Monday, December 21. 2009
"Funktionale Differenzierung produziert (…) genau jenen Widerspruch, auf dessen Hintergrund nichtintendierte Handlungsfolgen politisiert werden können. Unter funktionaler Differenzierung versteht man klassisch ein gesellschaftliches Differenzierungsprinzip, das besondere Mechanismen der Vergesellschaftung von Individuen etabliert. Inklusion, also die Einbeziehung von Individuen in gesellschaftliche Zusammenhänge etwa über soziale Rollen, wird in funktional differenzierten Gesellschaften durch Funktionssysteme organisiert. Der Wohlfahrtsstaat lässt sich in diesem Zusammenhang als Institution auffassen, die versucht, ein gewisses Maß an Inklusion dauerhaft abzusichern. Zugleich aber behalten die Funktionssysteme ihre Autonomie insofern, als sie jeweils eigene Kriterien für Inklusion und Exklusion, d.h. für soziale Berücksichtigung und Ausgrenzung entwickeln. Eine solche funktionssystemspezifische Steuerung von Inklusion und Exklusion hat zwei Folgen: Auf der einen Seite generiert sie das Postulat eines Inklusionsuniversalismus, weil niemand mehr aufgrund seiner Lebenslage und seines sozialen Status ausgeschlossen werden sollte. Insofern zielt funktionale Differenzierung ihrem Prinzip nach auf Allinklusion (…). Damit einher gehen relativ anspruchsvolle, legitime Erwartungen, an gesellschaftlichen Leistungen teilhaben zu können. Zugleich entwickeln sich egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen, die davon ausgehen, dass bei der Inklusion in Funktionssysteme alle Gesellschaftsmitglieder gleiche Chancen haben sollten. Auf der anderen Seite entsteht gerade dadurch, dass Inklusion auf autonome Teilsysteme übergeht, systembedingter Ausschluss. Funktionale Differenzierung verstärkt in diesem Sinne das Problem sozialer Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung. Wir haben es also mit einer gleichzeitigen Universalisierung und Spezialisierung von Inklusion zu tun. Der paradoxe Effekt dieses Widerspruchs ist Exklusion aufgrund (der systemspezifischen Steuerung) von Inklusion. Die Enttäuschung, die von diesem Effekt ausgeht, bildet den Bodensatz für die Entstehung von Konflikten. Allerdings hat die Differenzierungstheorie und insbesondere die Systemtheorie genau diesen Zusammenhang zwischen sozialer Exklusion und sozialem Konflikt nicht nur weitgehend ignoriert, sie ist auch konzeptionell aufgrund eines sehr engen Exklusionsbegriffs nicht ohne weiteres in der Lage, die Frage nach der Konfliktträchtigkeit sozialer Exklusion zu beantworten." (In: Exklusion als Macht. Zu den Bedingungen der Konfliktträchtigkeit sozialer Ausgrenzung. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 7 (2005), Heft 2, S. 41-67.)
Monday, December 14. 2009
 Franziska Becker, Berlinerin und Geschäftsführerin der Systemischen Gesellschaft, war 1989 noch Auszubildende und Jugendvertreterin im Betriebsrat, für den sie am 9.11. in Travemünde tätig war. Nachdem sie zurückkam, verbrachte sie die Nacht in den Straßen Berlins.  "Im frühen Morgengrauen lief ich weiter zur Mauer am Brandenburger Tor. Es war nun schon recht voll, immer mehr Menschen kamen. Langsam rückten die Medienvertreter an. Auf die Mauer wollte ich unbedingt; solch ein historisches Moment wollte ich mir keinesfalls entgehen lassen. Heute oder nie. Der erst Sekt wurde getrunken, das Glück war nicht in Worte zu fassen. Dort blieb ich bis sieben Uhr, weil ich in die Berufsschule musste. Sie war unweit, nur ein paar Meter weiter in Moabit. Als ich dort ankam, war alles wie immer, nur anders. Ich war schockiert. Hören die Leute kein Radio, sehen kein TV? Nur mein Lieblings-Fachkundelehrer stand am Eingang und war völlig emotionalisiert, konnte die Tränen nicht zurückhalten. Mit ihm liefen wir zur Invalidenstraße um mal zu „gucken“, um „Trabbis zu klopfen“ (bemerkenswert sind die vielen neuen Ossi-Wessi-geprägten Worte, die zu der Zeit entstanden)." Zum Adventskalender…
Saturday, December 12. 2009
 "Der emotionale Konstruktivismus geht davon aus, dass wir uns die Welt mit unseren Deutungen und unseren emotionalen Bewertungen so konstruieren, wie wir sie auszuhalten vermögen (…). Und wirklich dauerhaft auszuhalten ist zumeist nur das, was wir bereits kennen oder zu kennen glauben – ein Sachverhalt, der gerade für innovative Kontexte einen erheblichen Kompetenzentwicklungsaufwand mit sich bringt. Es spricht viel dafür, dass der Mensch nur das erkennen kann, was er bereits kennt, weshalb ihm in seinem Leben auch stets Ähnliches widerfährt – zumindest verarbeitet er Neues zumeist im Kontext seiner vertrauten Gewissheiten. Die Wirkungen dieser Festlegungen im Denken, Wahrnehmen und Kommunizieren zu verstehen, ist Thema eines Emotionalen Konstruktivismus. Diesem geht es um eine ganzheitliche Sicht des menschlichen Handelns und er löst sich von der Illusion, dass es vornehmlich Gedanken, Argumente und Konzepte – kurz: „Sinn“ – seien, welchen wir durch unser Verhalten Ausdruck verleihen. Der klärenden Feststellung von Max Weber, der zufolge Menschen stets „sinnhaft motiviert“ handeln, wenn sie handeln, stellt der Emotionale Konstruktivismus die These von der Gewissheit als einer Art Basisemotion ergänzend zur Seite. Diese besagt, dass „Gewissheit“ eine emotionale Balance des Subjekts bezeichnet. Man fühlt sich im Recht (man „hat“ es nicht), man spürt, ob etwas stimmt oder „richtig“ ist, d.h. zur eigenen Richtung passt. Und schließlich bezeichnen wir als „Gewissen“ eine innere Instanz, welche uns deutlich und mit einer emotionalen Entschiedenheit sagt, was wir dürfen und auszuhalten vermögen und was nicht, wollen wir kein „schlechtes Gewissen“ bekommen. Gewissen steht auch für eine unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten unser Verhalten bestimmende Festgelegtheit, über die wir nicht diskutieren wollen. Unser Gewissen steht nicht zur Disposition, wir können es lediglich – und damit uns selbst – strapazieren. Was wirklich gut und böse ist, können wir nicht wissen, wir können es bloß „gewissen“ – ein Wortspiel, welches uns nochmals eindrücklich die Begrenzheiten einer kognitiven Verengung in vielen Versuchen, das Handeln und das interaktive Verhalten der Menschen angemessen zu verstehen, vor Augen zu führen vermag." (In: "Seit wann haben Sie das? Carl Auer Verlag, Heidelberg 2009, S. 39")
Thursday, December 10. 2009
"Zum Kern von Wissenschaft gehört Kritik, die keine Tabus kennt. Sie ist der Lebensquell einer jeden Wissenschaft. Es gilt, Schlussfolgerungen transparent zu machen sowie plausible Argumente auf ihre Geltungsbasis hin zu überprüfen. Kritik erfordert und ermöglicht, Distanz zu praktischen Urteilen und Vorlieben zu nehmen, zu lieb gewonnenen Thesen. Kritik ist kein Privileg der Soziologie oder der Geisteswissenschaften, sondern macht jede Wissenschaft im Innersten aus. Wissenschaft tritt immer mit Verallgemeinerungsanspruch auf, interessiert sich in erster Linie für das Allgemeine, das sie auch im Besonderen sucht. Aber jedes Besondere, das die Geltung des Allgemeinen in Frage stellt, reicht aus, um eine Theorie zum Einsturz zu bringen. Wir können im strengen Sinne sagen: Wo keine Kritik erfolgt, da ist auch keine Wissenschaft, dort erfolgt keine Überprüfung von Schlussfolgerungen und Theorien. Kritik steht also im Zentrum der Soziologie als Wissenschaft; dazu gehört sowohl die methodische Kritik von Alltagswissen, als auch die von wissenschaftlichen Annahmen, Überzeugungen und Erklärungsmodellen. Wie ist es um diese unerlässliche Kritik bestellt? Sie sollte nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch auf Tagungen möglich sein. Das Zeitregime solcher Veranstaltungen ist jedoch sehr rigide. Lassen schon Vorträge von zwanzig Minuten kaum Spielraum, ein Problem angemessen darzulegen, so verhindern Diskussionszeiten von zehn, gar nur fünf Minuten eine Auseinandersetzung mit einer Forschungsfrage vollends. Dabei könnte kollegiale Kritik sich zum Wohle des Fortschritts der Wissenschaft entfalten. Sie macht es zudem auch dem interessierten Laien möglich, sich am wissenschaftlichen Streit zu beteiligen, wodurch er wie selbstverständlich auf die Logik des Arguments verpflichtet wird. Wenn die Kollegialität lebendig ist, bedarf es zur Einhaltung wissenschaftlicher Regeln auch keiner aufwendigen Kontrollen und Evaluationen. Wird auf Tagungen diese Kultur der Kritik nicht mehr gepflegt, geraten sie in Gefahr, sich in Instrumente einer "Karrierepolitik" zu verwandeln: zur Plattform für Auftritte, um bekannt zu werden. Dies hat eine gewisse Beliebigkeit befördert: Der Verpflichtung zur Kritik wird etwa mit dem Hinweis ausgewichen, man gehöre einer anderen Schule an." (In: "Soziologie - Gegenwart und Zukunft einer Wissenschaft", In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34-35/2005, S. 24)
Wednesday, December 9. 2009
 "die welt, in der der mensch bislang lebte, war die ihn umgebende natur, der kosmos, in dem er stand. und philosophie war die frage, wie wir mit diesem kosmos verbunden sind. erst seit etwas mehr als einem jahrhundert beschäftigt sich die philosophie mit den organisationsformen des gesellschaftlichen lebens, darunter den wirtschaftlichen bedingungen seiner existenz. es gibt eine philosophie der arbeit, eine philosophie der produktion, eine philosophie der technik gibt es nicht, keine philosophie. wie technik entsteht, entworfen, organisiert, vermarktet wird und verantwortet werden kann. wir gefallen uns in einer phi- losophie der erkenntnis und des wissens. eine philosophie des machens und des entwurfs steht aus. der mensch ist umstellt nicht mehr von natur und welt, sondern von dem, was er gemacht und entworfen hat. gleichwohl wird das machen herabgesetzt. ein denker ist etwas besseres als ein macher, wer organisiert, ist mehr als wer produziert, der manager ist mehr als der ingenieur, die universität ist mehr als die technische hochschule, der bankier ist mehr als der fabrikant. ein handwerker ist ohnehin abgehängt. und wer gar selbst sein gemüse zieht, wird belächelt. man kann es doch kaufen. auf hegel und marx geht zwar das heute allgemeine bewußtsein zurück, daß der mensch mitglied der gesellschaft erst wird durch sein handeln und seine tätigkeit. aber zwischen tätigkeit, arbeiten und machen sind essen- tielle unterschiede. die meisten menschen haben nur einen job, aber keine arbeit mehr, und von dem, der arbeitet, ist noch lange nicht gesagt, daß er etwas macht. machen ist ein selbst zu verantwortendes tun, an dem jemand mit konzept, entwurf, ausführung und überprüfung beteiligt ist. das, was er macht, steht unter seiner kontrolle und verantwortung und ist teil seiner selbst. machen ist die verlängerung des ich in die selbstorgani- sierte welt hinaus. im machen erfüllt sich die person. und dies in dem maße, als ein eigenes konzept, ein eigener entwurf beteiligt ist und in einer ständigen rückkoppelung aus dem machen erkenntnisse gewonnen werden für die korrektur von konzept und entwurf. nur das schöpferische machen ist wirkliche arbeit, ist entfaltung der person. der entwurf ist das signum der kreativität, durch ihn wird aktivismus und job erst human. eine humane welt setzt eine arbeit und ein machen vor- aus, die durch den entwurf gekennzeichnet sind, weil im entwurf das motiv der person erscheint." (In: "die welt als entwurf". ernst & sohn, berlin 1991, S. 191f.)
Monday, December 7. 2009
"  Kooperation und Vertrauen werden häufig in engstem Zusammenhang genannt. Oft bleibt jedoch unklar, ob Vertrauen ein Ergebnis von Kooperation oder dessen Bedingung ist. Eine minimale Ausprägung von Kooperationen und Vertrauen in genau diese Kooperationen ist unverzichtbar, damit soziales Handeln überhaupt möglich wird25. An irgendeiner Stelle müssen wir die Relativierungen beenden, einstweilig gültige Markierungen setzen und uns daran messen lassen. Im täglichen Handeln (dies ist von Reflexionen desselben zu unterscheiden) haben wir keine Alternative. Wir kommen grundsätzlich über Trial und Error nicht hinaus. Wir müssen so tun als ob wir die Zeichen der Interaktionsprozesse valide lesen könnten. Es gilt sicherzustellen, dass die Zeichen zur Verfügung stehen (z.B. Regeln), dass diese gelesen werden und die Anderen erfahren, dass man das Regelwerk kennt. Des Weiteren ist (ohne Droh- gebärden!) klar zu kommunizieren, dass Vertrauen als absolut unverzichtbares Gut angesehen wird. Nur indem auf Vertrauen bestanden wird, können Andere mit Zuversicht davon ausgehen, dass genau dies die ihm gebührende Rolle spielt. Dies wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich zur Aussage Vertrauen wäre nicht einklagbar. Zur Verdeutlichung: Wenn Vertrauen ein konstituierendes Merkmal erfolgreicher Coachingprozesse darstellt, aber nicht kommunikativ herbeigelockt werden kann, gibt es die Möglichkeit des Rückzuges durch den Coach. Wenn die Zuversicht und das Vertrau- en unserer Kunden wichtig sind, gilt es dies intern zu verdeutlichen und kompromisslos darauf zu bestehen. Wer bei diesem Teil des Aushandelns nicht gesehen wird, bleibt hinsichtlich der Frage im Dunkeln, wieviel Wert er Zuversicht und Vertrauen beimisst. Einmal gedreht lautet die Empfehlung für Kunden: Vertraue keinem Coach, der nicht auf Vertrauen und Zuversicht setzt!" (In: "Business-Coaching. Der Coach als Mountain Guide und Hofnarr". VS-Verlag, Wiesbaden 2009, S. 72f.)
Saturday, December 5. 2009
 "Liebe ist ein Ereignis, aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick. Die Ehe als Institution der Gesellschaft zerreibt dies Ereignis, wie alle Institutionen die Ereignisse aufzehren, auf denen sie gegründet waren. Institutionen, die sich Ereignisse gründen, halten der Zeit so lange stand, als die Ereignisse nicht völlig aufgezehrt sind. Vor solchem Verzehrt-werden sind nur Institutionen sicher, die auf Gesetzen basieren. Solange die Ehe, immer zweideutig in dieser Hinsicht, als unscheidbar galt, war sie doch wesentlich auf dem Gesetz, nicht auf dem Ereignis der Liebe gegründet und damit eine echte Institution. Inzwischen ist die Ehe zur Institution der Liebe geworden, und als solche ist sie noch um ein weniges hinfälliger als die meisten Institutionen der Zeit. Die Liebe wiederum ist seit ihrer Institutionalisierung ganz und gar heimat- und schutzlos geworden." (In: Denktagebuch. 1950-1973, 2 Bde., hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München-Zürich 2002, Dezember 1950; S. 49-51).
Thursday, December 3. 2009
 "Ein mentalitäres Grundmuster dieser entmythologisierten Arbeitsgesellschaft setzt sich fest und wird zur kollektiven Identität der DDR-Bürger: die Standardisierung des Lebens, die Egalität der sozialen Reproduktion. Die „arbeiterliche" Gesellschaft, wie immer unproduktiv sie vor sich hin wirtschaftet, ist eine Gesellschaft der Gleichen. Und Gleichheit war keineswegs nur eine Ideologie der Herrschenden. Die Herstellung egalitärer Strukturen im Alltag, der Kleidung, des Auftretens, des Gesprächs war ein interaktiver Prozess. Dieser Prozess ließ Exposition nicht zu, verpönte das Besondere, Außergewöhnliche, stieß auch das Fremde ab, wenn es sich dem Egalitätssog widersetzte. Der sympathische Zug dieses egalitären Habitus, die Akzeptanz des „anderen Gleichen", hat eine dunkle Seite: die kollektive Ausgrenzung des Anderen, Widerspenstigen, Eigensinnigen. Selbst die privaten „Nischen" können sich der Egalitätsnorm nicht entziehen. Die DDR-Gesellschaft hat einen Aspekt der systemischen Formierung verinnerlicht und zur eigenen Sache gemacht: die Konformität - keineswegs als ideologische Konformität, sondern als eine Egalisierung des kollektiven Habitus. Und auch diese mentale Disposition ist „modernisierungsresistent" und sorgt für das Überdauern der „ostdeutschen" Haltung, selbst nach der Wiedervereinigung. Denn nun machen alle nicht nur die Erfahrung der Überschichtung durch eine westdeutsche Pseudo-Elite, sondern zusätzlich noch die erzwungene Bekanntschaft mit Habituszumutungen, die den verinnerlichten egalitären Habitus notorisch entwerten. Dieses Gefühl führt nicht nur zu kollektiven Kränkungen, es fordert auch das Bedürfnis nach kollektiven Abgrenzungen gegen alles Fremde, von dem „das Westdeutsche" nur einen Aspekt darstellt." (In: Biographie und Mentalität: Spuren des Kollektiven im Individuellen [36]. In: Bettina Völter, Bettina Dausien, Helma Lutz, Gabriele Rosenthal (Hrsg.): Biographieforschung im Diskurs. VS-Verlag, Wiesbaden 2004, S. 21-45)
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