Thursday, July 28. 2011
Vor einer Woche wurde an dieser Stelle die Rezension des Bandes "Tiefensystemik - Wege aus der Süchtigkeit finden" von Rudolf Klein vorgestellt. Die Autoren des Buches, Leo Gürtler, Urban Studer und Gerhard Scholz haben einen Artikel über ihren Ansatz geschrieben, der auch im Internet zu lesen ist und der erstmals 2007 im von Ulrike Anderssen-Reuster herausgegebenen Band "Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik. Haltung und Methode" im Schattauer-Verlag erschienen. In der Zusammenfassung heißt es: "Dieser Artikel untersucht am Beispiel von Suchttherapie im schweizerischen Suchttherapiezentrum start again die tiefensystemische Bearbeitung von mental- somatischen Modellen. Mit der Tiefensystemik steht ein Instrument bereit, welches auf der Basis von Mitgefühl und Empathie anderen Menschen auf systematisch methodisch kontrollierte Weise hilft, die eigenen mentalen Modelle zu hinterfragen und schrittweise aufzulösen, um die persönliche Entwicklung zu unterstützen. Hierbei steht die Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund. Die Tiefenauseinandersetzung mit den eigenen mentalen Modellen (z.B. mit der eigenen Süchtigkeit) wird durch die transformatorische Praxis von Anapana-sati und Vipassana-Meditation — Achtsamkeit und Weisheit — realisiert. Der Einsatzbereich der Tiefensystemik beschränkt sich jedoch nicht nur auf professionelle Suchttherapie. Vielmehr kann die Tiefensystemik bei angemessener Abstimmung in ganz unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden. Dazu gehören etwa das Gesundheitswesen, Case-Management, Coaching sowie ganz allgemein die Förderung von Potenzialen und Kompetenzen wie z.B. Personalführung oder Talentförderung im Sport." Zum vollständigen Text…
Tuesday, July 26. 2011
 In einem brillanten Essay macht sich der Wiener Architekt und Kulturtheoretiker Georg Franck ("Die Ökonomie der Aufmerksamkeit") im neuen "Merkur" Gedanken über die Dynamik der Stadt als architektonischem Raum und die Möglichkeiten einer nachhaltigen Stadtentwicklung: "Die Architektur spricht zum akustischen Sinn als dem für Enge und Weite, sie spricht zum haptischen Sinn als dem für die Beschaffenheit der Oberflächen, die uns einhüllen, abschirmen und umgeben. Die Architektur spricht ganz besonders zur körperlichen Selbstwahrnehmung und zum leiblichen Selbstgefühl. Die Architektur begegnet uns als selbst körperlichen Wesen in einer Körperlichkeit von derselben Maßstäblichkeit. Die Architektur hüllt uns nicht nur ein, sondern behandelt uns regelrecht. Wie wir uns von ihr behandelt fühlen, so fühlen wir uns in der Architektur. Gut behandelt werden wollen wir sowohl als physische Lebewesen als auch als psychisch erlebende Wesen." Zum vollständigen Text…
Friday, July 22. 2011
Der Zürcher Historiker Peter-Paul Bänziger, der sich mit der Geschichte des Beratungs- und Therapie-Zeitalters und der Sexualitätsgeschichte beschäftigt, hat in einer interessanten Analyse von Briefen an die Ratgeberkolumne "Liebe Marta" die Selbstthematisierung des Körpers und der mit ihm verbundenen Probleme untersucht: "Auf der Basis von Briefen an die Ratgeberkolumne «Liebe Marta» wird untersucht, wie die Ratsuchenden ihre Körper problematisieren. Dabei zeigt sich, dass die Kur rein medizinisch indizierter Krankheiten kaum eine Rolle spielte. Ausnahmen sind hauptsächlich in jenen Fällen zu finden, wo die bisherigen Therapieversuche erfolglos blieben oder keine Therapie möglich war. Hier fungierte die «Liebe Marta» als Beraterin im Feld der zahlreichen und widersprüchlichen therapeutischen Angebote. In den meisten anderen Fällen hingegen waren die Körper zum Problem geworden, weil sie nicht den jeweils vorherrschenden Normen entsprachen. Sie wurden als Gegenstand sozialer Anforderungen thematisiert, was sich an Briefen zu «Inter-» und «Transsexualität» genau so zeigen lässt, wie an jenen Texten, die ästhetische Vorstellungen thematisieren. Es ging den meisten Personen jedoch nicht darum, einen schöneren oder besseren Körper als die anderen zu haben, sondern einen vergleichbaren. Den eigenen Körper zu optimieren, bedeutet in diesen Fällen also lediglich, ein gesellschaftlich bedingtes Leiden zu kurieren." Zum vollständigen Text…
Wednesday, July 13. 2011
 In einem sehr lesbaren Aufsatz, den Heiko Kleve auf seiner website veröffentlicht hat, nähert er sich dem Thema Komplexität in einer funktional differenzierten Gesellschaft aus systemtheoretischer Perspektive: "Wie kann Komplexität in einer modernen und das heißt einer nach funktionalen Kriterien differenzierten Gesellschaft gestaltet werden? Wie ist Vernetzung unterschiedlicher, selbst wieder komplexer Systeme in dieser Gesellschaft, insbesondere im Kontext psycho-sozialer Hilfen möglich? Das sind die beiden zentralen Fragen, die hier nicht gänzlich beantwortet, aber doch einer Klärung unterzogen werden sollen. Dazu ist es zunächst erforderlich, den Begriff „Komplexität“ zu diskutieren. Dies soll ausgehend von den zahlreichen Namen geschehen, die der modernen Gesellschaft gegeben werden. So hat Armin Pongs kurz vor Eintritt in das 21. Jahrhundert bekannten Soziologen die Frage gestellt, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben und zehn Antworten zusammen getragen. Demnach könnten wir sagen, dass wir uns in einer Risikogesellschaft (Ulrich Beck), einer postindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell), einer Bürgergesellschaft (Ralf Dahrendorf), einer Multioptionsgesellschaft (Peter Gross), einer postmodernen Gesellschaft (Ronald Inglehart), einer Wissensgesellschaft (Karin Knorr-Cetina), einer multikulturellen Gesellschaft (Claus Leggewie), einer Arbeitsgesellschaft (Claus Offe), einer Mediengesellschaft (Neil Postmann) oder einer Erlebnisgesellschaft (Gerhard Schulze) bewegen. Mit dieser Vielzahl von Gesellschaftsnamen, die wir mit Bezug auf weitere Soziologen und ihrer Theorien noch erweitern könnten, handeln wir uns bereits das ein, was gemeinhin als Komplexität bezeichnet wird. In einem Kontext von begrenzter Zeit (etwa in einem Vortrag) oder von eingeschränktem Raum (etwa in einem Artikel) können nicht alle genannten Begriffe untersucht werden – deren Anzahl ist zu groß. Deshalb müssen wir entscheiden, welche Begriffe wir näher beleuchten, welche Auswahl/Selektion wir also vornehmen wollen. Und diese Selektion verweist auf Kontingenz: Sie könnte im gegebenen Möglichkeitsrahmen unterschiedlich ausfallen, jene oder andere Begriffe könnten ausgewählt werden. Ob die Wahl, die getroffen wurde, dann jedoch passend ist, kann zumeist erst im Nachhinein eingeschätzt werden – erst dann, wenn wir bewerten können, ob die Ergebnisse, die wir mit der Wahlentscheidung intendierten, so sind wie erwünscht oder ob sie unbefriedigend bleiben oder gar mit nicht gewollten Nebeneffekten einhergehen, die die getroffene Wahl infrage stellen." Am Beispiel der Plagiatsarbeit von zu Guttenberg zeigt Kleve, dass Versuche, soziale Phänomene mit dem Theorem der Funktionalen Differenzierung alleine in den Griff bekommen zu wollen, aber als unterkomplex zu kurz greifen. In der Mehrzahl gesellschaftlich relevanter Prozesse tauchen Vernetzungsphänomene auf, die die Begrenzung von Funktionssystemen überschreiten. Dies gilt vor allem auch für die Prozesse in der Bewältigung sozialer Probleme, die mit Fachspezialistentum allein nicht gelöst werden können. Zum vollständigen Text…
Monday, July 11. 2011
 Vor einigen Wochen war an dieser Stelle ein Vorabdruck aus Peter Fuchs' neuem Buch "Die Verwaltung der vagen Dinge" (Zur Zukunft der Psychotherapie) zu lesen. Im Jahre 2000 erschien von ihm in Koproduktion mit Enrico Mahler in der Zeitschrift "Soziale Systeme" ein komplexer Text zur "Form und Funktion von Beratung", der an der "alteuropäischen" Unterscheidung von Rat und Tat ansetzt und die Beratung nicht als gesellschaftliches Funktionssystem analysiert (wie es ja häufig geschieht), sondern als als "ein Schema der Kommunikation, das in allen gesellschaftlichen Kontexten anwählbar geworden ist", dessen Funktion unter anderem die "Ausbremsung reflexiver Temporalisierung" ist, was wiederum erlaubt, die Tat respektive das Handeln der zu Beratenden zu verzögern. In der Einleitung heißt es launig: "Die moderne Gesellschaft erzeugt in einem hohen Masse das Phänomen der Beratung. Zumindest in den Kern- und Schlüsselzonen funktionaler Differenzierung wird kaum jemand den Beratungsangeboten entkommen, die von Ernährungs- und Gesundheitsberatung über Klimakteriumsproblemberatung für Männer in den Endvierzigern, von Ehe- über Partnerschaftsberatung bis hin zu Unternehmens- und Politikberatung reichen und insofern längst reflexiv geworden sind, als die Beratung ihrerseits beraten werden kann durch eigens dafür installierte Beraterberatungen.[1] Bereiche des Helfens und des Heilens (Soziale Arbeit etwa oder systemisch inspirierte Familientherapie) definieren ihre Tätigkeiten seit einiger Zeit als Beraten und scheinen damit, wenn man auf einschlägige Studiengänge und deren Ausstattung mit Lehrgebieten achtet, nicht gerade wenig Erfolg zu haben.[2] Unter diesen Bedingungen läßt sich die moderne Gesellschaft, wenn man auf summarische Kennzeichnungen Wert legt, als Beratungsgesellschaft beschreiben (Fuchs 1994a). Es könnte angesichts dieser Lage aber auch nützlich sein, die Frage zu stellen, was durch Beratung unterschieden wird und wovon sie sich unterscheidet. Wir fragen damit nach der Form der Beratung. Die Annahme lautet, dass diese Form sich als ein zeitbasiertes Schema dem Medium der Kommunikation einschreibt und unter bestimmten sozialen Voraussetzungen doppelt plausibel wird: als anschlussfähige Kommunikation eines Aufschubs und als Option für Leute und Organisationen.[3] Der Grund dafür ist aber nicht unbedingt, dass Beratung als Beratung funktioniert." Der Text ist seit kurzem auch online zu lesen, und zwar hier…
Friday, July 8. 2011
 Mit seinem Buch Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ ist der französische Soziologe Alain Ehrenberg 2004 auch einem deutschen Publikum bekannt geworden. Darin erklärt er den Aufstieg der Depression zur Volkskrankheit mit den zunehmenden inneren und äußeren Anforderungen, denen die Menschen im Zeitalter des „Flexiblen Kapitalismus“ in ihren Arbeitsprozessen und Beschäftigungsverhältnissen immer stärker ausgesetzt sind. Rudi Schmiede, Professor für Soziologie an der TU Darmstadt (Foto: ifs-tu.darmstadt.de) hat in einem 2011 von Cornelia Koppetsch im VS-Verlag herausgegebenen Sammelband „ Die Innenwelten des Kapitalismus“ einen Aufsatz mit dem Titel „Macht Arbeit depressiv? Psychische Erkrankungen im flexiblen Kapitalismus“ verfasst, in dem er Ehrenbergs These bekräftigt: „Was folgt aus dieser Diagnose? Für die wissenschaftlichen Bemühungen lässt sich das Postulat formulieren, dass die Arbeits-, Organisations-, Industrie- und Technikforschung ihren Blick stärker auf das Individuum inihrem jeweiligen Untersuchungsfeld richten und weiterentwickeln sollte. Oft vernachlässigte Bereiche der „Innenwelten des Kapitalismus“ wie z.B. die im Kontext von Zielvereinbarungen oder von Projektarbeit veränderten Entlohnungssysteme oder die Vielfalt der (Weiter-)Bildungssysteme und -wege und die damit zusammenhängenden Karrierewege verdienen erhöhte Aufmerksamkeit. Ferner ist die biographische Dimension von Arbeit und Beschäftigung in der Forschung nach wie vor unterbelichtet. Die Forschung müsste deutlich stärker als bisher von der Erkenntnis ausgehen, dass die Wirksamkeit der beschriebenen disziplinierenden, prägenden und potentiell pathogenen Einflussfaktoren direkt mit dem Grad der Unmittelbarkeit der ökonomische markt- und machtvermittelten Durchgriffe des Weltmarkts auf die Individuen, Arbeitsgruppen oder Betriebseinheiten zusammenhängt. Damit sind auch Folgerungen für die Gestaltung der Realität angesprochen: Jede Strategie zur Entkoppelung oder zumindest Dämpfung dieser Unmittelbarkeit ist förderlich, um den Druck auf die Individuen zu vermindern.“ Der Aufsatz ist auch im Internet zu lesen, und zwar hier…
Thursday, July 7. 2011
 1988 erschien erstmals die deutsche Fassung von "Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche" des amerikanischen Psychologen Julian Jaynes, in dem dieser die hochspekulative These vertritt, das Entstehen des Bewusstseins gehe mit dem Zusammenbruch der von ihm so genannten "bikameralen Psyche" einher. "Die Menschen in der vorhomerischen Zeit hatten, und das ist die zweite Hauptthese von Jaynes, einen "Zwei-Kammer-Geist", einen ausführenden und einen befehlenden, beide nicht-bewusst. In Krisenzeiten, wenn eine Situation eine Entscheidung erforderte, "halluzinierte" der ausführende Geist die Stimme von Göttern, die ihm sagte, was zu tun sei. Die Entstehung der bikameralen Zivilisation setzt Jaynes in die Zeit der Entstehung der ersten Städte, um das Jahr 9000 v. Chr. Zivilisation, sagt Jaynes, ist die "Kunst in Städten zu leben, in denen nicht jeder jeden kennt". Für das Funktionieren dieser Gesellschaften, seien die halluzinierten Stimmen von Königen und/oder Göttern notwendig gewesen. Der umfangreichste Teil des Buches versucht historische Belege für diese zweite These zu liefern. Die Krise, die durch das Verschwinden der Götter (möglicherweise mit hervorgerufen durch das Aufkommen von Schrift) hervorgerufen wurde, mündete darin, dass die Menschen ein Bewusstsein entwickelten" (Wikipedia). Das Buch ist spannend geschrieben und trotz seiner spekulativen Anlage immer noch sehr lesenswert. Jürgen Kriz hat hierzu angemerkt: "Hier reichen eigentlich die ersten 120 Seiten - diese sind aber für mich die zentralste phänomenologische Darstellung zum Thema Bewußtsein-Sprache-“Welt“, und z.B. ein “muß“ zum Verständnis der (auch für den systemischen Ansatz zentralen) “Narrationen“. " (in: Levold, T. (2000): Zurück in die Zukunft. 149 Bücher aus dem letzten Jahrhundert, die Systemische Therapeuten und Therapeutinnen auch zukünftig nicht vergessen – beziehungsweise noch lesen – sollten. System Familie 13(1), 84-94). Leider ist die Taschenbuchausgabe vergriffen und bei Amazon nur noch gebraucht zu einem Vielfachen des Preises erhältlich. Allerdings lässt sich der gesamte Text des Buches auch im Internet auf den Seiten der Julian Jaynes Society nachlesen, und zwar hier…
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