-Reiseschreibmaschine tippte, beschäftigte ich mich also mit der "Systemtheorie als Theorie sozialer Kontrolle". Um den reaktionären Charakter der Luhmannschen Theorie entlarven zu können, musste ich mich tiefer und tiefer in sie hineinarbeiten - eine Arbeit, die mir nicht nur im Laufe der Zeit ein ästhetisches Vergnügen bereitete, sondern auch immer mehr (heimliche) Bewunderung für die Originalität Luhmanns und seine Unbeeindrucktheit von jeder Kritik abnötigte. Mit seiner Theorie war ich also schon ziemlich vertraut, lange bevor ich mich selbst als Systemiker gesehen habe. Vor allem wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich später einmal als Therapeut tätig sein würde - und noch viel weniger, dass Luhmann für Therapeuten einmal eine epistemologische Referenzfigur sein würde. Die Auseinandersetzung mit Luhmann hat meiner Lust an Komplexität zum Durchbruch verholfen und mich aus der Eindimensionalität der damaligen Revolutionssemantik herausgelöst. Sein Verständnis von "Theoriearchitektur", die mit bestimmten Setzungen operiert, deren Tragfähigkeit dann im Verlaufe der Theoriearbeit getestet werden muss und die gegebenenfalls dann umgebaut werden müssen, öffnete mir aber auch die Augen für die Kontingenzen jeder Theorie, eben auch der Luhmannschen, so dass ich bis heute, obwohl sehr stark mit der Systemtheorie identifiziert, nicht der Versuchung ihrer Heiligsprechung oder ihrer Begründer erlegen bin. Wednesday, December 21. 2011Mal anders herum: Erst Systemiker, dann Therapeut
Tuesday, December 20. 2011Auflösung des aktuellen Advent-Rätsels![]() dass der diesjährige Adventskalender sozusagen "on the fly" hergestellt wird, merkt man auch daran, dass es zu kleinen Pannen kommen kann. Da ich in der vergangenen Woche nicht in Deutschland war und vorproduzieren musste, ist mir völlig untergegangen, dass ich den Autor des Beitrages von vorgestern gar nicht namentlich erwähnt habe. systemagazin-LeserInnen wissen natürlich trotz des "Jugendfotos", dass es sich dabei um Lothar Eder handelt, der schon viele schöne Beiträge im systemagazin veröffentlicht hat, u.a. die wunderbare Post aus Perturbistan. Aber auch hier kann ein update nicht schaden, dies dürfte ein aktuelleres Portrait (Foto: www.eder-psychotherapie.de) sein ![]() Beste Grüße Missgeschicke als nützliche Erfahrungsquellen![]() Vor 30 Jahren steckte ich mitten in meiner familientherapeutischen Weiterbildung, die ich (noch gezeichnet vom Praxis-Schock meines ersten Berufsjahres in einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus) begonnen hatte. Unsere Ausbilderin war eine charismatische Familientherapeutin, die uns mit ihrer Energie, ihrer Erfahrung und dem Mut, sich im Geiste der humanistischen Psychologie in die Begegnung mit den KlientInnen zu stürzen, begeisterte. Ich begann, „in Beziehungen“ zu denken und diese mithilfe der Landkarten von Minuchins strukturellem Ansatz oder Satirs Kommunikations-Typen zu sortieren. ![]() Im Anschluss an meine Weiterbildung engagierten wir 1983 in der Beratungsstelle, in der ich inzwischen arbeitete, Kurt Ludewig als Supervisor, der die Team-Spannungen zwischen familientherapeutisch und psychodynamisch orientierten KollegInnen bearbeiten sollte. Bei seiner Vorstellung schockierte er mich (der ich doch glaubte mit der familientherapeutischen Literatur vertraut zu sein) mit der Aufzählung von für seine Arbeit bedeutsamen Personen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte (Dell, Maturana, von Foerster, von Glasersfeld, Luhmann usw.) und durch deren Werke ich mich bald zu quälen begann, immer mit meinen bisherigen Denkweisen ringend, die heftig gegen die neuen Ideen ankämpften. Zu diesen tumultartigen erkenntnistheoretischen Debatten in meinem „inneren Parlament“ kamen die Verstörungen durch Kurts Interventionen, etwa wenn er beiläufig erzählte, in seiner Klinik hätten Psychoanalytiker und Systemiker (so hießen sie damals wohl noch nicht) aufgehört, miteinander zu diskutieren und begonnen, gemeinsam zu singen! Unmöglich fand ich das! Trotz dieser Irritationen, gewiss aber wegen Kurts mitreißender Begeisterung und seiner Herzlichkeit, entschlossen sich einige von uns, ihn nach dem Ende der Team-Supervision für eine kleine private Gruppe zu gewinnen, in der er unsere live-Sitzungen mit Familien supervidierte. Diese Sitzungen führten fast regelmäßig dazu, dass anschließend die Therapie beendet war: Während wir uns nämlich von allerlei Ideen und Zielen leiten ließen, die die Familie unseres Erachtens noch erreichen sollten, richtete Kurt unser Augenmerk auf die Wünsche der Familie. Wenn wir sie dementsprechend befragten, stelle sich bald heraus, dass sie mit dem Erreichten zufrieden waren und die Beratung beendet werden konnte. Auch hier gab es in meinem inneren Parlament einige mächtige konservative Lobby-Gruppen, die sich gegen diese Praxis sträubten, doch auch im Zuge meiner Auseinandersetzung mit der systemischen Theorie begann mir allmählich zu dämmern, dass in Kurts Konzept „vom Anliegen zum Auftrag“ ein Herzstück des systemischen Ansatzes liegt. (Nicht zufällig finde ich gerade jetzt, da ich Kurts Buch „Systemische Therapie“ aufschlage, auf Seite 133 beim diesbezüglichen Schaubild ein Lesezeichen!) Ich weiß nicht genau, wann mir das oben geschilderte Erlebnis aus meiner familientherapeutischen Weiterbildung wieder in den Sinn kam, aber heute benutze ich es gern zur Illustration der Idee der Anliegenorientierung. Dass man damit heute kaum noch jemanden vom Hocker hauen kann, finde ich ebenso erfreulich wie bedauerlich: Natürlich ist es wunderbar, dass sich das systemische Denken so weitgehend durchgesetzt hat, doch manchmal vermisse ich die emotionalen Diskussionen aus den Anfangszeiten, als man z.B. in Weiterbildungen mit systemischen Thesen noch auf heftigen Gegenwind stieß! Von der Familientherapie heißt es, sie fuße nicht (wie die Psychoanalyse) auf dem Wirken einer Gründerpersönlichkeit, sondern habe mehrere Mütter und Väter. Meine kleine Geschichte zeigt, dass dies auch für meine Entwicklung gilt und dass Lernen nicht nur auf Erfolg gründet, sondern Missgeschicke ebenso nützliche Erfahrungsquellen sein können. Monday, December 19. 2011Adventskalender 2011: 2 Beiträge fehlen noch!Liebe Leserinnen und Leser, Der Platz auf der Tribüne oder: Whose side are you on?![]() Zu jener Zeit gab es ein Lied, das oft im Radio gespielt wurde, das hieß Whose side are you on?, und dieser Titel ist gewissermaßen programmatisch für diesen Fall. Ich betreute eine halboffene Gruppe von ca. einem Dutzend männlicher Patienten, mit denen ich im wesentlichen gruppen-, z.T. auch einzeltherapeutisch arbeitete. Eines Tages wurde mir ein neuer Patient zugewiesen. Im Eingangsgespräch berichtete er mir von einer chaotischen Beziehungsgeschichte; die Frau habe ihn mit den Kindern verlassen, er stehe ![]() Was nun folgte, war gewissermaßen eine eindrückliche Belehrung über Systemdynamiken, die sich einfach nicht an noch so gut gemeinte therapeutische Zielsetzungen halten, welche nur den einen Pol einer bestehenden Ambivalenz abbilden. Denn eine Weile danach kam der Patient zu mir mit einigen aktuellen Briefen seiner Frau, geschrieben aus dem Frauenhaus, in denen sie ihm deutlich zu verstehen gab, wie sehr sie ihn vermisse. Der Patient berichtete mir nun von einer sich seit Jahren wiederholenden Dynamik von Annäherungen und Trennungen, symbiotischen Phasen, emotionalen Verstrickungen, Vorwürfen, emotionaler und physischer Gewalt, einhergehend mit Alkoholkonsum. Im Laufe der Jahre hatte das Paar es „geschafft“, diverse professionelle Helfer einzuladen, „für“ sie aktiv zu werden. Alle waren gescheitert, etwas im Sinne der von ihnen selbst gesetzten Ziele zu erreichen, sie zogen sich dann, enttäuscht von ihren so wenig veränderungswilligen oder –fähigen Klienten, allesamt zurück, um von den nächsten abgelöst zu werden. Ich telefonierte mit der Therapeutin der Ehefrau meines Patienten und informierte sie – die Dame war entsetzt und fürchterlich enttäuscht von ihrer Klientin. Da habe sie doch scheinbar so große Fortschritte mit ihr in Richtung der eigenen Autonomie gemacht. Und jetzt das! Ich selbst war damals verwirrt. Einmal mehr. Wusste nicht, was ich tun sollte. Hatte aber so ein Gefühl, dass da etwas wirkt, das irgendwie stärker ist als alle Therapeuten zusammen mit ihren so vernünftigen Zielen, die allesamt aus dem reflektiert-akademischen Wertekosmos herrühren. Und so kam mir der Impuls, dass der beste Platz, um mit diesem Patienten und seiner nichtanwesenden, aber kräftig mitmischenden Frau mitsamt der an ihr dranhängenden Therapeutin zu arbeiten, der auf der Tribüne sei. Es stellte sich heraus, dass dies ein guter Platz war: gewissermaßen als Zuschauer, Zuhörer, An-Teil-Nehmender. Dieser Platz erwies sich als entspannter, zudem bewirkte er paradoxerweise ein Mehr an Empathie für den Patienten. Sich über die eigenen Wertsetzungen im Klaren zu sein, sie nicht unreflektiert dem Patienten aufzudrücken, dabei aber sich selbst, die Regeln der Klinik und letztlich auch die eigenen Werte zu vertreten, das war etwas Neues. Später lernte ich: das nennen Systemiker Neutralität. Und noch viel später lernte ich: das was Systemiker Neutralität nennen, ist im Kern bereits bei Freud angelegt, u.a. im Konzept der Abstinenz. So versuchte ich also, den Patienten, sein System, die mitbeteiligten gegenwärtigen und vergangenen Helfer, auch die Therapiesituation selbst, mitunter von außen zu betrachten. Mir half es. Ihm auch? Ich kann es nicht sagen. Womöglich war es hilfreich für ihn, dass sein Therapeut nun weniger pädagogisch mit ihm umging, für bzw. gegen ihn Ziele definierte und deren Erreichung gewissermaßen „überwachte“. In der konkreten Arbeit mit den Patienten, finde ich, kann man mit am meisten über Therapie lernen. Und mit das meiste, finde ich (und denke dabei an Watzlawicks Parabel vom Schiff, das nachts auf hoher See ohne Navigation unterwegs ist), lernt man aus gescheiterten Therapien. Die Therapie, von der ich hier erzähle, ist nach meiner Erinnerung vordergründig gescheitert. Sie ging, wg. vorzeitigen Abbruchs seitens des Patienten oder wg. einer vorzeitigen Entlassung aufgrund eines Verstoßes gegen die Klinikregeln, ohne konkretes Ergebnis zu Ende. Ich vermute, dass ich nicht sein letzter Therapeut war. Ich vermute zudem, dass sich nichts Wesentliches geändert hat am Problemmuster (oder was ich und andere Therapeuten dafür hielten). Mein Wunsch aber ist ein anderer: möge es ihm und den ihm Nahen gut ergangen sein. Sunday, December 18. 2011„Ob ein Ton richtig ist oder nicht, bestimmt der der nächste Ton“![]() "„Ob ein Ton richtig ist oder nicht, bestimmt der der nächste Ton“ (Haja Molter zitiert Miles Davis über den Jazz) Es war 1994, ich war seit einiger Zeit in der Frühförderstelle tätig und merkte, dass ich mich mich unbedingt „familienorientiert“ weiterbilden wollte. Mit dem Kommentar: „Systemische Denkweise könnte Dir gut liegen“ gab mir meine damalige Supervisorin in Aachen Haja Molters Telefonnummer, sie macht eine Supervisorensupervisionsgruppe bei ihm. Haja meldete sich sofort, ich bekam Kontakte mit dem IF-Weinheim, einige Wochen später befand ich mich im Vorbereitungs-Schnupperkursus der Weinheimer Familientherapieausbildung. ![]() Das alles sind nur Einzelspots, das Gesamtbild fällt mir schwer, aus meinen Erinnerungsfetzen zu malen. Als wir mal heftige Auseinandersetzungen mit dem Lehrtherapeutenteam Haja und Heiner Ellebracht hatten, fiel der oben zitierte Satz vom richtigen Ton im Jazz. Meine innere Haja-Stimme in meinem inneren Team nutzt diesen Satz öfter. Von systemischer Vielfalt Stück für Stück in die eigene Alltagsarbeit implementieren zu können, das war‘s: „Ihr habt jetzt ein Fass Wein im Keller. Trinkt es Glas für Glas!“, so Hajas Abschiedssatz nach einer dichten Seminarwoche. Vielleicht für mich das Wichtigste: Ressourcenblick auf mir selbst zu spüren und in meiner Eigenständigkeit unterstützt und ermutigt zu werden. Ressourcenblick auf mir hat geholfen, aus einer „Kultur des Tadels“ auszusteigen und eine Kultur der Wertschätzung als orientierendes Ziel vor Augen zu haben. „Meine Aufgabe als Lehrtherapeut sehe ich darin, schöpferische Distanz zu wahren, liebevolle Einfühlung aufzubringen, Verantwortung für meine soziale Wahrnehmung zu übernehmen, um die Autonomie in der Gruppe zu fördern und mich so authentisch wie möglich zu verhalten...“ (Molter 1998 s. 7) Danke, Haja!" Saturday, December 17. 2011Wie alles begann – keine Geschichte ohne Geschichten!![]() "1971 kehrte Annedore Schultze, die spätere Leiterin des Jugendhofes Vlotho, von einem Studienaufenthalt aus den USA zurück. Zuvor hatte sie 10 Jahre Methoden der Sozialarbeit an der Höheren Fachschule des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Bielefeld unterrichtet. Sie war begeistert von der Art und Weise wie Virginia Satir in den USA mit Familien arbeitete und wollte diesen Ansatz, nach Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und emeinwesenarbeit, unbedingt in der Jugendhilfe in Westfalen verbreiten. Der erste Fortbildungskurs für Sozialarbeiter „Familienberatung und Familienbegleitung“, fand von Februar 1973 bis Dezember 1974 statt. (Parallel dazu begann auch Maria Bosch in Weinheim mit ihren Kursen, was 2 Jahre später zur Gründung des Instituts für Familientherapie Weinheim führte. Die beiden hatten sich bei Virginia Satir in den USA kennengelernt). Veranstalter des Kurses war der „Sozialdienst katholischer Frauen – Zentrale e.V. – Dortmund“. Das Konzept orientierte sich in seinem methodischen Teil an den Erfahrungen und Veröffentlichungen von Virginia Satir (1973) und Horst Eberhard Richter (1970). Es war kein starres Konzept, sondern wurde im Kurs mit den Teilnehmer/innen und Referenten ständig weiter entwickelt. Es gab viel Innovation zu ![]() Nach einer Informationstagung des Landesjugendamtes in Münster 1974, zur „Methode der Familienberatung und –behandlung“ (LWL Münster 1985), fiel die Entscheidung, einen ersten „arbeitsfeldspezifischen Lehrgang zur Familienberatung und Familienbehandlung“ für Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) anzubieten. Das war die Geburtsstunde der Familienberatungslehrgänge in Vlotho. Ich war seit 1972 im Jugendhof tätig. Ich war Sozialarbeiter und Gemeinwesenarbeiter und von Annedore Schultze für ein Modellprojekt zur Zusammenarbeit im Gemeinwesen von Freiburg nach Vlotho geholt worden. Ich hatte andere Aufgaben und verfolgte die Entwicklungen der Kollegin und späteren Chefin mit Interesse. Im Rahmen des Modellprojekts hatten wir die Analytikerin Ruth Cohn für 3 Monate nach Vlotho geholt. So lernte ich die TZI kennen. Nebenbei studierte ich in Bielefeld auch noch Erziehungswissenschaften, was ich mit dem Diplom 1980 abschloss. Im Rahmen eines Seminars über Paradigmenforschung lernte ich die Schriften von Talcott Parsons kennen und war fasziniert. Ab da ließ mich die systemische Denkweise nicht mehr los. Der Entscheidende Schritt kam 1979. An einem Freitag eröffnete mir Annedore Schultze, dass in ihrem Familienberatungskurs ein Referent ausgefallen wäre und ich von Montag bis Freitag in der letzten Kurswoche des laufenden Kurses einspringen müsse. Bis Montag hatte ich nun Zeit, die Pflichtlektüre des Kurses zu lesen. Es waren Bücher von Virginia Satir, Salvatore Minuchin und Maurizio Andolfi. Bis Montag hatte ich mir die für diesen Kurs relevanten Abschnitte einigermaßen einverleibt. Die Woche lief für mich gut und ich hatte endgültig Feuer gefangen. Danach war ich Co-Leiter in allen weiteren den Kursen. Ab 1989 leitete ich die systemischen Beratungsfortbildungen 18 Jahre zusammen mit Anne Valler-Lichtenberg aus Köln. Es war eine wunderbare Zeit der gegenseitigen Anregungen und Entwicklungen. Dank meines großzügigen Arbeitgebers konnte ich viele Kurse besuchen die von Systemikern angeboten wurden. Ich nahm an den Weinheimer Tagungen teil, erlebte Virginia Satir und andere berühmte Vertreter des systemischen Ansatzes. Schließlich nahm ich auch an einer Ausbildungsgruppe mit Jos J. van Dijk in Bielefeld teil. Leider starb Jos, bevor der Kurs zu Ende war. In die DAF trat ich erst nach meiner Supervisionsausbildung ein. Es reichte aber noch um die DGSF mit zu begründen. Die DGSF ist zu meiner „Heimat“ geworden. Hier fühle ich mich wohl und arbeite gerne und engagiert mit. Heute als Rentner nutze ich die vielen Erfahrungen in meiner Praxis für Supervision, Coaching, Paar und Familienberatung. Das will ich auch noch ein Weilchen weitermachen. Einmal Systemiker, immer Systemiker." Friday, December 16. 2011Wie transportiert man Ärger ohne Brüllen…![]() "Als ich in Berlin-Neuköln wieder bei dieser Familie mit den 3 Mädchen war, machte ich die Erfahrung, dass ich mit meinem zirkulären Fragen und mit meinem systemischen Schätzen nicht so richtig weiter kam. Aber irgendwie war mir auch klar, dass diese Mutter ihre Kinder nicht sehen wollte und alles auf ihnen ablud. Ich fand es schrecklich, die Kinder litten und verschafften sich durch Gebrüll Gehör. Diese Mutter meinte es zu gut und gehörte zu denen, die all ihre eigenen Unsicherheiten auf das Herumzupfen an den Kindern laden, sie ständig kontrollieren, sich dann gleichzeitig darüber zu beschweren, dass diese unselbständig sind und zum allgemeinen Familienunfrieden beitragen, wenn sie dagegen aufbegehren. Der Vater brüllt am Für die Mütter dieser Erde Rupf nicht an mir Zupf nicht an mir Nun lass mich doch endlich mal sein Hör auf zu reiben es zu übertreiben Der Schal sitz doch ausreichend fein Lass deine Hände doch von mir und wende dich dir deinerselbst wieder zu Ich will nicht gekämmt sein ich will verpennt ein und putz auch nicht meine Schuhe Ich merke vorm Spiegel gleich wird mir übel Wir sind wirklich nicht einer Meinung Du bist meine Mutter und ich noch klein aber lass mich doch einfach mal sein" Thursday, December 15. 20111968, die Sicht von oben und das Leben eines Fünfmarkstücks![]() "Ja, sie war´s. Ich glaube, sie war´s. Sie muss es gewesen sein! Ich bin mir sicher! Sie war die Person - nach der ja gefragt war - die mir wohl einen ersten Eindruck von systemischem Denken und Handeln vermittelt hat. Aber wann ist man schon sicher? Eine Weile habe ich nachgedacht, ob ich dem diesjährigen Schreibimpuls für einen Beitrag zum Adventskalender im systemagazin würde nachgehen können. Es fielen mir viele wichtige Menschen und Begegnungen ein. Es können auch die Kunst und einige ihrer Vertreter gewesen sein, die mich immer wieder lehren und erfahren lassen, dass Umdenken notwendig ist, um Menschen, Dinge und Sachverhalte besser verstehen zu können. Auch viele gelesene Bücher waren inspirierend und ich kann mich auch daran erinnern, wer mir das ein oder andere Buch empfohlen hat. Meine Freundin aus Kindertagen, die nun Kinder- und Jugendpsychiaterin ist? Ganz sicher! Oder war es mein alter Studienfreund, der Psychologe ist und mir seinerzeit die Ausbildung zur systemischen Beraterin mit den guten Lehrtherapeuten im WISL empfahl? Ja, der auch! Außerdem war er es, der mir die bundesweite Tagung mit dem Thema „Die Schule neu erfinden“ empfohlen hatte, die im März 1996 in Heidelberg stattfand. Es ging um eine systemisch-konstruktivistische Annäherung an Schule und Pädagogik. Ich kann mich an Menschen und Vorträge erinnern, die mich beeindruckt haben. Heinz von Foerster war wohl anwesend. Ernst von Glasersfeld auch? Da fängt es schon an mit den Erinnerungslücken. Auf jeden Fall war das für mich ein deutlicher Auftakt, mich mit systemischen Überlegungen und einer systemischen Betrachtungsweise auf die Schule, die Pädagogik und später auch auf die Lehrerbildung zu beschäftigen und mich mit dem „Unterricht als eine Konstruktion“ auseinander zu setzen. Aber wann fing es genau an? Ich gehe noch einen Schritt weiter zurück in meiner Erinnerung. Denn sie war´s doch, denke ich, meine Grundschullehrerin im dritten Schuljahr! Nach meiner Einschulung 1966 in eine katholische Volksschule in einem kleinen Dorf bei Paderborn erlebte ich dort zunächst keine schönen Jahre. Die relativ alten Lehrer damals versuchten ihr Bestes, unterstelle ich ihnen mal, doch der Unterricht lief ausschließlich frontal ab, er bestand zu großen Teilen aus Abschreiben, im Chor lesen und Päckchen rechnen. Er blieb leider auch nicht frei von Demütigungen und Schmerzen, verursacht von „ausgerutschten Händen“. Außerdem erlebte ich den Unterricht meist als sehr langweilig und so kam ich auf allerhand „dummes Zeugs“, wie man sich die Zeit in der Schule dennoch irgendwie interessant gestalten konnte. Auf manche Lehrer wirkte ich vermutlich sehr anstrengend. Doch meist blieb ich angepasst und relativ brav. 1968 kam SIE, eine sehr junge, braungebrannte neue Lehrerin mit dunklen Haaren. Sie war vielleicht 20 Jahre alt, wohl noch in der ![]() Irgendwann fand sie wohl im Schulgebäude einen alten großen quadratischen Sandkastentisch auf Rollen, den sie etwas entstaubt hatte und eines Tages mitten ins Klassenzimmer schob. Tische und Stühle wurden an den Rand gestellt. Jedem gab sie ein kleines Holzhäuschen in die Hand, von der Sorte wie sie in Monopoly-Spielen zu finden sind. Ihr gestellter Arbeitsauftrag dazu lautete: „Stellt euch vor, der Kasten ist unser Dorf. Nun stellt jeder sein markiertes Häuschen an den Platz, wo er glaubt, dass das Haus steht, in dem er wohnt.“ Es gab Nachfragen, wie das denn gehe. Und sie sagte: „Stell dir vor, du bist ein Vogel und schaust von oben auf unser Dorf. Wo wohnst du denn nun? Kannst du das Haus sehen, in dem du wohnst? Stelle das Holzhäuschen an den Platz.“ Puh, wir waren mehr als 30 Kinder in der Klasse und es gab ein Gerangel, es wurde laut. Jeder wollte seinen Platz finden in dem großen Kasten. Sie ließ uns machen, reden, begründen, streiten und einigen, wo was zu stehen habe. Zum Schluss standen alle Häuser irgendwie irgendwo. Sie ließ sie so stehen. Erst am nächsten Tag ging es weiter. Wir lernten, dass Distanzen relativ sind, wir begriffen langsam die Himmelsrichtungen. Wir erfuhren die Notwendigkeit von Einigung auf etwas zur besseren Verständigung. Wir erlebten die veränderte Sichtweise von oben sowie den zeitlichen Abstand eines Tages, der den Streit weniger wichtig erscheinen ließ, etc. etc. Heute könnte man sagen, das war ein genialer, an die Lebenswelt der Schüler/innen anknüpfender Einstieg in eine Unterrichtseinheit zur Kartenarbeit im Heimatunterricht, der schnell alle Schüler/innen aktiv werden ließ, in dem selbstentdeckendes Lernen ermöglicht wurde unter Berücksichtigung von Elementen des Kooperativen Lernens usw. oder so ähnlich. Auf jeden Fall sorgte er für diese intensive Erinnerung und Nachhaltigkeit, zumindest bei mir mit der eigentlich banal erscheinenden Erkenntnis: Veränderungen von Sichtweisen führen oft zu Lösungen. Wenn ich an meinen mangelnden Orientierungssinn denke und an den unerschütterlichen Glauben an mein Navigationsgerät im Auto, muss ich allerdings schmunzeln. Es lässt mich aber auch lächeln bei dem Gedanken daran, dass ich schon oft das schöne Sternenbild der Südhalbkugel der Erde bestaunen durfte, welches sich anders präsentiert als das mir bis vor vielen Jahren bekannte. In dem gleichen legendären Jahr 1968, in dem ich eben erst 8 Jahre alt war und von den politischen Entwicklungen nichts mitbekam, sorgte diese tolle Lehrerin, die wir „Frollein Rochell“ nannten, für eine ebenso nachhaltige Erfahrung im Deutschunterricht. Sie forderte uns auf, eine Geschichte zu schreiben. Neben den langweiligen bis dahin anzufertigenden Aufsätzen mit eindeutigen einzuhaltenden textsortenspezifischen Kriterien (Rezepte schreiben, Erlebniserzählung mit Einleitung, Hauptteil, Schluss u.a.) hatte der folgende Schreibauftrag seinen besonderen Reiz. Das gestellte Thema lautete: „Aus dem Tag eines Fünfmarkstücks“. Ich weiß noch, ich fragte nach: „Wie geht das?“ Frollein Rochell meinte: „Na, du bist das Fünfmarkstück. Schreib auf, was du so an einem Tag erlebst“. Und ich schrieb und schrieb, seitenweise und aus der Ich - Perspektive. Es machte unbändigen Spaß, mich in dieses Geldstück hineinzuversetzen und ich erzählte fast sein halbes Leben. Nun gut, es landete sogar in Kalkutta, das weiß ich noch. Zur gleichen Zeit las ich nämlich ein Kinderbuch, dessen Geschichte in Kalkutta spielte. Der Name der Stadt klang für mich nach der großen weiten Welt. Die Autorin des Kinderbuches kam jedoch auch direkt mit erhobenem Zeigefinger daher. Wir sollten ja - vor allen Dingen beim Essen - oft an die armen Kinder auf der Welt denken, es gelang mir und meinen Mitschüler/innen aber nur wenig. Ob es das Fünfmarkstück geschafft hat, weiß ich nicht mehr. Heute wäre der Schreibauftrag von damals dem Konzept des Kreativen Schreibens zuzurechnen, das sich u.a. den vielbeachteten Aspekten von Kaspar Spinner verpflichtet sieht, nämlich der Irritation, der Imagination und der Expression. Allerhand Kompetenzen können dadurch angebahnt werden. Herausfordernd war die Aufgabe, spannend und vermutlich für mich das erste Mal ein Anlass, mich in etwas hineinzuversetzen und deutlich die Perspektive zu wechseln. Das Fünfmarkstück hat nun ausgedient, darf irgendwo auf seine alten Tage rumliegen und sich ausruhen. Vielleicht ist es auch eingeschmolzen worden und wieder als etwas anderes im Umlauf. 1968 führte die Aufforderung, die Perspektive zu wechseln, bei mir zu einer erhöhten Schreibmotivation, heute in meiner Arbeit meist zu unerwarteten interessanten Lösungen. Frollein Rochell, die unsere Ressourcen, die wir als Kinder hatten, im durchgängig wertschätzenden Umgang mit uns so geschickt hervorlockte, verließ die Schule und uns - so habe ich es traurig erlebt - nach gut einem Jahr, heiratete, zog nur ins Nachbardorf, war jedoch dann für uns unendlich weit weg. Ich traf meine damalige Lehrerin, die nun anders heißt, tatsächlich zufällig nach 40 Jahren vor genau drei Jahren ausgerechnet bei der Beerdigung eines Menschen, der uns beiden wichtig war, in meinem Heimatdorf wieder. Wir erkannten uns und es freute uns beide. Es war nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Raum für ein längeres Gespräch. Auf jeden Fall konnte ich ihr bei dieser Gelegenheit persönlich danken. Ja, sie war´s!" Wednesday, December 14. 2011Klug sein wollen und eine peinliche Erkenntnis![]() "Wenn ich mich versuche zu erinnern, fällt mir das genaue Datum nicht mehr ein, nur so ungefähr, dass es 1985 war, im Frühjahr, könnte aber auch später in einem Herbst gewesen sein. Erste aufregende Literatur war zu lesen und neue Erkenntnisse gab es zu verinnerlichen. Ich hatte „Paradoxon und Gegenparadoxon“ von den Mailändern geradezu verschlungen, durcheinander geratenes Wissen über die Welt und die in ihr gelehrte Psychologie folgte meinem Studium am Psychologischen Institut an der FU bei Klaus Holzkamp und anderen Vertreterinnen der „Kritischen Psychologie“. Ein politisches Bekenntnis gegen die naturwissenschaftliche Psychologie war unmittelbares Bedürfnis geworden, wir stellten die Methodenwisenschaften, Forschung und die gelernte Statistik, aber besonders die Diagnostik der Psychopathologie grundsätzlich infrage. Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick, „Ökologie des Geistes“ von Gregory Bateson machten dieser Kritik Beine und das ![]() Das Berliner Institut für Familientherapie hatte sich als BIF gegründet und eine Anlehnung an die „Heidelberger“ und die „Mailänder“ gefunden. Allerdings sollte auch ein kritischer Geist gegenüber den schon damals immer wieder auftauchenden Ideen um die „wahren“ Systemischen Konzepte und deren Vertreterinnen bewahrt bleiben. Um diese Idee lebendig werden zu lassen, waren viele dieser Menschen zu Workshops und Seminaren ans BIF eingeladen, in diesem Jahr auch Gunthard Weber. Zum Thema machte er die Bedeutung von Symptomen im familiären Miteinander, welche Funktion sie haben könnten, welches Gleichgewicht sie herstellen und wie die sogenannten Symptomträger einen wichtigen Beitrag in ihren Familien leisten. Wir sollten uns ein Video von 30 Minuten Länge anschauen und Hypothesen bilden, mit welchem Problem diese Familie ans Heidelberger Institut gekommen sein könnte. In kleineren Gruppen waren alle Seminarteilnehmerinnen eifrig beschäftigt, herauszufinden, was in dieser Familie los sei. In der Auswertung danach kamen so gut wie alle Möglichkeiten vor, Ehekonflikte bei den Eltern, Trennungsabsichten, außereheliche Beziehungen. Über die Tochter wurde spekuliert, sie könnte eine Essstörung haben, der Sohn könnte drogenabhängig sein. Die Mutter war auch für verrückt gehalten worden, also so ein bisschen psychotisch, der Vater wirkte auf einige depressiv, usw. Jede Teilnehmerin wollte auf einmal ganz klug sein und die beste Erkenntnis über diese Familie produzieren. Es gab ganz aufgeregte Diskussion über die Problematik in dieser Familie. Und dann kam die Auflösung durch Gunthard Weber. Das Video zeigte eine Familie, die im Rahmen einer Vergleichsstudie zu Beziehungsmustern in Familien interviewt worden war und es handelte sich um eine ganz „normale“ Familie, die sich in dieser Studie zur Verfügung gestellt hatte, um über sich und ihre Beziehungen ganz „normal“ zu sprechen. Wir alle waren sehr peinlich berührt über unsere Ideen und den ehrgeizigen Antrieb, besonders kluge Analysen machen zu wollen. Mir ist das so sehr in Erinnerung geblieben, dass ich noch heute dieses Gefühl erleben kann, wie sehr ich mich ins Zeug gelegt hatte, auch bei den Klügsten sein zu wollen, um dann diesem peinlichen Vorführeffekt ausgeliefert zu sein. Ein gutes und lang anhaltendes Lehrstück." Tuesday, December 13. 2011Marx, Maturana und die Kunst zirkulären Denkens![]() "Der erste, der mich auf die Spur systemischen – oder wie ich sagen würde: zirkulären – Denkens brachte, war … Karl Marx. Der zweite war ein junger Assistenzarzt in einer Berliner Klinik. Und schließlich dann ein Mann namens Humberto Maturana. Aber der Reihe nach. Es war etwa 1976. Wie viele Andere damals auch las ich Karl Marx. Ich versuchte das Wesen des Geldes zu verstehen. Geld war für Marx: ein in dinglicher Hülle verstecktes gesellschaftliches Verhältnis. Seltsame Ausdrucksweise… Beim Versuch, sie zu ergründen, stieß ich auf folgendes Paradoxon (Kapital Band I, Kapitel 2): „Die Waren müssen sich (..) als Werte realisieren, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können. Andrerseits müssen sie sich als Gebrauchswerte bewähren, bevor sie sich als Werte realisieren können.“Also wie jetzt…?? Die Gedanken Jahre vergingen. Es muss 1983 gewesen sein. Die Ärzte einer Berliner Klinik hatten mich eingeladen, einen Vortrag über „Herzinfarkt und Industriearbeit“ zu halten. Der Hintergrund: Ich hatte am Wissenschaftszentrum Berlin ein empirisches Forschungsprojekt zum Thema „Herz-Kreislauf-Krankheiten und industrielle Arbeitsplätze“ abgeschlossen. In diesem Projekt ging es darum zu zeigen, dass Herzinfarkt keineswegs nur eine „Managerkrankheit“ ist. Es war eines dieser klassischen Projekte aus dem Bereich „Humanisierung der Arbeit“. Das zugrundeliegende Paradigma lautete: „Arbeit macht krank“. Man suchte nach „objektiven“ Arbeitsbedingungen wie Zeitdruck usw. auf der einen Seite; und nach „subjektiven“ Verhaltensmustern wie Typ-A-Verhalten auf der anderen; kurz: nach sog. Risikofaktoren, die Herzinfarkt „machen“. Mir war immer unwohl bei diesem Ansatz. Er sieht sich als „humanistisch“, ist aber blind für die subtile Gewalt, die sich in der ihm eigentümlichen Art des Beobachtens verbirgt. Also versuchte ich, zirkulär zu argumentieren: Arbeitsbedingungen als „in dinglicher Hülle versteckte gesellschaftliche Verhältnisse“ und die damit korrespondierenden Verhaltensmuster. Und nun zu dem Vortrag. Die Ärzte fanden ihn zwar „irgendwie“ interessant, hatten aber, wie zu erwarten, gewisse Rezeptionsprobleme. Am Schluss kam ein junger Assistenzarzt auf mich zu: “also, ich habe ja auch nicht viel verstanden; aber was Sie da sagen, hört sich ganz so an, wie ein Buch, das ich gerade lese.“ Auf meine interessierte Rückfrage nannte er mir einen Titel, der irgendwie spannend, aber zugleich äußerst seltsam klang: „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“. Ein paar Tage später hatte ich das Buch Maturanas in der Hand. Ich war, genau wie die Ärzte, „irgendwie“ fasziniert, verstand aber erst mal genau so viel wie sie bei meinem Vortrag: nämlich (fast) nichts. Damit begann aber ein Lernprozess, der bis heute andauert. Was ich dabei lern(t)e: Maturana zentraler Begriff „Autopoiesis“ zielt nicht auf eine Theorie im klassischen Sinn. Es geht vielmehr darum zu lernen, eine bestimmte Haltung einzunehmen: die Haltung eines Beobachters, der lebendige Zusammenhänge be-greifen will, ohne ihnen durch sein Beobachten Gewalt anzutun. Und dieser Be-griff / diese Haltung erschließt sich uns dann, wenn wir lernen, jene Seite des Erkennens, die wir gewöhnlich ausblenden, immer wieder einzublenden: das vorbegriffliche, sinnlich-ästhetische, körper-nahe Denken, die Welt der inneren Bilder, die wir in unseren Konversationen – mit Händen, Füßen, Mimik und Stimme – fortlaufend gemeinsam erzeugen. Es ist m. E. der große Mangel der Luhmann’schen Systemtheorie, dass sie die Bedeutung dieser Ebene für gesellschaftliche Synthesis (für das, was Gesellschaft zusammenhält) nicht in den Blick bekommt. Dass sie blind ist für die subtilen Mechanismen der Gewalt, die sich in unserem Vergesellschaftungsmodus verbirgt. Insofern ist Maturana für mich heute aktueller denn je." Monday, December 12. 2011systemische Aufstellungen als NebenHauptfach
Wofür das Aufstellen nicht alles gut ist. systemagazin-Leser
![]() "Meine erste wirklich zündende Begegnung mit systemischer Theorie und Praxis fand eher am Rande eines universitären Einführungsseminars in systemische Familientherapie statt. Der Professor, dessen Name ich mittlerweile vergessen habe, erwähnte kurz vor Schluss, dass es als familientherapeutischen Ansatz auch die Aufstellungsarbeit von Bert Hellinger gäbe, und es sehr erstaunlich und lehrreich sei, als Stellvertreter aufgestellt zu werden. Ein schönes Beispiel für die Idee, dass die Bedeutung der Nachricht beim Empfänger entschieden wird: Irgendetwas interessierte mich an dieser Stellvertreter-Idee außerordentlich und so telefonierte ich die lokalen Aufsteller ab, die im örtlichen Stadtmagazin warben. Dort war ich in der Folge immer wieder ein gern gesehener Gast – vor allen Dingen als Mann. In der Tat hat mich diese Arbeit damals sehr fasziniert. Die Beschäftigung damit hat mich zudem über so manche Frustphase des Studiums hinübergerettet. Ich habe sozusagen systemische Aufstellungen als NebenHauptfach (hauptsächlich, aber neben dem Studium) studiert und schließlich sogar meine Diplom-Arbeit über dieses Thema geschrieben. Durch das Stellvertretern ergaben sich außerdem sehr schöne und ermutigende Kontakte mit Therapeuten, die mir heute noch gut im Gedächtnis sind. Für mich war diese Möglichkeit ein großes Glück: Wo hätte ich sonst so direkt Familientherapie und –therapeuten als Außenstehender erleben können? Mittlerweile habe ich mich von Aufstellungen etwas entfernt, nähere mich aber zyklisch immer wieder an und absolviere zurzeit eine „klassische“ systemische Ausbildung. Geblieben ist mir eine entspannte Offenheit, scheinbar widersprüchliche Ideen und Ansätze nebeneinander gelten lassen zu können. Darüber bin ich sehr froh. Und bei der Gelegenheit möchte ich dem Professor von damals für seinen Schmetterlingsflügelschlag danken, der mir letztlich einen schönen kleinen Sturm im Leben beschert hat." Sunday, December 11. 2011eine Frage zart wie eine Feder![]() "Die Frage wer mich oder wie ich zum systemischen Denken und arbeiten gekommen bin, möchte ich mit dieser kleinen Geschichte beantworten: Es war ca 1996/97, ich absolvierte ein Praktikum in einer Psychosozialen Beratungsstelle. Das Team war mit analytisch und systemisch arbeitenden KollegInnen besetzt. Eine der Mitarbeiterinnen arbeitete systemisch und befand sich kurz vor dem Abschluss ihrer Weiterbildung zur systemischen Therapeutin. Um besser zu verstehen wie dies funktioniert zeigte sie mir ein Video aus ihrer Fortbildung, das bei einer sogenannten „Live-Sitzung“ entstand. Die Mitarbeiterin hatte eine Paarberatung vor den Augen der ![]() Es war dann 2004, als ich, mittlerweile systemischer Therapeut, selbst im Kreise einer Fortbildung, zum systemischen Supervisor mit dieser Lehrtherapeutin und –Supervisorin arbeiten durfte. Ich erinnere mich noch heute an viele ihrer Aussagen und ihren wohl auf enormer Erfahrung aufbauenden „Riecher“ für treffende Fragen und aktivierende Interventionen. Eine Erfahrung für mich dabei war und ist, dass eine Frage zart wie eine Feder an ein Thema heranführen kann, aber auch direkt wie ein Schwert eingebracht werden kann, und dementsprechend wirkt. Abschließend kann ich sagen, dass es eine ganz spezielle und bereichernde Methode des Lernens war. Danke an Uschi für die damalige Anleitung. Und an Ulla und Hans: Schön, dass es Lehrende gibt, die Neues ausprobieren." |
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