Monday, November 30. 2009
 "Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der Diskussion, und fast möchte man sagen in der Beweisführung, Recht behalten zu wollen. Das Recht-behaltenwollen selber, bis in seine subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade ausmacht. Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie, Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sich einlud, mit jedem einzeln sein System durchdiskutierte und, nachdem keiner mehr gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen wagte, seine Sache für schlechterdings wertbeständig hielt. Etwas von solcher Naivetät ist überall dort noch am Werk, wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus des Überzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzung einer universitas literarum zugrunde, eines apriorischen Einverständnisses der Geister, die miteinander kommunizieren können, und damit schon der ganze Konformismus. Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden, daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind — solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus —, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet." (In: Minima Moralia. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1951, S. 121f.)
Thursday, November 12. 2009
 "Unterscheidungen verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen gemacht werden. Das heißt auch: sie können gewählt werden. Man macht die eine oder die andere Unterscheidung, um etwas bezeichnen zu können. Jede Bezeichnung setzt eine Unterscheidung voraus – auch dann, wenn das, wovon sie etwas unterscheidet, gänzlich unbestimmt bleibt. Sagt man Sokrates, so meint man Sokrates und niemanden sonst. In diesem Falle fällt das, wovon das Bezeichnete unterschieden wird, mit dem zusammen, wovon die Unterscheidung selbst unterschieden wird. In anderen Fällen kommt diese Unterscheidung der Unterscheidung hinzu. Zum Beispiel wird etwas als groß bezeichnet, um es von Kleinem zu unterscheiden, nicht dagegen von etwas Leisem (laut/leise) und oder etwas Langsamem (schnell/langsam). Ungeachtet dieses Unterschiedes von unterscheidenden Unterscheidungen und nichtunterscheidenden Unterscheidungen, den wir hier nicht weiter verfolgen wollen (Fußnote: Und zwar: um den Paradoxieverdacht zu vermeiden, der aufkommen könnte, wenn man fragt, ob dieser Unterschied selbst eine unterscheidende oder eine nichtunterscheidende Unterscheidung ist. »Unterschied« (in Unterscheidung von »Unterscheidung«) dient uns mithin als Paradoxieabwehrbegriff. Natürlich nur: im Moment), kommt eine Unterscheidung nur vor, wenn sie gemacht wird. Wenn sie nicht gemacht wird, wird sie nicht gemacht. Sie ist nur eine Operation, hat also einen über Zeit vermittelten Bezug zur Faktizität. Sie realisiert sich selber, allerdings nur für einen Moment, und sie muß sich dann am Bezeichneten ihrer Kontinuierbarkeit und ihrer Wiederholbarkeit versichern, um sich zu de-arbitrarisieren. Wir wollen eine Operation, die etwas unterscheidet, um es zu bezeichnen, Beobachtung nennen. Ohne Unterscheidungen sind Beobachtungen nicht möglich. Mit Unterscheidungen geraten sie unter die Bedingungen der Zeit, das heißt: in den Bann der Frage, ob eine De-arbitrarisierung gelingt oder nicht. Wenn sie gelingt, nimmt man an, daß die Operation der Beobachtung weltad-adäquat läuft. Wenn sie gelingt, nimmt man außerdem an, daß das Problem der Paradoxie geschickt vermieden ist. Sehr zu Unrecht, wie eine genauere Analyse immer wieder zeigen kann." (In: Anfang und Ende: Probleme einer Unterscheidung. In: Luhmann, Niklas / Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1990, Suhrkamp, S. 11f)
Monday, November 9. 2009
"die endgültige Antwort auf diese ungeheuer schwere Frage - wie viel ich der Unterdrückung zu verdanken habe -, weiß ich immer noch nicht. Es war die Freiheit des Irrenhauses, aber es war Freiheit, in gewissem Sinne, in einer perversen Art und Weise; es war die Freiheit der Unterdrückten und Ausgelieferten, ein Zustand, in dem man ganz andere, in der echten Freiheit unvorstellbare und unmögliche Bemerkungen und Erfahrungen gemacht hat. Das verlangte nach einer spezifischen Darstellungsweise der Wirklichkeit - der man ausgeliefert war, die man niemals bewegen, nur ertragen konnte. Der enorme Druck ließ die Phantasie und die Sprache frei, ließ eine neue Anschauungsweise entstehen, die da drin, im Irrenhaus als wahr und authentisch zu sein schien. Aber was passiert, wenn der Druck nachlässt, wenn man nicht mehr von Mauern umgeben wird? Ich musste den Versuch unternehmen, ob ich auch ohne Druck existieren kann, das heißt: ob ich an den Diktaturen erkrankte, deformiert wurde, ob mir die Fähigkeit des freien Atmens abhanden gekommen ist, oder im Gegenteil: vielleicht haben mir diese Terrorsysteme gerade geholfen, weil sie mich gezwungen haben, meine schöpferische Kraft, meinen Stil, die Lust zu Schreiben zu entfalten. Es war wichtig, in Erfahrung zu bringen, ob ich auch als freier Mensch Romane schreiben kann." (Imre Kertesz, der heute 80 wird, in einem Interview, das im Perlentaucher zu lesen ist)
Friday, November 6. 2009
 "Bewusstsein und Kultur stehen in einem reziproken Verhältnis. Eine Kultur entsteht aus den Versuchen eines Bewusstseins mit sich erweiternden Fähigkeiten, in Verbindung mit anderen Individuen zu treten. Das spezifisch Menschliche an unserem Bewusstsein lässt sich nicht an einem anatomischen Merkmal des Gehirns festmachen, sondern ist auf seine Einbettung in eine Kultur zurückzuführen. Enkulturation erfordert zum einen, dass sich das Arbeitsgedächtnis früh in multiple Aufmerksamkeitsfelder ausdifferenziert, und zum anderen, dass der hocheffiziente Erinnerungsabruf, zu dem es fähig ist, für eingespielte kognitive Sequenzen nutzbar gemacht wird, die für die Interaktion mit der Kultur wesentlich sind. Diese Operationen versetzen das Gehirn in die Lage, die Aufmerksamkeit auf Markierungspunkte und Wegweiser zu richten, die es ins Herz der Kultur geleiten. Wir wissen zwar noch zu wenig darüber, wie sich diese Sequenzen im Detail entfalten, doch Beobachtungen an wildlebenden Affen und so genannten Wolfskindern machen deutlich, dass wir, falls die Sequenzen dem Gehirn nicht früh genug eingeschrieben wurden, irgendwann nicht mehr im Stande sind, sie uns anzueignen. Ein entscheidender Schritt ist, dass das Aufmerksamkeitssystem des Kindes sich mit dem anderer Menschen verzahnt. Dieses Ineinandergreifen erfolgt über Kanäle wie Blickkontakt, Stimmäußerungen und Berührungen, die an eingespielten Interaktionsmustern wie Begrüßungen, Umarmungen und Spielen beteiligt sind. Damit ein wechselseitiger Austausch entstehen kann, muss das Kind als aktiver Teilnehmer einbezogen sein. Die entsprechenden Formen der Interaktion eignet es sich vor allem im Kontakt zu seinen zentralen Bezugspersonen an. Am Beginn steht meist das gegenseitige Nachahmen von Kind und Mutter. Das Hin und Her von Mimik, Lautäußerungen und Gestik differenziert sich in spielerischen Interaktionen wie dem »So tun, als ob« immer weiter aus. Solche Begegnungen regen das Kind dazu an, ein komplexes Repertoire mentaler Operationen aufzubauen, die es von da an in Situationen einsetzen wird, die eine gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit erfordern. Das kognitive Repertoire, mittels dessen das Kind in die Kultur hineinwachsen kann, ist ein kulturelles Steuerungssystem, das sich Schicht um Schicht in seinem Geist aufbaut. Der heranreifende Geist des Kindes verzahnt sich mit dem seiner Bezugspersonen und nach und nach mit seinem gesamten Umfeld. Auf diese Weise werden Muster des gemeinsamen Beobachtens, Anteilnehmens, Empfindens und Erinnerns eingeübt und verfeinert, die das Kind auf seine späteren Erfahrungen innerhalb der Kultur vorbereiten. Zum Erlernen neuer Fertigkeiten sind immer subtilere Mechanismen der Aufmerksamkeitskopplung notwendig, die es uns zum Beispiel ermöglichen, die Intentionen von Gruppen zu registrieren. Mit Hilfe derselben Mechanismen können wir auch überprüfen, ob unsere Einschätzungen und Bewertungen sich mit denen von anderen decken oder nicht. Solche kognitiven Muster werden dadurch, dass Erwachsene sie bei der Anleitung von Kindern wiederholen, von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dieser auf viele mentale Systeme verteilte pädagogische Prozess bildet eine Art kulturelles Gedächtnis, in dem das gewaltige Geflecht aus sozialen Bindungen und gemeinsamem Handeln und Empfinden gespeichert ist, das der tiefgreifenden Enkulturation jedes Kindes zugrunde liegt. Dieses System des kulturellen Zusammenhalts ist zwar offenbar an der Basis der kognitiven Hierarchie angesiedelt, operiert aber auf einer sehr hohen Abstraktionsebene, die weit jenseits der Möglichkeiten anderer Primaten liegt." (In: Triumph des Bewusstseins, Klett Verlag, Stuttgart 2008, S. 266-268)
Wednesday, November 4. 2009
 Wie heute zu erfahren war, ist am 1.11. Claude Lévi-Strauss, sicherlich einer der berühmtesten Ethnologen des 20. Jahrhunderts, im hohen Alter von 100 Jahren, kurz vor seinem 101. Geburtstag in Paris gestorben. Wie kaum ein anderer hat er durch seine strukturalistischen Analysen des "wilden Denkens", in denen er versuchte, universale Denkprinzipien der menschlichen Klassifikationen und Bedeutungssysteme zu beweisen, der Ethnologie in der intellektuellen Öffentlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine breite Schneise geschlagen. Unabhängig von der Bewertung seiner umstrittenen Thesen, die ihm auch immer den Ruf einer gewissen "Kälte" einbrachten, wird sein großartiger und sehr persönlicher Bericht über seine Forschungsreise zu den Indianerstämmen in Brasilien in den dreißiger Jahren, der gleichzeitig auch eine wunderbare Reflexion über das Reisen an sich und die westliche Kultur darstellt, immer ein wesentlicher Bestandteil der ethnographischen Literatur (auch für Nicht-Ethnologen) bleiben. Aus diesem großartigen Buch "Traurige Tropen" daher das heutige schöne Zitat des Tages: "Im allgemeinen stellt man sich das Reisen als eine Ortsveränderung vor. Das ist zu wenig. Eine Reise vollzieht sich sowohl im Raum wie in der Zeit und in der sozialen Hierarchie. Jeder Eindruck lässt sich nur in Bezug auf diese drei Achsen definieren, und da allein schon der Raum drei Dimensionen hat, so wären mindestens fünf erforderlich, um sich vom Reisen eine adäquate Vorstellung zu machen. (...) Es gab eine Zeit, da der Reisende Kulturen begegnete, die sich von seiner eigenen von Grund auf unterschieden und ihn zunächst durch ihre Fremdartigkeit überwältigten. Seit einigen Jahrhunderten haben wir dazu immer weniger Gelegenheit. Ob in Indien oder in Amerika - der moderne Reisende ist weit weniger überrascht, als es sich eingestehen mag. Wenn er sich Reiseziele und Routen auswählt, bedeutet das für ihn in erster Linie die Freiheit, lieber an diesem als an jenem Tag anzukommen, lieber dieses als jenes Transportmittel der mechanisierten Zivilisation zu benutzen. Die Jagd nach dem Exotischen beschränkt sich auf das Sammeln von Stadien, die einer bereits vertrauten Entwicklung entweder vorauseilen oder hinterherhinken. Der Reisende wird zum Antiquitätenhändler, den der Mangel an Kunstgegenständen zwingt, seine Galerie aufzugeben, um mit alten Souvenirs vorlieb zunehmen, die er auf seinen Spaziergängen durch die Flohmärkte der bewohnten Erde erhandelt." (In: "Traurige Tropen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978, stw240, S. 76-78)
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