Sunday, January 31. 2010
"Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für einen Übertreiber halten, muss ich Ihnen sagen, dass ich es als einen totalitären Charakterzug unserer Zeit empfinde, dass wir das Nichtverstehen nicht ertragen, dass wir ihm gegenüber keine Toleranz aufbringen, dass wir es übertünchen, verschleiern, ausrotten, wo wir nur können. Dass wir - und da sind wir Übersetzer noch die harmlosesten - aus dem Verstanden-werden-wollen, Verstanden-werden-müssen die Ideologie unserer Zeit gemacht haben, deren krasseste Auswirkung der Raubbau an allem ist, was im medialen Diskurs eventuell schwierig und nicht allgemeinverständlich daherkommt. Dass, sobald uns einer etwas mitteilt oder vorführt, was wir nicht gleich verstehen, wir dies als Affront zu deuten geneigt sind. Schalten wir den Fernseher an, und wir bekommen die ganze Welt als verstandene präsentiert. Und wenn wir das oft genug machen, wenn uns ständig alles als bereits Verstandenes vorgeführt wird, werden wir naturgemäß unleidlich gegenüber allem Unverstandenen, sei es ein Wort in einem alten Text, sei es eine Frau, die eine Kleidung trägt, die uns befremdet. Das Diktat des Verstehens reicht bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wer sein Verhalten nicht erklären kann, steht gesellschaftlich auf verlorenem Posten, und ein Freund, dem wir sagen, wir verstünden ihn einfach nicht, wird bald keiner mehr sein. Haben wir nicht, so die herrschende Logik, einen Anspruch darauf, alles zu verstehen, nachdem wir bereits so unglaublich viel verstanden haben, vom Atom bis zum Gen, vom Unbewussten bis zur Entstehung der Sterne?" (In: "Wir wollen sofort verstehen. Zur Übersetzbarkeit des Islam", FR vom 10.12.2009)
Thursday, January 28. 2010
 Heute wäre Don D. Jackson, einer der wichtigsten Pioniere der Familientherapie, Psychiater und Gründer des Mental Research Institute in Palo Alto, 90 Jahre alt geworden. Er starb viel zu früh, einen Tag nach seinem 48. Geburtstag, am 29.1.1968. Auf der "Don D. Jackson Memorial Conference" hielt Nathan Ackerman eine Rede auf Jackson, in dem er die ebenso unorthodoxe wie unabhängige, aber auch ein bisschen einsame Position des Mavericks beschrieb, die Jackson innehatte: "If ever there was a maverick in psychiatry, Don was it. He was the near perfect epitome of all the complexities of a maverick. He had all the gifts, all the oddities, the strangenesses and the aloneness of a maverick. Wherever he went, he jolted his colleagues out of their comfort and complacency and they liked it. His scientific skepticism was his hallmark. Again and again, he asked, "How do you know?"; "Suppose we take the same problem, turn it inside out or upside down and re-examine it in a different way". Yet he had no urge to rebel for the sake of rebelling. He entered the fray of scientific debate, armed with new observations, searching for new and more elegant syntheses. In the quest for truth, he was ever-ready to put new hypotheses to the test. In every sense, he was the living symbol of what Justice Douglas called "His majesty's loyal opposition". His very rebellion added to the strength, wisdom, and leadership of his elders. His soul was possessed; he had a mission and he pursued it to the end." (Fam Proc 9, 1970, S. 117). Zum Gedenken an Don Jackson hier das Zitat des Tages von ihm, aus einem programmatischen Aufsatz "The Individual and the Larger Contexts" aus dem Jahre 1967 (Fam Proc 6, s. 139): "We view symptoms, defenses, character structure, and personality as terms describing the individual's typical interactions which occur in response to a particular interpersonal context, rather than as intra-psychic entities. Since the family is the most influential learning context, surely a more detailed study of family process will yield valuable clues to the etiology of such typical modes of interaction. Whether one thinks in terms of "role," "tactics," or "behavior repertoire," it is obvious that the individual is shaped by, and in turn helps to shape, his family. This may not at first appear to be such a startlingly new approach but rather the most commonplace social psychology or, at best merely a shift of emphasis, an accentuation of ideas which are implicit in many of the great theories of contemporary behavioral science which refer to "interaction," "relationships," etc. But it has been our experience, which I want to share with you, that when one begins to approach or even gather the data, it makes all the difference in the world exactly where the primary emphasis lies. One finds oneself almost immediately faced with certain conceptual watersheds, certain discontinuities between interactional data and individual theories."
Tuesday, January 19. 2010
 "Wie steht es nun mit Organisationen? Sind auch Organisationen temporalisierte soziale Systeme, die sich über die Reproduktion spezifischer Elementarereignisse reproduzieren und über der rekursiven Vernetzung dieser Elementarereignisse schließen? Sind Organisationen autopoietische Systeme, die sich von ihrer Umwelt abkoppeln und anhand des Ausweises eigener Strukturen ausdifferenzieren? Die basale Operation der Entscheidung erfüllt alle Forderungen, die man an ein autopoietisches Element stellen kann. Entscheidungen sind Kommumkationen, die den Mitteilungsakt herauspräparieren zur Spezifizierung von Anschlußoperationen, über deren Konditionen der Informationsakt Auskunft gibt. Eine Entscheidung wird verstanden, wenn diese Engführung einer kommunikativen Situation auf nur noch wenige und in Entscheidungsprogrammen unter Umständen vorab festgelegte Anschlußentscheidungen verstanden wird. Entscheidungen sind somit Kommunikationen, die sich als Grundelemente von Zweck- und Konditionalprogrammen vor allem darum eignen, weil im Anschluß an Entscheidungen fast nur noch Entscheidungen gefällt werden können. Organisationen sind soziale Systeme, die sich in diesem Sog der Entscheidungen installieren, in dem auch beliebige andere Kommunikationen fast immer als Entscheidungen ausgelegt werden können, an die andere Entscheidungen angeschlossen werden können." (In: "Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008 - Neuauflage [1991]).
Wednesday, January 13. 2010
 "62. In den verschiedenen Relativismen werden die universalen Wahr-Falsch-Unterscheidungen entweder relativiert zu »wahr/falsch für …« oder ersetzt durch Unterscheidungen wie: »hinlänglich gerechtfertigt« vs. »nicht hinlänglich gerechtfertigt«, »viabel/nicht viabel«, »passend/nicht passend« oder »angemessen/unangemessen«. 63. Jeder relativistische Bezugrahmen muss zumindest soweit gefasst werden, dass in ihm Platz für Meinungsverschiedenheiten bleibt: dass also ein X für den Einen so sein kann und für den Anderen anders. Es ist trivial, dass jeder relativistische Bezugrahmen Raum lassen muss für die Gedanken, die in ihm auftreten. 64. Ein Problem, das die Relativisten/Konstruktivisten nicht lösen: Wie geschieht der Übergang von der Konstruktion einer Welt-1 zu ihrer Interpretation? Die Unbestimmtheit des Übergangs ermöglicht es im Konfliktfall, etwaige Gegenauffassungen entweder als falsch, aber zum Framework gehörig, zu diskreditieren - das hätte die unliebsame Konsequenz, dass das Framework wahre und falsche Auffassungen vereint - oder die Gegenposition als falsch in ein anderes Framework zu verweisen, womit sie aufhört, Gegenposition zu sein. Die erste Möglichkeit führt zur Frage, wie überhaupt vom Framework aus noch zwischen wahren und falschen Beschreibungen unterschieden werden kann. Die zweite Möglichkeit kann nicht uneingeschränkt realisiert werden, sonst verliert der Relativismus/die relativistische Welt-1 jeden Halt: Wenn in einer Welt-1 nur konsensuelle Auffassungen möglich sind, dann entspricht jede konfligierende Auffassung einer anderen Welt und für Konflikte ist kein Platz. 65. Auch der radikalste Relativismus/Konstruktivismus macht Halt vor einer extremen Vorgangsweise derart, dass durch unser Reden ständig »parallel« dazu Objekte oder gar Welten hervorgebracht werden. Eine solche halt-lose Position, in der jeder Zungenschlag und Augenblick ein neues Versum hervorbringt, würde sogar den Homo-mensura-Satz (und jeden Solipsismus) überbieten. Eine Vorgangsweise, die weder die Resistenz eines »Ich« noch anderer Objekte gegen Beschreibungen anerkennen würde, hätte kein Maß und kein Ziel. 66. Der Homo-mensura-Satz bestimmt den Menschen zum Kriterium für die Dinge - wenn schon nicht, dass sie sind, so doch zumindest, wie sie sind. Der Mensch als Kriterium und Instanz ist dem Relativismus entzogen. Um als Instanz über das Sein oder zumindest das So-Sein der Dinge urteilen zu können, muss der Mensch eine Identität über den momentanen Zustand hinaus besitzen, in dem sein Urteil fällt. Er muss mehr sein als nur der Mensch-zum-Zeitpunkt-eines-Urteils. Sein Urteil muss für ihn eine Gültigkeit über den Urteilsspruch hinaus haben, sonst könnte von einer Identität des Menschen nicht die Rede sein." (In: Die Flucht aus der Beliebigkeit. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2001, 58ff)
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