Wednesday, October 28. 2009
 "An die Stelle der Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen kann man in der Gegenwart die Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein treten lassen. In dieser zweiten Fassung werden beide Seiten der Unterscheidung neu und sie werden anders bestimmt. Einerseits wird auf der Seite des Sozialsystems die kommunikationstheoretische Grundlegung der Soziologie benutzt, die seit der Informationstheorie der späten vierziger Jahre als eine Denkmöglichkeit verfügbar ist. Kommunikation ist unter diesen Voraussetzungen nicht etwas, was einem einzelnen Bewusstsein als seine Absicht oder einem einzelnen Akteur als seine Tätigkeit zugerechnet werden kann. Es handelt sich bei jeder einzelnen Kommunikation vielmehr um eine genuin soziale und elementare Einheit, die immer und mindestens zwei Prozessoren (Akteure; Psychen; Bewusstseine) voraussetzt, die an ihrer Produktion beteiligt sind. Eine Reduktion auf einen dieser Prozessoren ist nicht zulässig. Der Begriff des Bewusstseins wiederum kann nicht als bedeutungsidentisch mit dem Begriff des Psychischen gedacht werden. Vielmehr handelt es sich beim Bewusstsein um eine selektive Instanz, die sich, wie es Gregory Bateson formuliert, einer „Kodifikation und reduktiven Simplifikation eines weiter gefassten psychischen Lebens“ verdankt und dies auf der Basis einer „Spiegelung eines Teils der Psyche in das Feld des Bewusstseins“. Die dieser Überlegung zugrundeliegende Unterscheidung ist die von „bewusst“ und „unbewusst“. Jener Selektionsprozess, der Teile des Psychischen in das Bewusstsein spiegelt, ist selbst vermutlich eher ein unbewusster Prozess. Jedenfalls steht er unserer willentlichen Anstrengung nicht zur Verfügung." (In: Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen, in: Detlef v. Ganten, Volker Gerhardt & Julian Nida-Rümelin{hrsg} "Funktionen des Bewusstseins", de Gruyter 2008)
Thursday, October 22. 2009
 Das Zitat des Tages hat heute Hartwig Hansen beigesteuert: "Für die 25. (Jubiläums)Ausgabe des „Brückenschlag“, der „Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst“, wählte die Redaktion den Titel „Wahn – Sinn – Wirklichkeit“, um noch einmal das Ursprungsthema dieser Jahreszeitschrift aufzugreifen und zu reflektieren, was sich im Bereich des Psychose-Verständnisses und der Behandlung von psychischen Erkrankungen in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten verändert hat. Traditionell wird dann den vielfältigen Beiträgen auch ein das Thema illustrierendes Motto vorangestellt. Diesmal entschieden sich die Herausgeber für ein Gegenüberstellung von „Wahn“ und „Vernunft“: Wahn
mittelhochdeutsch wãn „ungewisse, unbegründete Ansicht, Vermutung, Meinung, Hoffnung, Erwartung, Vorstellung, Scheu“. Als Ausgangsbedeutung ist „(unbegründete) Erwartung, Hoffnung“ anzusetzen, eigentlich „Gewünschtes, Ersehntes“. Wahn wird seit mittelhochdeutscher Zeit in Gegensatz zu Wissen und Wahrheit gestellt. Im Frühniederhochdeutschen entwickelt sich der Sinn „willkürlich zurechtgemachte, nicht der Wirklichkeit entsprechende Meinung, Vorstellung“ (16 Jh.), dann „Selbsttäuschung, fixe Idee“ als krankhafte Erscheinung (18 Jh.), und Wahn gerät dadurch in die semantische Nähe von nicht verwandtem Wahn (in Wahnsinn, Wahnwitz). Aus: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv, 8. Auflage, 2005
Vernunft
„Ich fühlte mich bestärkt in meiner Auffassung, dass es nicht die Vernunft sein kann, von der eine Lösung für die Probleme der Menschheit zu erwarten ist. Denn schließlich ist gerade die Vernunft Ausgangspunkt eines Großteils dieser Probleme. Vielleicht sind wir selbst diese Lösung, wenn wir es nur schaffen, uns von den Fesseln vorgefertigter Gedanken zu lösen, von den Erfahrungen, von all dem, was wir zu wissen glauben, um so die Freiheit der Einbildungskraft wiederzugewinnen und unserer Fantasie Raum zur Entfaltung zu geben.“ Tiziano Terzani in: Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben, S. 695/696
Tuesday, October 20. 2009
Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, dass mir eines Tages ein Buch von Eric Hoffer in die Hände fiel. Das Buch hieß „Die Angst vor dem Neuen“, 1968 als rororo-Bändchen in der Enzyklopädie-Reihe herausgekommen. Im Original war es bereits 1952 erschienen unter dem anders akzentuierenden Titel „The Ordeal of Change“. Was man über Hoffer (1902-1983) als Person lesen kann, finde ich ungemein spannend. Als Kind erblindet, als Jugendlicher plötzlich wieder sehend, ein Autodidakt erster Güte, der sich immer wieder als Gelegenheitsarbeiter verdingte, jedes Mal nur so lange, bis er wieder genügend Geld hatte, um in Ruhe lesen und studieren zu können. Hannah Arendt hat die Begegnung mit ihm so fasziniert, dass sie in einem ihrer Briefe an Karl Jaspers geradezu enthusiastisch davon berichtet. Hoffers Betrachtungen mögen aus postmoderner Sicht freaky wirken, altmodisch, vielleicht auch pathetisch, ein moderner Diogenes. Irgendwie nicht zu vereinnahmen, auch wenn er wohl in den USA seinerzeit manchem Politiker als Berater galt. In meiner Vorbereitung auf die Bochumer SG-Tagung zu fremden wie eigenen Blicken spielte mir der irgendwie gewollte Zufall das Bändchen wieder in die Hände und zwei Abschnitte daraus wären mein heutiges Zitat des Tages: „Die durch eine Krise ausgelösten Energien sind gewöhnlich auf rein zweckbedingtes Handeln und auf die Nutzanwendung bereits bekannter Praktiken ausgerichtet.“ „Der verzweifelte Kampf um die nackte Existenz übt eher einen statischen als einen dynamischen Einfluß aus. Die dringende Suche nach den unmittelbar notwendigen Dingen hört praktisch auf, sobald wir nur etwas einigermaßen Angemessenes gefunden haben, die Suche nach den nicht unmittelbar notwendigen Dingen setzt sich dagegen endlos fort. Daraus ergibt sich die merkwürdige Tatsache, daß sich die unentwegtesten und spektakulärsten Bemühungen des Menschen nicht auf die notwendigen Dinge bezogen, sondern auf die überflüssigen. Erinnern wir uns daran, daß die Entdeckung Amerikas nur eine Nebenerscheinung der Suche nach Ingwer, Gewürznelken, Pfeffer und Zimt gewesen ist...“aus: Eric Hoffer (1968): „Die Angst vor dem Neuen. Freiheit als Herausforderung und Aufgabe“. Reinbek: rororo; Zitate S. 97 u. S. 98
Friday, October 16. 2009
 Natürlich war früher nicht alles besser, die normative Enge der 19fünfziger Jahre etwa möchte ich nicht gerne noch einmal erleben. Anderes wiederum scheint mir verloren heutzutage. Manchmal taucht durch Zufall wieder etwas auf. Ein solcher Zufall war, dass ich kurz vor dem Hundertjahrjahr für Hannah Arendt noch einmal auf Günter Gaus‘ legendäre Interviewreihe stieß, die er in den 1960er Jahren im Fernsehen brachte, bis heute mit das Beste, was ich an Gesprächskultur televisionär erlebt habe. Ich fand noch die beiden Bände im Antiquariat, in denen die Interviews abgedruckt erschienen. Unter anderem gab es damals ein Gespräch zwischen Gaus und Hannah Arendt und aus diesem Gespräch möchte ich ein Zitat weitergeben. Mir scheint, dass sich hier eine schöne (gute, respektvolle) Zusammenfassung findet von etwas, was sich als eine systemische Haltung gut anlassen würde. Das Zitat: "GAUS: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. In einer Festrede auf Jaspers haben Sie gesagt: „Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, daß einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis der Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen.“ Dieses „Wagnis der Öffentlichkeit“ – ein Zitat von Jaspers wiederum -: worin besteht es für Hannah Arendt? ARENDT: Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der Meinung bin, daß man nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen und handeln darf, so weiß ich doch, daß in jedem Handeln die Person in einer Weise zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. Wobei das Sprechen auch eine Form des Handelns ist. Also das ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man das nicht.“ [aus: Hannah Arendt/ Günter Gaus: Was bleibt? Es ist die Muttersprache. In: Günter Gaus 1964. Zur Person. Porträts in Frage und Antwort. Band I. München: Feder Verlag, S.15-32. Zitat S.31f.]
Tuesday, October 13. 2009
Die Unverfrorenheit, mit der einem Lebenswendungen manchmal die postmoderne Selbstironie oder wellnessvermurkste Lebensweisheiten vom Teller fegen – wenn nicht um die Ohren hauen -, könnte einem konstruktivistische Ideen zum Umgang damit womöglich wie das Pfeifen im Walde erscheinen lassen. Vielleicht hat das ja etwas damit zu tun, dass auch konstruktivistisches Denken seinen Preis hat und nicht davor bewahrt, mit einem Bein mit in die Hölle zu steigen, während das andere im Möglichkeitenland seinen Stand zu halten versucht, wie Bill O’Hanlon das einmal so schön auf den Punkt brachte. Die Gewissheit eines zweiten Beins wäre dann eine Frage für sich, und womöglich wäre dann die eigene Basis für den Umgang mit dem Ungewissen eine ebenfalls nicht zertifizierbare Größe. Als ich kürzlich, aus einem gegebenen Anlass, noch einmal Lynn Hoffmans 1996 in deutscher Übersetzung erschienene Aufsatzsammlung über „Therapeutische Konversationen“ durchblätterte und meinen damaligen Lesespuren folgte, stellte sich wieder ein Gespür dafür ein, dass es möglich ist, sich den Dingen zu stellen, ohne die „Dinge“ beherrschen zu können und dennoch etwas tun zu können. Ich habe für die „Zitatestages“-Rubrik daher einen kleinen Passus ausgewählt. Es handelt sich um eine Passage aus einem Interview, das Richard Simon für den Family Therapy Networker im Jahr 1988 mit Lynn Hoffman führte. Geschenkt, dass die in diesem Passus erlebbare Haltung wenig zu tun hat mit so etwas wie Erfordernissen einer sachzwanggerechten Anpassung an Verteilungsmechanismen, doch in einem ist sie im klaren Vorteil: mehr Transparenz geht nicht. Das Zitat: „Frage: Könnten Sie ein klinisches Beispiel geben, wie Sie ihre philosophische Haltung des Konstruktivismus in die Praxis umsetzen? Hoffman: Okay. Ich werde Ihnen von einer Mutter und ihrer jungen erwachsenen Tochter berichten, die vor drei Jahren zu mir kamen, nachdem eine gewaltige Auseinandersetzung sie auseinander gebracht hatte. Die Familie war diese kleine Insel der drei Frauen gewesen - Großmutter, Mutter und Tochter -, aber nachdem die Großmutter gestorben war, wollte die Mutter, daß die Tochter mehr für sie da war. Die Tochter, die schon alleine lebte, blockte ab und sagte: „Ich muß mein eigenes Leben leben“. So hatten sie diesen großen Streit und sahen sich nicht mehr. Sie suchten schon einmal eine TherapeutIn auf, um einige Dinge zu regeln, aber sie begannen, sich wieder zu streiten. Nach einigen Sitzungen, in denen es mißlang, sie zu versöhnen, fragte ich mich, ob ich ihren Konflikt wirklich verstanden hatte. So teilte ich den beiden Frauen mit, daß ich glaubte, in die falsche Richtung gegangen zu sein. Mein Versuch, sie zusammen zu bringen, könnte für sie das schlimmste auf der Welt gewesen sein. Ich sagte ihnen auch, daß ich vielleicht nicht die richtige Therapeutin für sie bin, weil meine eigenen erwachsenen Töchter sich von mir entfremdet hatten. Ich sagte dies aus dem Grund, weil ich vielleicht zu sehr versucht hatte, sie zusammen zu bringen. Ich fühlte mich zunehmend ungehalten über die Mutter, weil sie so wütend war, aber nachdem ich meinen Ärger ausgedrückt hatte, fühlte ich, wie mein eigener Ärger verschwand. Das erste, was die Mutter danach zu mir sagte, war: „Warum bezahlen wir Sie dann für die Therapie?“ Eine Weile später wandte sie sich aus heiterem Himmel ihrer Tochter zu und sagte: „Ich möchte, daß Du weißt, daß ich Dich nicht für meine Depressionen seit Omas Tod verantwortlich mache.“ Danach hatten Mutter und Tochter ihr erstes positives Gespräch nach drei Jahren. Frage: Ich bin mir nicht sicher, inwiefern dieser Fall konstruktivistisches Denken widerspiegelt.Hoffman: Ich glaube insoweit, daß ich zurücktrat und mich daran erinnerte, welcher Teil meiner eigenen „Geschichte“ mich beeinflußt haben könnte und diese Reflexion mitteilte. Früher hätte ich das Paar als mir "Widerstand Leistende" bezeichnet und hätte mir wahrscheinlich ein paar Gegenmanöver ausgedacht. Ich hätte nicht auf meine Gefühle geachtet. Besonders hätte ich nicht meine Schwierigkeiten mit meinen Töchtern diskutiert. Natürlich gab es auf der Ebene der Techniken einiges, das man als „konstruktivistisch“ bezeichnen könnte. Zum Beispiel, wie Mutter und Tochter „Wirklichkeit“ konstruierten, war nicht besonders hilfreich, deshalb bot ich einen anderen Weg an, sie zu konstruieren, so daß sich beide wohl fühlten. Das Problem war immer noch da, aber ich versuchte, seine Bedeutung zu verschieben. Aber meine Haltung unterschied sich von der aus früherer Zeit. Als ich aufhörte, eine „Expertin“ zu sein, wurde ich auch weniger distanziert und anonym. Ich zeige jetzt eine viel persönlichere Seite von mir, und ich gebe Fehler zu, wenn ich im Unrecht war. So viele Familientherapiemodelle halten an TherapeutInnen fest, die auf der Bergspitze stehen, oder sich hinter einem Spiegel verstecken. Ich fühle mich damit zunehmends unwohler.“ (Zitat aus: Lynn Hoffman (1996) Wie eine freundliche Herausgeberin: Richard Simon interviewt Lynn Hoffman. In: Therapeutische Konversationen. Von Macht und Einflußnahme zur Zusammenarbeit in der Therapie – Die Entwicklung systemischer Praxis“, Dortmund verlag modernes lernen; Zitat S.85-86. Das Buch ist Band 13 der Serie „systemische studien“, eine von Jürgen Hargens bis vor wenigen Jahren auf den Weg gebrachte Sammlung. Das waren noch Zeiten)
Monday, October 12. 2009
«Es ist nicht zu verkennen, dass in der modernen westlichen Gesellschaft die Sexualscham von der Statusscham fast völlig verdrängt worden ist. Noch für Sigmund Freud war die Scham ein Damm gegen die (sexuell motivierte) Schaulust. Man vergleiche nur kurz jene Epoche, in der der junge Freud zutiefst erschrak, während einer Fahrt im Schlafwagen matrem nudam zu sehen (noch als Erwachsener musste er das in lateinischen Worten niederschreiben), mit der gegenwärtigen und mit ihrem Fernsehprogramm, das ja auch Kindern im Alter des kleinen Sigmund mühelos zur Verfügung steht. In einer Zeit, in der Jugendliche durchaus in der Lage sind, sich auf dem Schulhof während der Pause zum Zeitvertreib via Handy überreichlich Sex- und Gewaltdarstellungen zu betrachten, leben wir offenkundig unter völlig anderen Bedingungen als einst in der viktorianischen oder in der wilhelminischen Ära. Natürlich hat es auch früher Status-Scham gegeben, aber sie bezog sich meist auf den Ehrencodex privilegierter Schichten: „Spielschulden sind Ehrenschulden“, das ist das Motto, das in Arthur Schnitzlers Meisternovelle „Spiel im Morgengrauen“ den jungen Leutnant Willi Kasda zum Suicid treibt, dem Aias im Grundsatz durchaus ähnlich. Heute ist die Status-Scham demokratisiert und infolgedessen ubiquitär; sie bezieht sich vor allem auf die Verfügbarkeit über Gebrauchsgüter und Verhaltensoptionen. Einem Kollegen von mir ist es tatsächlich widerfahren, dass seine pubertierende Tochter ihn erbost zur Rede stellen wollte, weil er während des Schulfestes telefoniert hatte: „Wie kannst du mich nur so blamieren! Mit so einem alten Handy!“ Das Wort „peinlich“ fällt nicht ohne Grund in der Sprache der Jugendlichen äußerst häufig. Die Scham dieser Jugendlichen von heute kristallisiert sich in erster Linie an der Unfähigkeit aus, Dockers-Schuhe, Diesel-Jeans und T-Shirts zu tragen. Auch hier wird die Bedeutung der visuellen Sphäre deutlich: Man schämt sich jetzt wie einst für den Anblick, den man bietet – aber nicht nackt und bloß, sondern uncool und ohne Markenware.» (In: „ Scham und Schaulust, Macht und Ohnmacht…“. Vortrag im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007, Foto: das.syndikat.com)
Friday, October 9. 2009
"Als Basisoperation der Psyche nannte Luhmann das Bewusstsein. Das war nur konsequent aus seiner Sicht. Sich da an Husserl anzulehnen, lag nahe, auch weil auf diese Weise andere Theoreme Husserls eingewoben werden konnten, also etwa Husserls Sinnbegriff, sein Zeitbegriff und natürlich seine phänomenlogische Herangehensweise als solche. Wie also müsste ein alternativer Kandidat beschaffen sein, den man als Operationsmodus des psychischen Systems und damit als Ersatz für Bewusstsein einsetzen könnte? Nun, eins steht fest, »das Unbewusste« kann dieser Kandidat nicht sein, denn das hieße, nun umgekehrt auf Bewusstsein verzichten zu müssen und also das Kind mit dem Bade auszuschütten. Der Kandidat muss sich also dadurch auszeichnen, Bewusstes wie Unbewusstes miteinander verbinden bzw. übergreifen zu können. Im Deutschen gibt es einen Begriff, der eigentlich jede Art geistiger Zustände und Prozesse meint, wenn auch zugegebner Maßen in den meisten Fällen auf Bewusstsein zielt. Dieser Begriff ist der des Erlebens. Schließlich sagen wir nicht, »ich habe das und das bewusstet«. Wir sagen: »Ich habe das und das erlebt.« Der Begriff schließt also Bewusstsein ein und nicht aus. Aber er legt sich nicht auf Bewusstsein fest. Wenn wir zu jemanden sagen: »Offensichtlich habe ich das als sehr unangenehm erlebt, sonst hätte ich nicht so brüsk reagiert«, dann heißt das, dass wir uns selbst manchmal klar darüber werden können, dass uns nicht immer alle Aspekte unseres Erlebens auch unmittelbar bewusst sind. Das ist kein sehr strenger Begriff des Unbewussten, aber uns reicht hier ja ein »door opener«." (In: " Das Unbewusste − ein psychologisches Unding? Ein blinder Fleck Luhmanns und wie man ihn aufhellt". Vortrag gehalten in Hamburg am 4.9.2006 im Institut für systemische Studien)
Wednesday, October 7. 2009
 "In einer Welt, die »soziale Kompetenz« über alles stellt, die uns also ständig ermuntert, gesellig, freundlich, kooperativ und »teamfähig« zu sein, überlebt das einzigartige Talent nur noch im Sport; nur hier herrscht noch der Respekt vor der Leistung. Nur im Sport kann der Beifall der anderen nicht das Erreichen eines Ziels ersetzen. Nur im Sport gibt es deutlich sichtbare Grenzen des Schönredens. Alles ist zugleich leidenschaftlich und streng geregelt. Und die Regeln gelten für alle. Auch das bestätigt die funktionale Äquivalenz von Sport und Jagd. Wer ein Fußballspiel besucht, wirft einen Blick in eine untergegangene Welt. Er genießt heroische Männlichkeit aus zweiter Hand. Bertolt Brecht (…) hatte recht: Sport als Passion hat nichts mit Hygiene und Gesundheit zu tun; nichts ist seinem Wesen ferner als die kultivierte Verfeinerung zur Gesellschaftsfähigkeit. Im Sport geht es einzig und allein um Kampf und Rivalität; er hat keinen über sich selbst hinausweisenden Zweck" (In: "Das Paradies des Wesentlichen". In: Fritz B. Simon (Hrsg.): Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2009, S. 18)
Monday, October 5. 2009
 "Je nachdem, auf wen jemand schaut - also je nach wem -, wählt er aus und lässt weg. Dasselbe passiert, je nach dem, auf was er schaut (…). Der systemische Blick ist nicht so "ganzheitlich", wie man es ihm nachsagt, sondern ebenso perspektivisch, absichtlich (intentional) oder nicht auf etwas Bestimmtes gerichtet, anderes gleichzeitig auslassend. Dass zum Beispiel im Menschen ständig etwas vorgeht, verneint er zwar nicht, aber systemisch befasst er sich mehr damit, was zwischen Menschen passiert. Die totale Rundumsicht, alles gleichzeitig "auf einen Blick" zu sehen, ist kein menschliches Maß, und wer sie zu haben beansprucht, hat einen verdächtigen Hang zum Totalitären. Statt Gegenstand des Wahrnehmens und Denkens sein zu können, bildet das Ganze systemisch den endlosen Horizont der Erfahrung, Wahrnehmung und Erkundung. Selber Teil des Ganzen, ist der Mensch nicht alles, steht jedoch deswegen mit anderen Teilen in Wechselwirkung und bildet mit ihnen größere oder kleinere Systeme (griech. systema = Zusammenstellung von Elementen zu einem übergeordneten Gebilde, das mehr ist als ihre Summe)." (in: Einführung in die Mediation. Carl Auer Verlag, Heidelberg 2008, S. 23f.)
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