Saturday, October 31. 2009
 In einem Text von 1989, der in der "Familiendynamik" erschien und nun auch in der Systemischen Bibliothek zu lesen ist, setzt sich Wolf Ritscher auf theoretische wie sehr persönliche Weise mit dem Thema des Todes auseinander: "Die Verleugnung und Ausgrenzung von Tod und Sterben verdankt sich dem gesellschaftlichen Mythos von Fortschritt und technologischer Machbarkeit. Der Tod ist hier ein „skandalon“, indem er die existentiell nicht hintergehbare Grenze des Menschen betont. Im „Mythos der Macht“ (Bateson) kehrt die gesellschaftliche Verleugnung wieder: Machtstreben, Allmachtsphantasien und ein Nichtbedenken der eigenen Endlichkeit sind seine Stützen. In von Intimität und Dichte gekennzeichneten Familienbeziehungen liegt es nahe, dem Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen durch kommunikative Tabuisierung zu entgehen. Der Autor beschreibt, wie bei ihm selbst eine jahrelang blockierte Trauer in therapeutischen Kontexten er– und damit die Gestalt geschlossen werden konnte. Zum Abschluss wird auf eine ethische Folgerung verwiesen, welche der Tod als Symbol für die Begrenztheit unserer Erkenntnis nahelegt: Toleranz." Zum vollständigen Text…
Thursday, October 29. 2009
 Wer sich für die Themen Nachhaltigkeit und sozial-ökologische Perspektiven auf Risiken „einfachen“ Intervenierens interessiert, der dürfte auf einer Website zur Sozial-ökologischen Forschung fündig werden, die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Zwar ist grundsätzlich ein kritischer Blick angemessen, wenn offizielle Politik sich (auch wichtiger) Themen annimmt, doch scheint mir in diesem Fall ein guter Rahmen geschaffen. Dass es sich hierbei um einen Versuch handelt, möglichst viele Interessen unter einen Hut zu bekommen, lässt sich aus folgenden Bemerkungen zur Zielsetzung herauslesen: „Ziel des Förderschwerpunktes ist die Entwicklung von Strategien zur Lösung konkreter gesellschaftlicher Nachhaltigkeitsprobleme: z.B. zur Umsetzung der "Agrarwende", der Verbesserung der Ernährung der Bevölkerung, der Liberalisierung netzgebundener Ver- und Entsorgungssysteme (z.B. Wasser, Energie) und Emissionshandel. Eine derartige Forschung erfordert ein Zusammenwirken der Wissenschaftler/-innen der Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Dabei werden gesellschaftliche Akteure - z.B. Verbraucher/-innen, Kommunen, Unternehmen und Nichtregierungs-Organisationen - in den Forschungsprozess einbezogen. Damit soll der ökologische Umbau der Gesellschaft unterstützt werden, ohne dabei die soziale Gerechtigkeit und die wirtschaftlichen Belange aus den Augen zu verlieren“. Zur Startseite geht es hier.
Von besonderem Interesse scheint mir ein Kapitel über „Strategien zum Umgang mit systemischen Risiken“ zu sein. Systemische Risiken sind „durch ein hohes Maß an Komplexität, Ungewissheit und Ambiguität gekennzeichnet“. Außerdem „lösen isolierte Risikovermeidungsstrategien ihrerseits häufig Folgerisiken in anderen Systemen aus“. Wie wahr, und es dürfte von Interesse sein, zu welchen Schlussfolgerungen belastbare Ergebnisse anregen werden, wenn das entsprechende Projekt weiter fortgeschritten ist. Zu diesem Teil der website geht es hier.
Als ein Beispiel wird u.a. auf ein Projekt zum Thema " Übergewicht und Adipositas bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ hingewiesen. "Übergewicht und Adipositas werden in diesem Projekt exemplarisch als ein systemisch wirkendes, verhaltensinduziertes Risiko verstanden“. Die Laufzeit des Projekts geht noch bis Ende des Jahres 2009.
Spannend dürfte eine Tagung gewesen sein, die auf Initiative der Querschnittsarbeitsgruppe "Partizipation" im September 2005 durchgeführt wurde. Thema: " Partizipation und Nachhaltigkeit - Der Teufel steckt im Detail“. Unter anderem gab es dort einen Vortrag von Angela Oels (Institut für Politikwissenschaft der Universität. Hamburg). Frau Oels diskutiert hier " Nachhaltigkeit, Partizipation und Macht – oder: warum Partizipation nicht unbedingt zu Nachhaltigkeit führt“.
Wednesday, October 28. 2009
 "An die Stelle der Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen kann man in der Gegenwart die Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein treten lassen. In dieser zweiten Fassung werden beide Seiten der Unterscheidung neu und sie werden anders bestimmt. Einerseits wird auf der Seite des Sozialsystems die kommunikationstheoretische Grundlegung der Soziologie benutzt, die seit der Informationstheorie der späten vierziger Jahre als eine Denkmöglichkeit verfügbar ist. Kommunikation ist unter diesen Voraussetzungen nicht etwas, was einem einzelnen Bewusstsein als seine Absicht oder einem einzelnen Akteur als seine Tätigkeit zugerechnet werden kann. Es handelt sich bei jeder einzelnen Kommunikation vielmehr um eine genuin soziale und elementare Einheit, die immer und mindestens zwei Prozessoren (Akteure; Psychen; Bewusstseine) voraussetzt, die an ihrer Produktion beteiligt sind. Eine Reduktion auf einen dieser Prozessoren ist nicht zulässig. Der Begriff des Bewusstseins wiederum kann nicht als bedeutungsidentisch mit dem Begriff des Psychischen gedacht werden. Vielmehr handelt es sich beim Bewusstsein um eine selektive Instanz, die sich, wie es Gregory Bateson formuliert, einer „Kodifikation und reduktiven Simplifikation eines weiter gefassten psychischen Lebens“ verdankt und dies auf der Basis einer „Spiegelung eines Teils der Psyche in das Feld des Bewusstseins“. Die dieser Überlegung zugrundeliegende Unterscheidung ist die von „bewusst“ und „unbewusst“. Jener Selektionsprozess, der Teile des Psychischen in das Bewusstsein spiegelt, ist selbst vermutlich eher ein unbewusster Prozess. Jedenfalls steht er unserer willentlichen Anstrengung nicht zur Verfügung." (In: Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen, in: Detlef v. Ganten, Volker Gerhardt & Julian Nida-Rümelin{hrsg} "Funktionen des Bewusstseins", de Gruyter 2008)
Tuesday, October 27. 2009
 Mit einem sehr spannenden Themenschwerpunkt "Mediation" verabschiedet sich Klaus G. Deissler nach 18 (!) Jahren als Herausgeber von der "Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung". Von diesem (schon länger angekündigten) Abschied macht er in seinem Vorwort (das auch in die Aufsätze des aktuellen Heftes einführt) wenig Aufhebens. An dieser Stelle sei ihm daher für seine ebenso beachtliche wie unermüdliche publizistische Tätigkeit (die er schon in den Anfangsjahrgängen des "Kontext" zur Entfaltung brachte) ganz herzlich gedankt. Ab dem kommenden Jahr wird die Zeitschrift in neuem Layout und in neuem Format unter der Herausgeberschaft von Cornelia Tsirigotis erscheinen. Zu den vollständigen abstracts der aktuellen Ausgabe…
Monday, October 26. 2009
 Unter diesem etwas ungewöhnlichen Titel hat Christoph Thoma aus Amstetten in Österreich ein Buch über "Systemische Kurztherapie bei Angstdynamiken" im Eigenverlag ISKAM veröffentlicht. Offenbar erfolgreich, denn die ersten beiden Auflagen sind bereits verkauft, die dritte Auflage ist in Vorbereitung, Exemplare können beim Autor vorbestellt werden. Wilhelm Rotthaus hat das Buch gelesen und empfiehlt die Lektüre: "Der Leser wird dann 20 höchst anschauliche Fallbeschreibungen finden, die deutlich machen, dass Christoph Thoma keineswegs schematisch einer festgelegten Behandlungsstrategie folgt, sondern mit viel Verständnis und Empathie einerseits und einer großen (nicht verstehenden) Neugierde andererseits sich ganz auf die Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens jedes einzelnen Klienten orientiert und in oft überraschender und kreativer Weise Lösungen ihrer vorgestellten Probleme anregt. Dabei spricht jede seiner Fallgeschichten eine je spezifische Thematik an, wie sie bei "Angstpatienten" häufig auftritt. Ich habe das Buch mit viel Interesse und Genuss gelesen und kann es nur weiterempfehlen!" Zur vollständigen Rezension…
Sunday, October 25. 2009
ZWEI GESCHLECHTER GIBT ES.
BEGRENZTE AUSWAHL.
ENTWEDER WAR EVOLUTION ZU GEIZIG
ODER
SIE AHNTE UNSER VERSAGEN IM VORAUS
VERSCHWENDUNG HAT KEINEN PLATZ IN DER NATUR.
EINS UND EINS MACHT ELF.
(Jens Borrmann, "Kopfsprung")
Saturday, October 24. 2009
Seit einigen Tagen liegt das Heft 5 der Revue für postheroisches Management vor. Das übergreifende Thema lautet "Transnationale Utopie?" Wie immer ist das Heft ästhetisch von beeindruckender Qualität. Wie man hört, hat das Layout der Zeitschrift einen Design-Preis gewonnen. Diese Auszeichnung ist mehr als berechtigt. Inhaltlich scheint es mir allerdings zu den eher schwächeren Heften zu gehören. Das Fragezeichen hinter Utopie ist mehr als berechtigt, weil der Mangel an Visionen im Bereich transnationaler Zukunftsgestaltung offenkundig ist. Ein Schwerpunkt des Heftes liegt auf den Arbeiten von Christopher A. Bartlett und Sumantra Ghoshal, aus deren Buch (von 2002) über transnationale Unternehmen ein Kapitel in der englischen Originalversionen abgedruckt wird und die aus verschiedenen Perspektive von Autoren wie z.B. Reinhart Nagel und anderen kommentiert werden. Ein bemerkenswert enttäuschender Beitrag über die Finanzkrise stammt von der gerade erst für ihr Werk ausgezeichneten Systemtheoretikerin Elena Esposito. Nach einem Jahr intensiver Debatte über die Finanzkrise und ihre Dynamik lesen wir in ihrem Beitrag tatsächlich: "Was bisher als Einziges klar verstanden wurde, ist, dass wir nichts verstanden haben: keine Modell und keine Theorie gelingt es, wirklich zu klären, wie die Krise entstanden ist oder was gerade passiert. Es gibt natürlich Elemente: die Überbewertung und das Wachstum des Immobilienmarktes (vor allem in den USA), die Intransparenz der strukturierten Finanzinstrumente, der Mangel an Reglementierung usw. aber ein richtig überzeugendes Allgemeinbild fehlt: wo haben wir etwas falsch gemacht und warum? Wie hat eine solche Lage entstehen können, das der Finanzmarkt mit allen seinen Modellen und Strategien scheinbar seinen Weg gegangen ist, ohne jegliche Bindung an den Verlauf der 'realen Wirtschaft' und ohne jemanden, der ihn stoppen konnte oder wollte?" Wirklich? Sind wir so ahnungslos? Fehlt es an Theorie? Espositos Hinweis darauf, dass es bei den Finanzspekulationen um Wetten auf eine Zukunft geht, die uns heute noch nicht bekannt ist und daher mit Risiken belegt ist, ist theoretisch wenig gehaltvoll (weil trivial) und stellt die Systemtheorie als Erklärungsmodell für die aktuelle globale Krise in einen nicht gerade vorteilhaftes Licht. Wissen wir wirklich nicht, wie die Misere zustande gekommen ist? Henry Mintzberg, dessen Beitrag das Heft eröffnet, ist da ganz anderer Ansicht: "What we have here is a monumental failure of management. American management is still revered across much of the globe for what it used to be. Now, a great deal of it is just plain rotten - detached and hubristic. Instead of rolling up their sleeves and getting engaged, too many CEOs sit in their offices and deem: they pronounce targets for others to meet, or else get fired". Wie auch immer: eine lohnenswerte Lektüre. Zum vollständigen Inhaltsverzeichnis…
Friday, October 23. 2009
Ein schöner Artikel von Dagmar Deckstein, der schon 2006 in der Gazette erschien, aber auch heute noch sehr aussagekräftig ist (obwohl die Beraterbranche im Rahmen der aktuellen Krise heftige Einbußen hinnehmen musste): "Einer, der schon lange gegen solches Unvermögen derreal herrschenden Managerkaste zu Felde zieht, ist der St. Gallener Professor Fredmund Malik, der sich auch nicht scheut, die Shareholder-Value-Maxime, nach der viele Unternehmen geführt werden, als „größte Irrlehre der Wirtschaftsgeschichte“ zu brandmarken. Auch hat er wohl erkannt, wo die Wurzeln dieserUnfähigkeit liegen, nämlich in den Hochschulen: „Fast alle Hochschulen versagen,wenn es um Management geht. Die Professoren bilden zwar Experten für Betriebswirtschaft aus, für Controlling oder Marketing. Aber von Management,von Führung, ist nie die Rede.“ Und so kann es gar nicht ausbleiben,dass in diesem schleichenden Prozess der letzten Jahrzehnte betriebswirtschaftliche Fachidioten auf die Karriereleitern der Unternehmen geschickt wurden, denen das EBITDA – also die vollkommen lebensfremde Kennziffer Gewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen – sakrosankt und die Emotionen der Mitarbeiter suspekt sind. Wenn nun Berater diese blinden Flecken im Managementsystem zielsicher auschecken und sie gegen Tagesgagen im fünfstelligen Eurobereich zu füllen versprechen, kann man ihnen das gar nicht verdenken oder sie gar als Schurken im Stück beschimpfen. Wer alle Türen im Haus sperrangelweit offen stehen lässt, muss sich nicht wundern, wenn seltsame Gestalten hereinschneien und sich zwanglos im Wohnzimmer umsehen." Zum vollständigen Text…
Thursday, October 22. 2009
 Das Zitat des Tages hat heute Hartwig Hansen beigesteuert: "Für die 25. (Jubiläums)Ausgabe des „Brückenschlag“, der „Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst“, wählte die Redaktion den Titel „Wahn – Sinn – Wirklichkeit“, um noch einmal das Ursprungsthema dieser Jahreszeitschrift aufzugreifen und zu reflektieren, was sich im Bereich des Psychose-Verständnisses und der Behandlung von psychischen Erkrankungen in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten verändert hat. Traditionell wird dann den vielfältigen Beiträgen auch ein das Thema illustrierendes Motto vorangestellt. Diesmal entschieden sich die Herausgeber für ein Gegenüberstellung von „Wahn“ und „Vernunft“: Wahn
mittelhochdeutsch wãn „ungewisse, unbegründete Ansicht, Vermutung, Meinung, Hoffnung, Erwartung, Vorstellung, Scheu“. Als Ausgangsbedeutung ist „(unbegründete) Erwartung, Hoffnung“ anzusetzen, eigentlich „Gewünschtes, Ersehntes“. Wahn wird seit mittelhochdeutscher Zeit in Gegensatz zu Wissen und Wahrheit gestellt. Im Frühniederhochdeutschen entwickelt sich der Sinn „willkürlich zurechtgemachte, nicht der Wirklichkeit entsprechende Meinung, Vorstellung“ (16 Jh.), dann „Selbsttäuschung, fixe Idee“ als krankhafte Erscheinung (18 Jh.), und Wahn gerät dadurch in die semantische Nähe von nicht verwandtem Wahn (in Wahnsinn, Wahnwitz). Aus: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv, 8. Auflage, 2005
Vernunft
„Ich fühlte mich bestärkt in meiner Auffassung, dass es nicht die Vernunft sein kann, von der eine Lösung für die Probleme der Menschheit zu erwarten ist. Denn schließlich ist gerade die Vernunft Ausgangspunkt eines Großteils dieser Probleme. Vielleicht sind wir selbst diese Lösung, wenn wir es nur schaffen, uns von den Fesseln vorgefertigter Gedanken zu lösen, von den Erfahrungen, von all dem, was wir zu wissen glauben, um so die Freiheit der Einbildungskraft wiederzugewinnen und unserer Fantasie Raum zur Entfaltung zu geben.“ Tiziano Terzani in: Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben, S. 695/696
Wednesday, October 21. 2009
  In einem Aufsatz aus dem Jahre 2001 (Familiendynamik 3/2001, S. 302-322) haben Arnold Retzer und Hans Rudi Fischer sich dafür ausgesprochen, in der Beratung von Familienunternehmen auch familientherapeutische Perspektiven einfließen zu lassen. Zu Anfang des Textes heißt es: "Familienunternehmen sind sowohl für die beteiligten Familien als auch volkswirtschaftlich ausgesprochen bedeutungsvoll. In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind mehr als 75 % aller Unternehmen Familienunternehmen, und über 70% aller unselbständig Erwerbstätigen sind in Familienunternehmen beschäftigt. Mehr als 50% der Familienunternehmen überleben nicht die Übergabe von der 1. an die 2. Generation. Damit besteht in der Nachfolgeproblematik eine existentielle Gefährdung der Unternehmen und der betroffenen Mitarbeiter. Angesichts der Tatsache, dass fast alle mittelständischen Unternehmen Familienunternehmen sind, ist zu erwarten, dass das Phänomen „Generationenwechsel“ hochaktuell sein müsste. Ein Blick auf die von den Unternehmerverbänden veröffentlichten Zahlen bestätigt dies. Vorsichtige Berechnungen gehen allein in Österreich von gegenwärtig 70.000 Unternehmen aus, die vor einem Generationswechsels stehen. Das Institut für Mittelstandsforschung (IfM Bonn) hat allein für 1999 76.000 übergabereife Unternehmen erfasst. Davon wurden ca. 32.000 an Familienmitglieder übergeben, 38.000 verkauft und ca. 5.700 mangels Nachfolger stillgelegt. In den kommenden Jahren stehen ca. 300.000 deutsche Unternehmen (mit mehr als 2,5 Mio. Euro Umsatz) vor der für die Unternehmen existenziellen Frage, wie die Nachfolge zu regeln ist. Gegenwärtig versterben um die 30 % aller Unternehmer, ohne die Nachfolge testamentarisch geregelt zu haben. In den meisten Fällen führt dies zu schweren Krisen für die Unternehmen, weil die Erben meist schnell zerstritten sind. Nicht selten führt das zum Konkurs bzw. der Liquidation des Unternehmens. Für den Unternehmer bzw. die Unternehmerin, die die Nachfolge regeln will, stehen neben Familienrechtsfragen hauptsächlich gesellschafts-, erb- und steuerrechtliche Fragen im Vordergrund. Daher ist das Problembündel, das sich um den Generationswechsel und die Nachfolgeregelung bei Familienunternehmen rankt, bisher eine Domäne von Juristen, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Der Fokus liegt dabei eindeutig auf der Klärung der ökonomischen, steuerlichen und juristischen Randbedingungen für das Fortbestehen des Unternehmens. Angesichts der Tatsache, dass viele Generationswechsel – selbst wenn sie von Anwälten und Steuerfachleuchten gut vorbereitet sind – nicht aus ökonomischen Gründen scheitern, sondern im weiteren Sinne aus familiendynamischen, halten wir es für sinnvoll, sich sowohl als Familientherapeut als auch als Organisationsberater den spezifischen Fragen und Herausforderungen von Familienunternehmen zu stellen." Der Aufsatz ist auch im Internet nachzulesen. Zum vollständigen Text…
Tuesday, October 20. 2009
Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, dass mir eines Tages ein Buch von Eric Hoffer in die Hände fiel. Das Buch hieß „Die Angst vor dem Neuen“, 1968 als rororo-Bändchen in der Enzyklopädie-Reihe herausgekommen. Im Original war es bereits 1952 erschienen unter dem anders akzentuierenden Titel „The Ordeal of Change“. Was man über Hoffer (1902-1983) als Person lesen kann, finde ich ungemein spannend. Als Kind erblindet, als Jugendlicher plötzlich wieder sehend, ein Autodidakt erster Güte, der sich immer wieder als Gelegenheitsarbeiter verdingte, jedes Mal nur so lange, bis er wieder genügend Geld hatte, um in Ruhe lesen und studieren zu können. Hannah Arendt hat die Begegnung mit ihm so fasziniert, dass sie in einem ihrer Briefe an Karl Jaspers geradezu enthusiastisch davon berichtet. Hoffers Betrachtungen mögen aus postmoderner Sicht freaky wirken, altmodisch, vielleicht auch pathetisch, ein moderner Diogenes. Irgendwie nicht zu vereinnahmen, auch wenn er wohl in den USA seinerzeit manchem Politiker als Berater galt. In meiner Vorbereitung auf die Bochumer SG-Tagung zu fremden wie eigenen Blicken spielte mir der irgendwie gewollte Zufall das Bändchen wieder in die Hände und zwei Abschnitte daraus wären mein heutiges Zitat des Tages: „Die durch eine Krise ausgelösten Energien sind gewöhnlich auf rein zweckbedingtes Handeln und auf die Nutzanwendung bereits bekannter Praktiken ausgerichtet.“ „Der verzweifelte Kampf um die nackte Existenz übt eher einen statischen als einen dynamischen Einfluß aus. Die dringende Suche nach den unmittelbar notwendigen Dingen hört praktisch auf, sobald wir nur etwas einigermaßen Angemessenes gefunden haben, die Suche nach den nicht unmittelbar notwendigen Dingen setzt sich dagegen endlos fort. Daraus ergibt sich die merkwürdige Tatsache, daß sich die unentwegtesten und spektakulärsten Bemühungen des Menschen nicht auf die notwendigen Dinge bezogen, sondern auf die überflüssigen. Erinnern wir uns daran, daß die Entdeckung Amerikas nur eine Nebenerscheinung der Suche nach Ingwer, Gewürznelken, Pfeffer und Zimt gewesen ist...“aus: Eric Hoffer (1968): „Die Angst vor dem Neuen. Freiheit als Herausforderung und Aufgabe“. Reinbek: rororo; Zitate S. 97 u. S. 98
Sunday, October 18. 2009
ICH SPENDE MEIN HERZ FÜR DIE, DENEN ES FEHLT.
ICH SPENDE MEINE LUNGE FÜR DIE, DIE ABTAUCHEN.
ICH SPENDE MEINE AUGEN FÜR DIE, DIE WEGSEHEN.
ICH SPENDE MEINE BEINE FÜR DIE, DIE SICH NICHT BEWEGEN WOLLEN.
ICH SPENDE MEINE HÄNDE FÜR DIE, DIE NICHTS BEGREIFEN.
ICH SPENDE MEINE HAUT FÜR DIE, DIE SICH EINIGELN.
ICH SPENDE MEINE STIMMBÄNDER FÜR DIE, DIE SCHWEIGEN. ICH SPENDE MEINE NASE FÜR DIE, DIE SICH NICHT RIECHEN KÖNNEN.
ICH SPENDE MEINE OHREN FÜR DIE, DIE NICHT ZUHÖREN.
(Jens Borrmann, "Kopfsprung")
Saturday, October 17. 2009
"Luhmanns Systemtheorie ist im Theoriesektor »soziale Systeme« durch eine sehr hohe Theoriedichte gekennzeichnet. Im Sektor »psychische Systeme« findet sich dagegen bislang nur eine kognitionspsychologisch nachjustierte Adaption der bewusstseinsphilosophischen Identitätstheorie (Psyche = Bewusstsein), die über weite Strecken der Subjektphilosophie entlehnt wurde und daher in einer Theorie, die mit der Subjektphilosophie bricht, problematisch wirken muss. Zugleich wird damit die Möglichkeit verspielt, die Psyche als ein intern differenziertes System zu beschreiben, denn das Bewusstsein »kennt« keine Subsysteme. Eine systemtheoretisch sicherlich nicht wünschenswerte Einschränkung, die bei einem Verzicht auf das Postulat von der Identität von Psyche und Bewusstsein vermieden werden könnte." So beginnt eine Arbeit von Harald Wasser, in der er die Theorie psychischer Systeme einer "Freud'schen Revision" unterzieht. Viel Spaß bei der Lektüre! Zum vollständigen Text…
Friday, October 16. 2009
 Natürlich war früher nicht alles besser, die normative Enge der 19fünfziger Jahre etwa möchte ich nicht gerne noch einmal erleben. Anderes wiederum scheint mir verloren heutzutage. Manchmal taucht durch Zufall wieder etwas auf. Ein solcher Zufall war, dass ich kurz vor dem Hundertjahrjahr für Hannah Arendt noch einmal auf Günter Gaus‘ legendäre Interviewreihe stieß, die er in den 1960er Jahren im Fernsehen brachte, bis heute mit das Beste, was ich an Gesprächskultur televisionär erlebt habe. Ich fand noch die beiden Bände im Antiquariat, in denen die Interviews abgedruckt erschienen. Unter anderem gab es damals ein Gespräch zwischen Gaus und Hannah Arendt und aus diesem Gespräch möchte ich ein Zitat weitergeben. Mir scheint, dass sich hier eine schöne (gute, respektvolle) Zusammenfassung findet von etwas, was sich als eine systemische Haltung gut anlassen würde. Das Zitat: "GAUS: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. In einer Festrede auf Jaspers haben Sie gesagt: „Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, daß einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis der Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen.“ Dieses „Wagnis der Öffentlichkeit“ – ein Zitat von Jaspers wiederum -: worin besteht es für Hannah Arendt? ARENDT: Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der Meinung bin, daß man nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen und handeln darf, so weiß ich doch, daß in jedem Handeln die Person in einer Weise zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. Wobei das Sprechen auch eine Form des Handelns ist. Also das ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man das nicht.“ [aus: Hannah Arendt/ Günter Gaus: Was bleibt? Es ist die Muttersprache. In: Günter Gaus 1964. Zur Person. Porträts in Frage und Antwort. Band I. München: Feder Verlag, S.15-32. Zitat S.31f.]
Thursday, October 15. 2009
 Forschungs- und behandlungspraktische Fragen stehen im aktuellen Heft des Journals of Family Therapy im Vordergrund. Herausgeber Mark Rivett schreibt in seinem Editorial "Almost thirty years ago, Jay Haley (1981) argued, albeit with his characteristic irony, against importing the ‘radical’ ideas of family therapy into mental health contexts. A lot has changed in those thirty years. For instance, in this issue of the Journal, Larner argues that family therapists should cultivate a stance of hospitality rather than suspicion and hostility towards the alternative perspectives that flourish in mental health contexts. Indeed, this issue of the Journal represents the varying positions that family therapists now take in relation to the ‘mental health system’. Some (…) are establishing what family therapy has to offer in terms of relieving the suffering of depressed individuals or those experiencing psychotic symptoms. Others are seeking to transform local mental health practice into a family inclusive one (…)." Zu den vollständigen abstracts…
Wednesday, October 14. 2009
 Walter Ludwig Bühl, Jg. 1934, im Jahre 2007 gestorbener Philosoph und Soziologe, wirft in diesem spannenden und anspruchsvollen Beitrag (der schon 1987 in der Kolner Zeitschrift ftir Soziologie und Sozialpsychologie erschienen ist) einen äußerst kritischen Blick auf den Begriff der Autopoiesis und seine Rezeption, vor allem auch durch Niklas Luhmann, dessen Lektüre unbedingt zu empfehlen ist: "Um zu einer einigermaßen präzisen Begriffsverwendung und damit zu einer realistischen Theoriediskussion zu kommen, ist es zunächst einmal erforderlich, die mystische Aura wieder aufzulösen, in die der Begriff der 'Autopoiesis' durch eine unsachgemäße und ideologische Verwendung inzwischen getaucht worden ist. Vor allem darf die Herkunft des Begriffes aus einer kybernetisch inspirierten Biologie nicht vergessen werden, die das 'lebende System' durchaus provokativ gerade deshalb 'mechanistisch' und 'rationalistisch' als eine Art 'sich selbst herstellender Maschine' rekonstruieren will, um das Systemdenken von all den animistischen, vitalistischen und finalistischen metaphysischen Konnotationen zu befreien, in die es im Kampf gegen die immer noch festverwurzelte elementaristisch-materialistische wie auch gegen die organizistische Naturauffassung verfallen ist (Maturana und Varela). Die heuristische Funktion des Begriffes oder vielmehr Theorems der Autopoiese liegt gerade in der Kontraposition: in der Konzeptualisierung einer zweiten Perspektive, die der alten Naturauffassung gegenübergestellt werden kann und diese dadurch selbst zur Perspektive macht, ohne sie jedoch als Perspektive ersetzen zu können. Die Isolierung, Übergeneralisierung und Reifikation der autopoietischen Perspektive wäre selbst wieder 'Metaphysik', wissenschaftlich unbeweisbar und heuristisch steril." Zum vollständigen Text…
Tuesday, October 13. 2009
Die Unverfrorenheit, mit der einem Lebenswendungen manchmal die postmoderne Selbstironie oder wellnessvermurkste Lebensweisheiten vom Teller fegen – wenn nicht um die Ohren hauen -, könnte einem konstruktivistische Ideen zum Umgang damit womöglich wie das Pfeifen im Walde erscheinen lassen. Vielleicht hat das ja etwas damit zu tun, dass auch konstruktivistisches Denken seinen Preis hat und nicht davor bewahrt, mit einem Bein mit in die Hölle zu steigen, während das andere im Möglichkeitenland seinen Stand zu halten versucht, wie Bill O’Hanlon das einmal so schön auf den Punkt brachte. Die Gewissheit eines zweiten Beins wäre dann eine Frage für sich, und womöglich wäre dann die eigene Basis für den Umgang mit dem Ungewissen eine ebenfalls nicht zertifizierbare Größe. Als ich kürzlich, aus einem gegebenen Anlass, noch einmal Lynn Hoffmans 1996 in deutscher Übersetzung erschienene Aufsatzsammlung über „Therapeutische Konversationen“ durchblätterte und meinen damaligen Lesespuren folgte, stellte sich wieder ein Gespür dafür ein, dass es möglich ist, sich den Dingen zu stellen, ohne die „Dinge“ beherrschen zu können und dennoch etwas tun zu können. Ich habe für die „Zitatestages“-Rubrik daher einen kleinen Passus ausgewählt. Es handelt sich um eine Passage aus einem Interview, das Richard Simon für den Family Therapy Networker im Jahr 1988 mit Lynn Hoffman führte. Geschenkt, dass die in diesem Passus erlebbare Haltung wenig zu tun hat mit so etwas wie Erfordernissen einer sachzwanggerechten Anpassung an Verteilungsmechanismen, doch in einem ist sie im klaren Vorteil: mehr Transparenz geht nicht. Das Zitat: „Frage: Könnten Sie ein klinisches Beispiel geben, wie Sie ihre philosophische Haltung des Konstruktivismus in die Praxis umsetzen? Hoffman: Okay. Ich werde Ihnen von einer Mutter und ihrer jungen erwachsenen Tochter berichten, die vor drei Jahren zu mir kamen, nachdem eine gewaltige Auseinandersetzung sie auseinander gebracht hatte. Die Familie war diese kleine Insel der drei Frauen gewesen - Großmutter, Mutter und Tochter -, aber nachdem die Großmutter gestorben war, wollte die Mutter, daß die Tochter mehr für sie da war. Die Tochter, die schon alleine lebte, blockte ab und sagte: „Ich muß mein eigenes Leben leben“. So hatten sie diesen großen Streit und sahen sich nicht mehr. Sie suchten schon einmal eine TherapeutIn auf, um einige Dinge zu regeln, aber sie begannen, sich wieder zu streiten. Nach einigen Sitzungen, in denen es mißlang, sie zu versöhnen, fragte ich mich, ob ich ihren Konflikt wirklich verstanden hatte. So teilte ich den beiden Frauen mit, daß ich glaubte, in die falsche Richtung gegangen zu sein. Mein Versuch, sie zusammen zu bringen, könnte für sie das schlimmste auf der Welt gewesen sein. Ich sagte ihnen auch, daß ich vielleicht nicht die richtige Therapeutin für sie bin, weil meine eigenen erwachsenen Töchter sich von mir entfremdet hatten. Ich sagte dies aus dem Grund, weil ich vielleicht zu sehr versucht hatte, sie zusammen zu bringen. Ich fühlte mich zunehmend ungehalten über die Mutter, weil sie so wütend war, aber nachdem ich meinen Ärger ausgedrückt hatte, fühlte ich, wie mein eigener Ärger verschwand. Das erste, was die Mutter danach zu mir sagte, war: „Warum bezahlen wir Sie dann für die Therapie?“ Eine Weile später wandte sie sich aus heiterem Himmel ihrer Tochter zu und sagte: „Ich möchte, daß Du weißt, daß ich Dich nicht für meine Depressionen seit Omas Tod verantwortlich mache.“ Danach hatten Mutter und Tochter ihr erstes positives Gespräch nach drei Jahren. Frage: Ich bin mir nicht sicher, inwiefern dieser Fall konstruktivistisches Denken widerspiegelt.Hoffman: Ich glaube insoweit, daß ich zurücktrat und mich daran erinnerte, welcher Teil meiner eigenen „Geschichte“ mich beeinflußt haben könnte und diese Reflexion mitteilte. Früher hätte ich das Paar als mir "Widerstand Leistende" bezeichnet und hätte mir wahrscheinlich ein paar Gegenmanöver ausgedacht. Ich hätte nicht auf meine Gefühle geachtet. Besonders hätte ich nicht meine Schwierigkeiten mit meinen Töchtern diskutiert. Natürlich gab es auf der Ebene der Techniken einiges, das man als „konstruktivistisch“ bezeichnen könnte. Zum Beispiel, wie Mutter und Tochter „Wirklichkeit“ konstruierten, war nicht besonders hilfreich, deshalb bot ich einen anderen Weg an, sie zu konstruieren, so daß sich beide wohl fühlten. Das Problem war immer noch da, aber ich versuchte, seine Bedeutung zu verschieben. Aber meine Haltung unterschied sich von der aus früherer Zeit. Als ich aufhörte, eine „Expertin“ zu sein, wurde ich auch weniger distanziert und anonym. Ich zeige jetzt eine viel persönlichere Seite von mir, und ich gebe Fehler zu, wenn ich im Unrecht war. So viele Familientherapiemodelle halten an TherapeutInnen fest, die auf der Bergspitze stehen, oder sich hinter einem Spiegel verstecken. Ich fühle mich damit zunehmends unwohler.“ (Zitat aus: Lynn Hoffman (1996) Wie eine freundliche Herausgeberin: Richard Simon interviewt Lynn Hoffman. In: Therapeutische Konversationen. Von Macht und Einflußnahme zur Zusammenarbeit in der Therapie – Die Entwicklung systemischer Praxis“, Dortmund verlag modernes lernen; Zitat S.85-86. Das Buch ist Band 13 der Serie „systemische studien“, eine von Jürgen Hargens bis vor wenigen Jahren auf den Weg gebrachte Sammlung. Das waren noch Zeiten)
Monday, October 12. 2009
«Es ist nicht zu verkennen, dass in der modernen westlichen Gesellschaft die Sexualscham von der Statusscham fast völlig verdrängt worden ist. Noch für Sigmund Freud war die Scham ein Damm gegen die (sexuell motivierte) Schaulust. Man vergleiche nur kurz jene Epoche, in der der junge Freud zutiefst erschrak, während einer Fahrt im Schlafwagen matrem nudam zu sehen (noch als Erwachsener musste er das in lateinischen Worten niederschreiben), mit der gegenwärtigen und mit ihrem Fernsehprogramm, das ja auch Kindern im Alter des kleinen Sigmund mühelos zur Verfügung steht. In einer Zeit, in der Jugendliche durchaus in der Lage sind, sich auf dem Schulhof während der Pause zum Zeitvertreib via Handy überreichlich Sex- und Gewaltdarstellungen zu betrachten, leben wir offenkundig unter völlig anderen Bedingungen als einst in der viktorianischen oder in der wilhelminischen Ära. Natürlich hat es auch früher Status-Scham gegeben, aber sie bezog sich meist auf den Ehrencodex privilegierter Schichten: „Spielschulden sind Ehrenschulden“, das ist das Motto, das in Arthur Schnitzlers Meisternovelle „Spiel im Morgengrauen“ den jungen Leutnant Willi Kasda zum Suicid treibt, dem Aias im Grundsatz durchaus ähnlich. Heute ist die Status-Scham demokratisiert und infolgedessen ubiquitär; sie bezieht sich vor allem auf die Verfügbarkeit über Gebrauchsgüter und Verhaltensoptionen. Einem Kollegen von mir ist es tatsächlich widerfahren, dass seine pubertierende Tochter ihn erbost zur Rede stellen wollte, weil er während des Schulfestes telefoniert hatte: „Wie kannst du mich nur so blamieren! Mit so einem alten Handy!“ Das Wort „peinlich“ fällt nicht ohne Grund in der Sprache der Jugendlichen äußerst häufig. Die Scham dieser Jugendlichen von heute kristallisiert sich in erster Linie an der Unfähigkeit aus, Dockers-Schuhe, Diesel-Jeans und T-Shirts zu tragen. Auch hier wird die Bedeutung der visuellen Sphäre deutlich: Man schämt sich jetzt wie einst für den Anblick, den man bietet – aber nicht nackt und bloß, sondern uncool und ohne Markenware.» (In: „ Scham und Schaulust, Macht und Ohnmacht…“. Vortrag im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007, Foto: das.syndikat.com)
Sunday, October 11. 2009
DIE NATUR GIBT NOCHMAL RICHTIG GAS.
FARBEN IM ÜBERDRUSS.
DAS LAUB DUFTET NACH ABSCHIED.
ES WIRD ZEIT NACH HAUSE ZU GEHEN.
ANKOMMEN. MIT DER LIEBSTEN EINEN KAKAO TRINKEN.
ABENDS GREIFT DER WINTER NACH UNS.
KEINE CHANCE,
DAFÜR IST DER KAKAO VIEL ZU SÜß.
(Jens Borrmann, "Kopfsprung")
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