Saturday, August 29. 2009
 "Der rationalistischen Identität steht das zweite mögliche Selbstverständnis, das auf die postempiristische Wende reagiert, diametral entgegen: die postmodernistische, radikal-konstruktivistische Identität. Einerseits scheint die postmodernistische Haltung in mancher Hinsicht das zu explizieren, was implizit in der praktischen Logik des multparadigmatischen Wissenschaftsalltags mehr und mehr sedimentiert ist. Anderereits stellt sich eine offensiv radikalkonstruktivistisch oder postmodern orientierte Position in der Wissenschaftslandschaft als eine Minderheitsposition dar. Die radikalkonstruktivistische  Option baut eindeutig auf jener Annahme auf, die Lyotard die Möglichkeit der 'Inkommensurabilität der Sprachspiele' nennt: Wenn es keinen Weg gibt, um eine Korrespondenz zwischen wissenschaftlichen Aussagen und einer vorsprachlichen Welt der Tatsachen auszumachen, dann lässt sich auch keine neutrale prozedurale Instanz begründen, die die Gültigkeit eines wissenschaftlichen Aussagesystems gewissermaßen innerkommunikativ prüfen kann. Dass diese neutrale Prüfungsinstanz ausfällt, stellt sich aus dieser Perspektive jedoch nicht als ein Verlust dar - ein Verlust an Sicherheit zugunsten einer haltlosen Arbitrarität -, sondern als ein Gewinn, als die Chance einer Öffnung und des theoretischen Experiments." In: Thorsten Bonacker u.a. (Hrsg.): Die Ironie der Politik. Über die Konstruktion politischer Wirklichkeiten, Frankfurt (Main)/ New York 2003, S. 85- 103, S. 92)
Friday, August 28. 2009
 „As a very basic starting point, identity is the human capacity – rooted in language – to know ‘who’s who’ (and hence ‘what’s what’). This involves knowing who we are, knowing who others are, them knowing who we are, us knowing who they think we are, and so on: a multi-dimensional classification or mapping of the human world and our places in it, as individuals and as members of collectivities (cf. Ashton et al.2004). It is a process – identification– not a ‘thing’. It is not something that one can have, or not; it is something that one does.“ (In: Social Identity. London New York 2008, Routledge, S. 5)
Continue reading "Zitat des Tages: Richard Jenkins"
Wednesday, August 26. 2009
 «What is central to everything above, then, is the move away from the idea of speech communication as being a process of information transmission, of the speaker as a source of information, of speech being a common code into which one puts one‟s thoughts, and of listeners as simply being decoders who have to task of arriving at the speaker‟s thought. This „model‟ of the communication process eradicates the role of two major aspects of the communication situation: (1) The spontaneous, living, expressive-responsiveness of our bodies, thus leaving listeners as passive listeners – in this situation, “the active role of the other in the process of speech communication is... reduced to a minimum” (Bakhtin, 1986, p. 70). (2) The other, is the role of what I have called the „determining surroundings‟ of our utterance, the (often invisible) surroundings which, in our being spontaneously responsive to them in the voicing of our utterances, on the one hand, give shape not only the intonational contours of our utterances, but also to their whole style, to our word choices, to the metaphors we use and so on. But which, on the other, orients us toward the „place‟ of our utterances in our world, toward where they should be located or toward what aspect they are relevant, and toward where next we might we might go, i.e., their point – what they are trying to „construct‟ in speaking as they are. In other words, it is crucial to bring our words back from their „free-floating‟ use – whether it be in committee or seminar rooms, in psychotherapy, in strategic planning in businesses, on the internet, or in just general conversations in sitting rooms – to their use within a shared set of “determining surroundings.” That is, it is crucial if we are to understand how the “specific variability” in a speaker‟s expressions are expressive both of his or her unique „inner world‟, and of the unique „point‟ he or she wants to express, to make, in relation to their world.» In: Moments of Common Reference in Dialogic Communication: A Basis for Unconfused Collaboration in Unique Contexts. In: International Journal of Collaborative Practices 1 2009.
Tuesday, August 25. 2009
 «Was vor allem auffällt, ist, daß die Theorie, die wir mit einer gewissen Nonchalance die der Bielefelder Schule nennen, sich nicht ganz schlüssig darüber ist, worauf sie eigentlich referiert, wenn sie die relevante Umwelt sozialer Systeme in den Blick nimmt. Sie hat sich nicht endgültig entschieden, ob sie diese Umwelt als psychische Umwelt mit dem Terminus des psychischen Systems belegen soll, mit dem des Bewußtseins oder gar mit dem des personalen Systems. Beobachtbar und bemerkenswert ist, daß Niklas Luhmann im Laufe seiner Arbeit an der Theorie mehr und mehr das Bewußtsein als genuines Pendant sozialer Systeme auffaßte, ein Umstand, der auch mit seiner tiefen Verankerung in den klassischen Bewußtseinsphilosophien zu tun hat. Eine systematische Ursache dafür ist aber, daß der Begriff des Psychischen mit Unschärfen der verschiedensten Art aufwarten kann, vor allem mit Grenzunschärfen, die es sehr schwer machen, originär Psychisches vom Somatischen zu unterscheiden, also irgendein Material oder ein Medium zu finden, durch das Psychisches tiefenscharf bezeichnet wäre. Die Psyche hat zuviel Kontakte zu Vorstellungen des Fluidalen, Ätherischen, Formlosen, als daß sie sich ohne Verrenkungen ‹systemisieren› ließe, wenn (wie es in der hier verhandelten Theorie üblich ist) Klarheit über Grenzen herrschen muß, sobald man über Systeme reden will. Die bislang bedeutsamste, weil folgenreichste Theorie des Psychischen (also Freuds Theorie) ist dann auch eine Theorie von Unschärfe-Übergängen zwischen psychischen Instanzen oder Territorien, von energetischen, somatischen, psychischen und (wenn man den Ödipus oder die Urphantasien einbezieht) sozialen Trajekten, und so ist es vermutlich kein Zufall, daß Freud den Begriff des Systems nicht sehr schätzte. als es ihm um die Ausarbeitung des psychischen Instanzenzuges ging.» (In: "Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person, die Psyche, die Signatur". transcript, Bielefeld 2003, S. 48).
Monday, August 24. 2009
 »Ziehen wir innerhalb eines größeren Systems eine Grenzlinie um einen kleineren Teil, der überwiegend für dessen Steuerung und Berechnung (Computation) verantwortlich ist, dann schaffen wir ein mythisches Wesen. Dieses Wesen nennen wir gewöhnlich ein ‹Selbst›. In meiner Epistemologie zeigt sich der Begriff des Selbst gleich anderen künstlichen Setzungen, welche Systeme oder Teile von Systemen abgrenzen, als Merkmal einer gegebenen Kultur - und keinesfalls als etwas zu Vernachlässigendes, da solche kleinen epistemologischen Ungeheuer immer die Tendenz haben, zu Kristallisationspunkten für Pathologie zu werden. Die willkürlich gesetzten Grenzen, die der Analyse von Daten nützlich waren, stecken nun allzu leicht die Fronten für Schlachtfelder ab, über die hinweg nun Feinde getötet und Umwelten ausgebeutet werden.» (Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie. In: Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 270-301)
Sunday, August 23. 2009
 «Es gibt historische Gründe für die Erfindung des Seeleninnenraums, der uns zur zweiten Natur geworden zu sein scheint. Diese Gründe hat H. Schmitz (1967, 365-504; 1969, 403-520) durch umfangreiche Analysen der semantischen Felder gefühlsbezogener Ausdrücke erläutert. Er hat deutlich gemacht, daß im Zeitalter der großen Tragiker und ersten Philosophen die griechische Kultur eine entscheidende, historisch weitreichende Umcodierung im Verständnis der Gefühle vorgenommen hat. In der homerischen Zeit und teilweise noch bei den Tragikern herrschte folgende Vorstellung: alle Gefühle waren leiblich; sie wiesen differenzierte räumliche Formen und Richtungen auf (wodurch sie sich unterschieden als Zorn, Mut, Angst, Eros etc.); sie wurden als Mächte verstanden, die den Fühlenden unwiderstehlich ergreifen und durchwirken (weswegen der Fühlende den Gefühlen gegenüber in eine eigentümlich exzentrische und passive Position geriet). Schließlich stellten das Dämonische, Numinose und Theurgische eben diese Gefühlsmächte dar. Es gab keine Interiorisierung von Gefühlen, kein Seelengehäuse mit eigenem autonomen Haushalt. In dieser Auffassung sieht Schmitz eine Erfahrung und ein Verständnis von Gefühlen aufgehoben, wie sie den phänomenologischen Befunden weitgehend entsprächen. Mit der ersten, griechischen Aufklärung ist indessen ein Umschwung zu beobachten: immer mehr kommt es auf die Handhabbarkeit der Gefühle an, darauf, daß man Gefühle zwar hat, aber beherrscht, daß Instanzen im Ich aufgebaut werden, welche Abstände zu den Gefühlsmächten markieren und Zonen der Besonnenheit und Ermächtigung bilden. Abgezielt wurde jetzt darauf, daß jene Preisgabe an Gefühle, die nicht etwa nur die Schwachen, sondern auch die Helden kennzeichnete, gebrochen wird zugunsten eine Art Einhegung und Hortung. Es ging also darum, jene porösen Ich-Strukturen zu schließen und zu befestigen, die den Menschen sonst dem Gewoge der Weltkräfte (wozu die Gefühlsmächte ebenso gehörten wie Kräfte der Natur) auslieferten und zum offenen Schauplatz der Gefühlsereignisse machten. Das war die strategische Funktion zur Erfindung der Seele: sie wurde der absolute (also der aus der Welt herausgenommene) Raum, in welchen die Gefühle implantiert wurden, mittels Verinnerlichung oder Introjektion.» (In: " Gefühle". In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch der Historischen Anthropologie; München 1996, S. 525–548; Foto: http://www2.culture.hu-berlin.de/hb/)
Saturday, August 22. 2009
 "Wenn etwas unerreichbar ist, so ist es der Traum von der Natur als homogener Einheit, um die verschiedenen Ansichten der Wissenschaften von ihr zu vereinheitlichen. Dazu müßte man zu viel ignorieren, zu viel Geschichte, zu viele Kontroversen, zu viele unerledigte Aufgaben und lose Enden. Reduzierte die Phänomenologie die Wissenschaft auf die menschliche Intention und überließ sie damit ihrem Schicksal, so wäre die umgekehrte Bewegung, die Menschen als »Naturphänomene« zu studieren, noch schlimmer: Wir müßten die reiche und kontroverse menschliche Wissenschaftsgeschichte aufgeben - und wofür? Für die Normalverteilungs-Orthodoxie einiger Neurophilosophen? Für einen blinden darwinistischen Prozeß, der die geistige Aktivität auf einen Kampf ums Überleben beschränkte, auf die »Tüchtigkeit« für eine Realität, deren wahre Natur uns für immer entginge? Nein, nein, wir finden sicher eine bessere Möglichkeit, wir können die Abwärtsbewegung aufhalten, unsere Schritte zurückverfolgen, und damit nicht nur die Geschichte der Verwicklung der Menschen in das Hervorbringen wissenschaftlicher Fakten bewahren, sondern auch die Verwicklung der Wisenschaften in das Hervorbringen der menschlichen Geschichte." (In: "Die Hoffnung der Pandora", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 18)
Thursday, August 20. 2009
 «In der modernen Gesellschaft lockert sich der enge Zusammenhang von Adressenbildung und Personalisierung. Der Grund dafür liegt in der Unterscheidung von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen, die in vieler Hinsicht die alte Unterscheidung von Freunden und Feinden ablöst. Freunde waren mit Name und Adresse bekannt und in der Beobachtung personalisiert; Feinde hatten eher eine kollektive Adresse, und für die Erwartungsbildung ihnen gegenüber war Personalisierung entbehrlich. Wie Luhmann heute noch mit Bezug auf Exklusionsbereiche wahrzunehmen glaubt: Man beobachtete sie als Körper und nicht als Person. In dem Maße aber, in dem unpersönliche Beziehungen, z.B. rein geschäftliche – oder auch: rein sexuelle – Beziehungen, selbstverständlicher und risikoärmer werden, löst sich die Adressenordnung von dem Erfordernis höchstpersönlicher Kenntnis. Bekanntschaft wird dann zu einem Schlüsselphänomen der modernen Gesellschaft. Man verfügt über einen komplexen Set von Adressen, ein Netzwerk von Bekannten, und dieses fungiert als die moderne Form von Sozialkapital, aber der Grad der persönlichen Vertrautheit mit diesen Bekannten variiert sehr stark.» (In: Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher, Eckhard Schumacher (Hrsg.): Die Adresse des Mediums. DuMont Buchverlag, Köln 2001, S. 28).
Wednesday, August 19. 2009
 "Ich halte wenig davon, den anderen so zu modellieren, dass er der Richtige wird. Es gibt zwei verschiedene Arten, ein Kunstwerk zu erzeugen. Bilder entstehen, indem einer leeren Leinwand Farbe hinzugefügt wird. Bei Skulpturen schlägt der Bildhauer überflüssigen Marmor weg. Die Ehe funktioniert nach dem zweiten Prinzip. Die Vernunft liegt im Weglassen problematischer Dinge. Dazu gehören etwa die Idee von der Herstellbarkeit des Glücks, der Anspruch auf Gleichheit und die Vorstellung, Probleme wären lösbar." (In: "Reine Liebe ist mit dem Leben unvereinbar" FAZ-Net-Interview am 19.8.)
Tuesday, August 18. 2009
 «Auf der Ebene aktiver Politik beobachten Politiker sich selbst und andere im Hinblick auf das, was von einem Handeln zu halten ist, das sich dem Beobachtetwerden aussetzt. In der Politik selbst geht es, wie am Markt, um ein Verhältnis der Konkurrenz. Aber die Konkurrenz wird inszeniert mit Rücksicht darauf, daßauch sie beobachtet wird von Beobachtern, deren Mitwirken als Publikum unterstellt wird. Anders als am Markt gibt es keine Preise, deren Beobachtung (in ihrer Veränderung ebenso wie in ihrer Relation zum Absatz) das Beobachten der Beobachter erleichtern würde; aber es gibt laufend fortgeschriebene Geschichten, in denen man den eigenen Namen und die anderer wiederfindet und als Resultat von Beobachtungen beobachten kann. Und es gibt, anstelle von Preisen, Moral. Dem Publikum erleichtert (oder so denkt man jedenfalls) die Beobachtung der einander beobachtenden Beobachter die Entscheidung in der politischen Wahl. Und dafür genügt es, sich die Beobachtungsverhältnisse zu vereinfachen und davon auszugehen, daß die Politiker als Handelnde, also als Beobachter erster Ordnung, zu beobachten sind. Auf allen Ebenen macht sich das politische System Vereinfachungen dieser Art zunutze—und verzichtet eben damit auf konvergierende Integration der Beobachtungsverhältnisse. Statt dessen hilft die Unterstellung aus, daß hinter den Kulissen ein anderes Spiel gespielt wird als auf der Bühne. Das kann man dann durchschauen, was aber nichts ändert.» (In: Die Politik der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000).
Monday, August 17. 2009
 «In der Unterscheidung von Risiko und Sicherheit ist "Risiko" nolens volens der negative und "Sicherheit" der positive Terminus. Dann muss man Risiken vermeiden, um Sicherheit zu erreichen. Und damit wird man von seiner eigenen Semantik in die Irre geführt, denn es bleibt ja dabei, dass man mit Risiken Geschäfte macht und mit deren Strukturierung (Bündelung, Trennung und Verteilung) den Erfolg seiner Geschäfte sichert. Unterscheidet man zwischen Risiko und Gefahr, wird "Gefahr" der negative und "Risiko" der positive Terminus und man ist auch sprachlich auf der Höhe dessen, was man praktisch tut. Das ist der Grundgedanke. Luhmann ergänzte ihn dann noch dadurch, dass er festhielt, dass Risiken die Ergebnisse eigener Entscheidungen sind - keine Entscheidung, kein Risiko beziehungsweise nur das Risiko der Nichtentscheidung -, während Gefahren unbeeinflussbar so oder so eintreten.» (In: FAZ im Gespräch mit Dirk Baecker vom 24.6.2009)
Sunday, August 16. 2009
 «Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, daß Psychotherapie zwei gleichwertige Phasen bzw. Ziele hat. Das erste Ziel ist, die Tiefenstruktur eines Narrativs aufzudecken und in eine Oberflächenstruktur zu transportieren. Dieser Prozeß unterscheidet sich von dem traditionellen Vorgehen der Psychoanalyse. Die psychoanalytische Theorie geht von einem unbewußten verdrängten Wissen aus oder von Abwehrmechanismen bzw. dem Widerstand, etwas zu berichten. Die traditionelle Aufgabe der psychoanalytischen Arbeit ist das Aufheben dieses Widerstandes bzw. der Abwehr. Somit kommt das Material zum Vorschein. Meines Erachtens funktioniert dieser Vorgang nicht für das sog. implizite unbewußte Wissen, das nicht psychodynamisch verdrängt ist. Dieses Material wird nicht abgewehrt, sondern es befindet sich in dem Raum des Nicht-Bewußten, der nonverbalen Existenz. So scheint die Frage zu sein, was man machen kann, um dieses implizite Wissen in eine Oberflächenstruktur zu verwandeln, so daß ein Narrativ erzählt werden kann. Im zweiten Schritt, falls es sich um eine psychodynamische Behandlung handelt, geht es um die Deutung. Damit können die narrativen Strukturen, die auftauchen, zueinander in Beziehung gebracht werden und es wird ein sog. Meta-Narrativ konstruiert. Um das Material deuten zu können, muß bereits eine Oberflächen-Struktur vorhanden sein. In diesem Sinne deckt die Deutung nicht etwas auf, sondern sie kann die Voraussetzung für eine "Entdeckung" schaffen. Im folgenden würde ich nun gerne auf diesen "Entdeckungsprozeß" eingehen, da dieser Prozeß nicht dasselbe ist, wie Abwehr aufzuheben oder Verdrängung aufzulösen. Ein Beispiel für das implizite Wissen wäre das Küssen: Jeder weiß, wie man küßt und wie es sich anfühlt geküßt zu werden. Wahrscheinlich haben Sie dies noch nie in Worte gefaßt und falls man es versuchen würde, wäre es sehr merkwürdig, weil man vermutlich sagen würde: "Man benützt die Muskeln im Mund usw." Es würde wahrscheinlich eine dreiviertel Stunde benötigen, um dies zu erklären, und man würde das Essentielle gar nicht erfassen. Was man eigentlich machen müßte, um zu erklären, wie man küßt und wie es sich anfühlt, wäre in Versform zu sprechen oder Metaphern und Analogien zu benützen, die diese Erfahrung kurzerhand erfassen würden, weil es keine Art und Weise gibt, dies in Worten zu erläutern. Dies ist wesentlich, da es hier nicht um Verdrängung geht; es ist eine andere Sprache, auch wenn die Grundstruktur die gleiche für beide ist (Tiefen- und Oberflächenstruktur) - die gleiche narrative Struktur, die zielorientiert und motiviert ist.» (In: " Das Narrative Selbst…)
Friday, August 14. 2009
 «Beschämung, oft ritualisiert, spielt eine bedeutende Rolle in „gesetzlosen“ Randzonen und Subkulturen, beispielsweise dann, wenn Zuhälter Frauen zum „Anschaffen“ zwingen oder wenn die Initiation in eine Jugendgang vollzogen wird. Sie ist aber auch von großer Bedeutung gerade in jenen Institutionen, die der Jurist als „besondere Gewaltverhältnisse“ definiert, weil in ihnen die verfassungsmäßigen Grundrechte weitgehend außer Kraft gesetzt sind: In der Bundeswehr, in der Schule, in der Haftanstalt, im psychiatrischen Krankenhaus, jedenfalls in der „geschlossenen Abteilung“ und im „Maßregelvollzug“. Die Suspendierung von Rechtsnormen ruft offenbar, fast im Sinne einer conditio humana, stets zahlreiche Miniaturtyrannen auf den Plan, die Kapos und Schleifer vom Format des Unteroffiziers Himmelstoß in Remarques „Im Westen nichts Neues“. In ein gesellschaftliches Vakuum tropft die Niedertracht hinein wie Flüssigkeit in einen Hohlraum. Wird die Niedertracht allerdings zum System erhoben, kann die rituelle Beschämung durchaus zum vorwaltenden Interaktionsmuster werden.» (In: „ Scham und Schaulust, Macht und Ohnmacht…“. Vortrag im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007, Foto: das.syndikat.com)
Thursday, August 13. 2009
 "Für Luhmann verstand es sich von selbst, dass er sich als Soziologe nicht bevorzugt mit Affekten beschäftigte. Das entspricht der alteuropäischen Arbeitsteilung zwischen der Soziologie und der Psychologie, in der sich die Soziologie als die Beobachterin der Gesellschaft betätigen soll und der Psychologie die Beobachtung psychischer Prozesse zugewiesen wird. Da das vordringliche Interesse des Soziologen Luhmann der Beobachtung von sozialen Systemen galt, wurden von ihm die Affekte und individuellen Motivationen der Mitglieder von sozialen Systemen unter den Bedingungen der Umwelt von sozialen Systemen abgehandelt. Wie weit Luhmanns Ansatz als brauchbares Paradigma auf supervisorische Prozesse übertragen werden kann, ist unter den VertreterInnen der systemischen Supervision noch nicht ganz ausdiskutiert. Luhmann selbst macht in bezug auf die Praxis der „Systemtherapie“ auf Probleme aufmerksam, die mit der allzu einfachen Adaptierung der Allgemeinen Systemtheorie einhergehen, die ja eben nicht für die Beobachtung von Beratungssystemen wie der Therapie oder der Supervision entwickelt wurde, sondern für die Beobachtung der Gesellschaft. Halten wir fest: Wenn systemische Therapeuten (…) oder systemische Supervisoren (…) sich allzu einseitig an die Allgemeine Systemtheorie des Niklas Luhmann angeschlossen haben, dann bleibt für die Beobachtung von Emotionen wenig Platz und diese Beobachtung wird sehr schnell vernachlässigt oder abgedunkelt, wie die Differenztheorie von George Spencer-Brown es weniger wertend nennt. Gelingt aber diese Abdunkelung, kann man in der Tat einen Widerspruch zwischen Systemischer Supervision und Emotion konstruieren. Im Brennpunkt steht dann vorzüglich die Beobachtung der Beobachter, die Beschreibungen einer Vielzahl von Perspektiven, die Beobachtung von unterschiedlichen Aussagen, Begründungen, Bewertungen, die Beobachtung der Selbstorganisation des Systems und seiner Zirkularität, dazu die Kommunikationsmuster des Systems und die angestrebte Lösungsorientierung. Das sind alles Termini, die Kognition konnotieren, die Systemrelationen beschreiben und nicht Personen mit ihren Affekten, Emotionen und Gefühlen." (In: Systemische Supervision und Emotion – ein Widerspruch? in: Heinz J. Kersting, Heidi-Neumann-Wirsig (Hrsg.) Supervision intelligenter Systeme. Supervision, Coaching, Organisationsberatung. Aachen 2004).
Wednesday, August 12. 2009
 "Märkte sind dumm, ungerecht und moralfrei, denn sie verfolgen keine eigenen Ziele. Und das ist auch gut so. Denn nur aufgrund ihrer Blindheit gegenüber nichtwirtschaftlichen Bewertungen lassen sich wirtschaftliche Mechanismen für ganz widersprüchliche Werte und Zwecke nutzbar machen. Man kann Unternehmen gründen, um Profite zu erwirtschaften, Geld spenden, um die Welt zu verbessern, oder arbeiten, um seine Familie zu ernähren. Der Wirtschaft ist egal, wofür ihre Zahlungen erfolgen, solange überhaupt gezahlt wird. Deshalb ist es auch müßig, Managern Gier vorzuwerfen oder von den Akteuren des Wirtschaftssystems eine besondere Ethik zu verlangen. Wirtschaft funktioniert vollkommen unabhängig von den guten oder bösen Absichten und Motiven ihrer Teilnehmer. Deshalb sollte man gesellschaftliche Sinnfragen genauso wenig von Ökonomen beantworten lassen, wie man sich von seinem Arzt den Sinn des Lebens verordnen lassen sollte." (In: Zukunft des Kapitalismus (17): Der Untergang findet nicht statt. FAZ vom 7.8.09)
Tuesday, August 11. 2009
"Wenn Maturana behauptet, Repräsentationen könnten nicht existieren, weil das Nervensystem eben nur mit internen Zuständen umgeht, dann übersieht er dabei, dass »Repräsentation von etwas« eine zweistellige Relation ist. Das Vorliegen einer solchen Relation kann also per definitionem nur von einem Beobachter festgestellt werden, der Zugang zu beiden Relata (System und Umwelt) hat. Diese Beschreibung dann als verzerrt zurückzuweisen, eben weil sie von einem Beobachter vorgenommen wurde, übersieht, daß eine Beschreibung »aus Sicht des Gehirns« vollkommen sinnlos ist. Gleichzeitig privilegiert Maturana dadurch seine eigene Beschreibung allen anderen gegenüber als die »zutreffendere« ohne Gründe dafür anzugeben oder seine Argumentation zu relativieren; denn auch Maturana befindet sich »nur« in einer »verzerrenden« Beobachterposition. Maturanas Verallgemeinerung der Unabhängigkeit von Wahrnehmung und Umweltreizen muß als schlichtes Wunschdenken entlarvt werden. Maturanas eigene Experimente beziehen sich nur auf den Bereich der Farbwahrnehmung und selbst wenn diesbezügliche Schlußfolgerungen auch nur wahrscheinlich wären, so ist für andere Sinnesmodalitäten gerade auch das Gegenteil gezeigt worden." (In: "Systemisches" systemischer Therapie. S. 29 www.magst.de
Monday, August 10. 2009
 "Pushen und Bremsen sind die beiden Seiten einer Münze und das dialektische Grundprinzip der Beratung, wohl aber auch der ganz normalen Führungsarbeit in Unternehmen. Berater und Führungskräfte gleichermaßen sind verpflichtet, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Lampen dorthin zu leuchten, wo die Organisation nichts oder wenig wahrnimmt. Insofern haben beide immer auch einen paradoxen Auftrag, nämlich das zu beleuchten, was weder politisch in die Landschaft paßt, noch gerade als Thema hoch im Kurs steht. Andererseits ist eine allzu harmonische und übereinstimmende Sicht der Dinge zum Beispiel zwischen Auftraggeber im Unternehmen und externem Berater größtenteils unproduktiv, nicht hilfreich und damit ein wesentliches Hauptnutzenargument für die Zusammenarbeit mit Externen unerfüllt, weil Vorhandenes bestätigt und Fehlendes nicht eingebracht wird. Der Berater muß beim Eindringen in das System - was andererseits für vernünftige Änderungsarbeit unabdingbar ist - dafür sorgen, daß er nicht verschmilzt. Die wußte kritische Distanz ist der beste Arbeitsstandort." (In: "Von Familien und größeren Unternehmen - Parallelen und Grenzen einer gemeinsamen systemischen Betrachtung. In: Rainer H. Wagner (hrsg.): Praxis der Veränderung in Organisationen. Verlag für angew. Psychologie. Göttingen 1994, S. 113).
Sunday, August 9. 2009
 "Menschen arbeiten ihr ganzes Leben daran, ihre vielfältigen und täglich verfeinerten Erfahrungen mit ihrem Kontext, ihrer «Einbettung» zu intuitivem Wissen und Handeln zu destillieren. Hubert Dreyfus, ein Philosoph und kritischer Kenner der KI, wies darauf hin, dass menschliche Experten sich nicht nach Regeln richten, mit denen sie isolierte Fakten und Information verknüpfen würden. Menschen erlangen lntelligenz und Expertise offenbar auf eine Weise, die das glatte Gegenteil der Funktionsweise von regelgeleiteten Computersystemen ist. Wahre Experten haben ihr Wissen sprichwörtlich verkörpert: Experten «fühlen», wenn sie richtig liegen, und «sehen» einen guten Lösungsweg. Logische Ableitungen aus Regeln und Fakten, schulgerechtes Schlussfolgern sind dagegen eher die klapperigen Hilfsmittel des Anfängers, des «Novizen». Wahre Expertise verlangt Embodiment!" (In: Maja Storch et al.: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Huber, Bern 2006, S. 14).
|