Tuesday, June 30. 2009
"
 Ein zentrales Problem der disziplinären neurowissenschaftlichen Perspektive auf Gedächtnis besteht darin daß sie auf das Individuum fokussiert. Diese individualistische Perspektive kann nicht erfassen, daß sich das Gedächtnis in einem sozialen Vorgang ausbildet und strukturiert - was das spezifisch Humane am Menschen ist und dafür sorgt, daß aus Information etwas viel Komplexeres wird: Erinnerung. In einem sehr weitgehenden Sinn gilt das aber auch für die sozialwissenschaftliehe Betrachtungsweise, wenn man eine interaktionistisch orientierte Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung dazu zählen möchte. Denn auch hier wird implizit davon ausgegangen, daß Individuum und Sozialität zwei verschiedene Entitäten seien, und entsprechend richtet sich dann die Kardinalfrage aller Sozialwissenschaften darauf, wie aus einem asozialen Wesen ein gesellschaftliches wird, oder, andersherum, wie eine Gesellschaft, die aus lauter Individuen besteht, mehr sein kann als die bloße Addition handelnder Menschen. Wie zahlreiche Wissenschaftler vor uns auf unterschiedlichste Weise herausgearbeitet haben, ist diese Perspektive so hinderlich wie die Vorstellung, das autobiographische Gedächtnis sei etwas substantiell Individuelles. So hat etwa der Soziologe Norbert Elias schon vor einem Dreivierteljahrhundert darauf hingewiesen. daß wir die Psycho- und Soziogenese des Menschen nur dann zureichend verstehen können, wenn wir den zugrunde liegenden Prozeß als einen begreifen, der sich grundsätzlich innerhalb einer Figuration von Menschen abspielt, die vor dem sich entwickelnden Kind da war. dessen gesamte Entwicklung nach der Geburt also von den kulturellen und sozialen Handlungen und Techniken abhängt, die diese Figuration co-evolutionär entwickelt hat." (In: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, S. 260f.)
Monday, June 29. 2009
 "Auch für Raum kann die funktionale Brille Interessantes beisteuern (…). Die gemeinsame Erfahrung des (jeweiligen) Raums führt nämlich sozial zu der Herausbildung von Raumsemantiken. Systemtheoretisch ist Hier/Dort die basale Raumdifferenz für Beobachter. An diese knüpfen in der Systemgeschichte elaboriertere Unterscheidungen an, je nachdem wie diese Unterscheidung mit weiteren Unterscheidungen versorgt wird (z.B. im Fall von Räumen, die als Container konstruiert werden wie ,Nationalstaat'). Personen sind in Containermodellen drinnen oder draußen: Raumkommunikation ist daher immer Komrnunikationsvermeidungskommunikation (im Gegensatz zur Netzwerkkommunikation)! Weil Räume (als physisch erzwungene Barrieren) die Möglichkeit zu Kommunikationsabbruch mitführen, erfüllen sie jedoch eine unverzichtbare soziale Funktion: man muss nun nicht mehr kommunizieren. Positiv betrachtet kommt dem Raum daher eine sozial ganz wichtige Coping- und Schutzfunktion zu: jetzt kann man sich vor Kommunikation, vor zu viel - zuerst noch angenehmer - Gesellschaft schützen." (In: Die Paxis der Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung. Schneider Verlag Hohengeren, Baltmannsweiler 2009, S. 179).
Thursday, June 25. 2009
"Ich akzeptiere, daß mein Diskurs erlischt wie die Gestalt, die bis hier seine Trägerin war" (In: Archäologie des Wissens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt)
Wednesday, June 24. 2009

"Der Trend zur Professionalisierung von Beratung ist in Deutschland und Europa ebenso zwingend wie sicher, wenn auch umstritten (…). So offenbaren zwar verschiedene Indikatoren einen aktuellen Professionalisierungsschub: zunehmende Publikationsraten zum Thema, Beratung als Gegenstand wissenschaftlicher Gesellschaften, erste Bestrebungen zu einer Beratergesetzgebung, erste Ethikrichtlinien sowie neuere grundständige und weiterbildende akademische Beratungsstudiengänge. Angesichts der Beratungskonzepte und Praxisfelder bleibt heute jedoch noch unklar, welche Richtung die Professionalisierung einschlagen wird und einschlagen sollte. Die Entwicklung der Psychotherapie in Deutschland, die mit dem Psychotherapeutengesetz einen exklusiv ausgrenzenden und an einem engen medizinischen Berufsverständnis orientierten Weg eingeschlagen hat, scheint kein geeignetes Vorbild zu sein. Eine berufsoffene und interdisziplinäre Professionalisierung, orientiert an gesundheits-, sozial- und bildungspolitischen statt an berufspolitischen Zielen (wie dem eigenen "beruflichen Überleben" in der Konkurrenz der Angebote, …) dagegen würde der Vielfalt der Beratungsbedürfnisse und Bedarfslagen des 21. Jahrhunderts eher entsprechen. Beratung muss heute und zukünftig eine professionelle Aufgabe und berufliche Tätigkeit vieler Berufsgruppen im Sozialbereich, Bildungswesen und Gesundheitssektor sein. Interdisziplinäre Kooperation in multidisziplinären Hilfeeinrichtungen und Hilfenetzwerken muss disziplinäre Borniertheit und berufsständisches Eigeninteresse konterkarieren, um Beratung in der Zukunft zu einem effektiven und nachhaltigen Unterstützungsangebot für alle Menschen, die sie brauchen, zu machen. Die spezifischen disziplinären Zugänge - psychologische, pädagogische, soziologische, philosophische etc. - sind zum Zusammenwirken in Eigenständigkeit aufgerufen." (In: Handbuch der Beratung, Bd. 2. Ansätze, Methoden und Felder, DGVT-Verlag, Tübingen 2004, S. 603f.)
Tuesday, June 23. 2009
 "Es spricht (…) auf Seiten der Opposition alles dafür, jede von sozialen Akteuren aufgegriffene Problemlage zum Gegenstand ihrer Politik zu machen - und von der Regierung deren Bekämpfung zu verlangen. Problempolitik stellt eine zentrale Strategie oppositionellen Handelns dar. Weil die Chance der Übernahme ihres Problemmusters dort größer ist, werden Akteure also zunächst versuchen, eine Problemwahrnehmung über eine der im Parlament vertretenen Oppositionsparteien in der politischen Arena thematisieren zu lassen. Diese Strategie dient jedoch stets nur dazu, den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen, die allein dafür sorgen kann, daß staatliche Ressourcen zur Problembekämpfung eingesetzt werden. Trotzdem kann man nicht von einer Funktionalisierung der Opposition sprechen, weil diese selbst ein Interesse daran hat, die Regierung in Zugzwang zu bringen und sie ggf. der Ignoranz oder des Versagens bei der Problemlösung zu bezichtigen. Aufgrund ihrer wechselseitigen Interessen sind Problemakteure und Oppositionsparteien stets 'natürliche' Verbündete." (In: Die Karriere sozialer Probleme. Soziologische Einführung. Oldenbourg, München 1996, S. 135)
Monday, June 22. 2009
 "Evidenzbasierte Medizin erkennt das Recht auf Individualität und Verschiedenheit nicht ausreichend an. Sie erweckt den Anschein, als bedeute eine Diagnose bereits ein Wissen um den einzig richtigen Umgang mit dem, was da diagnostiziert wurde. Damit wird dem Einzelnen seine Würde als einmaliges Wesen genommen. In Anlehnung an eine buddhistische Erkenntnis, wonach Konzepte Finger sind, die auf den Mond weisen, aber eben nicht der Mond selbst, scheinen mir Diagnosen ebenfalls Finger, die auf etwas hinweisen, aber sicher nicht auf den ganzen Menschen als unverwechselbares Individuum. Wie ist es möglich, dass wir Menschen behandeln sollen, als wären sie alle gleich? Warum lässt es unser Respekt vor der Würde des Einzelnen kaum mehr zu, dass wir Therapieempfehlungen als Hilfswerkzeuge bezeichnen, die eine Richtung vorgeben können, aber nicht den Weg. Moderne Navigationsgeräte passen sich an, wenn man einen anderen Weg nehmen will. Moderne Therapieempfehlungen lassen das kaum mehr zu." (In: Würde - Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S.113f.)
Sunday, June 21. 2009
 "Das Bewusstsein der Verantwortung für die zunehmend komplexeren Prozessabläufe der modernen Welt gehorcht (…) vielfach einer besonderen Form der Verpflichtung. Es handelt sich um eine Verpflichtung zum Eingreifen, Gegensteuern und zur Schadensbegrenzung, die in einer weiten und unbestimmten Verbindlichkeit gründet. Was wir im Einzelnen zu tun haben, um soziale Notlagen zu mindern, ist nicht genau vorgeschrieben; wie wir organisatorische Prozesse verbessern können, damit klarere Zuschreibungen von Fehlern möglich werden, lässt sich nicht exakt regeln; mit welchen Mitteln und auf welcher Grundlage an Informationen und Kenntnissen sich Maßnahmen ergreifen lassen, um nachteiligen Klimaveränderungen vorzubeugen, können wir nicht präzise feststellen. Es gibt so gesehen reale Handlungsnöte, aber keine direkt korrespondierenden Handlungsgebote; es gibt einen dringlichen Bedarf an vorbeugenden Regulierungen, aber keine eindeutigen Erfüllungsregeln; es gibt empirisch beobachtbare Schadensverläufe, aber keine ursächlich Schuldigen. Die Übernahme von Verantwortlichkeiten für Vorsorge- und Folgeprobleme, die im Kontext moderner Gesellschaften entstehen, trägt somit nicht den Charakter unbedingter Pflichten, sondern bedingter Verpflichtungen. Bedingt sind diese Verantwortungspflichten, weil sie in einen epistemologisch und normativ offenen Raum eingelassen sind. Ihre weite Verbindlichkeit resultiert daraus, dass verschiedene Wege zur Verfügung stehen, um bestehenden Forderungen nachzukommen, aber keine eindeutigen Vorschriften existieren, wie dies geschehen soll. In komplexen Handlungssituationen, aber auch in Fällen unverschuldeter Notlagen wie Krankheit, Unglück und Unfällen, die uns gewissermaßen von außen zustoßen, sind die zu erfüllenden Verpflichtungen nicht aus einem vorgegebenen Regelwerk ableitbar, das in einer objektiven Ordnung der Dinge verankert ist. Wir müssen vielmehr von Fall zu Fall feststellen, welche Regeln gelten, wie die situativen Umstände beschaffen sind, in welchen sozialen und kulturellen Kontext die Handlungen eingebettet sind. wie weit die jeweiligen Verbindlichkeiten reichen und von welcher obligatorischen Art sie sind. Das bedeutet: Verantwortungspflichten grenzen einen Spielraum der Obligationen ein, der selbst unbegrenzt ist." In: Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung. Berlin, Kadmos 2007, S. 181f.)
Wednesday, June 17. 2009
"Zwar kann es sein, daß ein Verhalten unverständlich bleibt. Das ist oft der Fall, wenn wir in fremde Kulturen oder fremde Milieus geraten und nicht recht verstehen, was da vor sich geht. Aber dies heißt nicht, daß wir bloße Körpermechanismen vor uns haben, hinter denen wir alles mögliche vermuten müßten, sondern es ist wie beim Hören einer fremden Sprache. Eine fremde Sprache nicht verstehen heißt ja nicht, daß ich bloß physische Laute höre. Wäre die Sprache auf physische Laute reduziert, so würde ich sie nicht einmal als Fremdsprache wahrnehmen. Eine Fremdsprache hören heißt, etwas nicht zu verstehen, was durchaus einen bestimmten Sinn hat und etwas ausdrückt. Das Rätsel beginnt schon damit: Wie kann ich wissen, daß das, was ich höre, eine sprachliche Äußerung ist? Wie kann ich eine Fremdsprache als Fremdsprache erfassen? Daß mir dies möglich ist, bedeutet, daß auch die fremdeste Sprache mir nicht ganz und gar fremd ist, als handle es sich um physische Laute, die niemand verstehen kann" (In: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes". Frankfurt a.M. 2000, Suhrkamp, S. 219).
Tuesday, June 16. 2009
 "Konflikte können in Organisationen auf zweifache Weise zugerechnet werden: als Konflikt zwischen Rollen oder als Konflikt zwischen Personen. Konflikte zwischen Rollen werden dabei organisationsintern als legitime Auseinandersetzungen gehandhabt. Hinter dem Konflikt zwischen Rollenträgern wird ein Organisationskonflikt gesehen. Es wird deswegen organisationsintern in der Regel akzeptiert, dass sich in der Universität die Fachgruppensprecherin Politologie mit dem Fachgruppensprecher Betriebswirtschaftslehre über die Einbeziehung von wissenschaftlichen Mitarbeitern in die Lehre streitet. Konflikte zwischen Personen haben in Organisationen nicht die gleiche Form von Legitimität. Finden diese statt, werden sie als „Hahnenkämpfe“ zwischen Verwaltungsgockeln, als „Zickenkrieg“ zwischen mehreren Unteroffizierinnen oder als Problem in der „Chemie“ zwischen zwei Abteilungsleitern markiert und tendenziell delegitimiert. Ob eine Auseinandersetzung jetzt als Konflikt zwischen Rollen oder Konflikt zwischen Personen gehandhabt wird ist nicht durch die Organisation selbst objektiv bestimmbar, sondern wird sozial ausgehandelt. Es ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen, dass in einer Interaktion eine Aushandlung darüber gesucht wird, ob ein Konflikt als „Chemie-Problem“ bestimmt wird, das durch ein Konflikt-Coaching oder die Auswechslung eines der Beteiligten zu lösen wäre, oder ob es sich um einen Rollenkonflikt handelt, der auch bei der Auswechslung der Person bestehen bleiben würde." (In: Psychiatrisierung, Personifizierung und Personalisierung. Zur personenzentrierten Beratung in Organisationen. Organisationsberatung – Supervision – Coaching, Heft 4/2006, S. 391-405)
Monday, June 15. 2009
 "Notwendiger Bestandteil eines Professionalisierungsprozesses ist die Gründung von Berufsverbänden. (…) Das oberste Ziel eines solchen Professionalisierungsprozesses ist ein hoher Grad an Autonomie in der Bestimmung der eigenen fachlichen und ethischen Standards. Ist dieses Ziel erreicht, kann die Grenze zwischen beruflichem Ethos und Berufsideologie ohne große Mühe überschritten werden, denn es nimmt die Möglichkeit zu, dem Eigeninteresse gegenüber der Dienstgesinnung größeres Gewicht zu verleihen bzw. die Rede vom "Wohl des Klienten" für die Verfolgung von Eigeninteressen einzuspannen. Vielfältige Beispiele für eine solche Vorgehensweise lieferten diversen Fach- und Berufsverbände bei den Auseinandersetzungen um das Psychotherapeutengesetz. In der Regel wird in solchen Auseinandersetzungen die Problematik psychotherapeutischer Versorgung auf die Frage der 'richtigen' Kompetenz reduziert, während der Kampf um berufliche Felder, das sozialpolitische Problem der Organisation psychotherapeutischer Versorgung und die gesellschaftliche Funktion von Psychotherapie kaum thematisiert werden. Zentrales rhetorisches Kampfmittel in dieser standespolitischen Auseinandersetzung ist die Rede vom "Wohl der Klienten und Patienten". Dieses ans Vorbild der Mediziner angelehnte Denken durchzieht einen großen Teil der Selbstrepräsentation der Beziehungsprofessionen, sobald sie ein gewisses Maß an Legitimität erreicht haben. Die Kritiker kommen in der Regel aus den noch nicht so arrivierten Sparten, ihre Kritik ist Teil ihrer Legitimitätssuche. Alle Beteiligten folgen in diesem Spiel der klassischen bürgerlichen Kampfstrategie: 'Die Tore nach unten sollen verschlossen bleiben, die Tore nach oben sollen sich öffnen' (N. Elias)". (In: Gruppendynamik und die Professionalisierung psychosozialer Berufe. Heidelberg, Carl-Auer-Verlag 2007, S. 36f.)
Sunday, June 14. 2009
 "Die Wahrnehmung räumlicher Tiefe entsteht nur in Verbindung mit dem Vermögen, sie auch zu durchmessen und die Gegenstände abhängig von unserer Eigenbewegung unter verschiedenen Aspekten zu erfassen. Wahrnehmend sind wir in der gleichen Welt situiert wie die wahrgenommenen Dinge, d.h. wir können auch handelnd mit ihnen umgehen, interagieren. Die idealistische Konzeption der Wahrnehmung vergisst, dass wir leibliche Wesen, verkörperte Subjekte, und nicht in unserem Bewusstsein eingeschlossen sind. Die Verkörperung kommt nicht zur Wahrnehmung noch äußerlich hinzu, sondern sie wohnt ihr inne: Wir müssen schon leiblich in der Welt sein, mit ihr in Beziehung stehen, uns bewegen und agieren können, damit wir überhaupt etwas von ihr wahrnehmen. Es ist nur die Dominanz der 'optischen', auf dem Sehsinn basierenden Erkenntnistheorie und ihrer Metaphorik (Bild, Perspektive, Repräsentation etc.), die uns die Verkörperung vergessen lässt. Tatsächlich gibt es keine 'Außenwelt' zu einem körperlosen Subjekt" (In: Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Kohlhammer, Stuttgart 2008, S. 31).
Saturday, June 13. 2009
"Das moderne Dasein ist durch Nicht-Identität charakterisiert, nichts bleibt im Leben wie es ist. Und trotzdem bin ich morgen und gestern dieselbe wie heute. Gegenwart ist nie unmittelbar, sondern nur relational – zu Vergangenheit und Zukunft – erfahrbar: Auch “Gegenwart” ist eine Fiktion im Sinne eines absoluten gegenwärtigen, identischen Zustands. Im Moment des Sprechens oder Zeigens hat sich dieses gegenwärtige Sein schon wieder verflüchtigt. Der Trick besteht darin, durch Erinnerungsarbeit den Schein von Identität im Wissen zu erzeugen. Die Fiktion (biographischer) Identität – die Fiktion, eine Gegenwärtige zu sein – wird über die Beziehung zu sich selbst in der Relation von Vergangenheit und Zukunft hergestellt. Identität erscheint im Präsens – Temporalität (das Ich als Gewordenes) als ausdrückliches Moment der Selbstdarstellung ist in der Identitätslogik nicht vorgesehen und Gegenwart kann Vergangenheit als selbstverständlichen Horizont erscheinen lassen (Wenn ich weiß, wer du bist, weiß ich wer du warst.). Der Modus der Herstellung und Bearbeitung von Ungewissheit in der Moderne ist die biographische Reflexion. Biographie ist somit selbst eine Sicherheitskonstruktion im Sinne einer Vereindeutigung und Reduktion von Kontingenz – und Identität ist in diesem Sinne ohne Biographie nicht zu haben." (In: Subjektkonzeptionen bei der Herstellung biographischer Sicherheit. Arbeitspapier 7 des SFB 536 “Reflexive Modernisierung”. Universität der Bundeswehr München)
Friday, June 12. 2009
 "Merkt die Wahrnehmung mehr, als der Verstand begreift, dann ist es die Sinnlichkeit selbst, die zur Quelle der Überraschung wird. Das Neue, das es dann zu entdecken gibt, liegt in der Fähigkeit der Sinne, sich weiterzubilden. Achtet man auf diese Fähigkeit, dann zeigt sich der Sinn für die Schönheit als etwas anderes als das Messen des Wahrgenommenen an einem vorgegebenen Ideal. Der Sinn für das Schöne entpuppt sich dann als das sinnlich werdende Verlangen des Bewußtseins nach Sinn und Kohärenz. Auch die Lust auf Neues und Überraschendes wird dann zu mehr, als es der bloße Wunsch nach Abwechslung wäre. Die Neugier bekommt dann damit zu tun, daß das Verlangen des Bewußtseins nach Sinn und Kohärenz unersättlich ist, und daß die Begierden der Aufmerksamkeit ihrer Erfüllung nachwachsen." (" Sinnliche Intelligenz. Was die Architektur umtreiben sollte". In: Georg Franck, Herzog & de Meuron, Joep van Lieshout, What Moves Architecture? [In the Next Five Years]. Architekturvorträge an der ETH Zürich, Zürich: GTA Verlag, 2006, S. 10-53)
Wednesday, June 10. 2009

"Es muss sich allerdings die Frage stellen, mit welchem Körper die körperorientierte Körperpsychotherapie zu tun hat. Lässt er sich als »Wahrheitsmedium« beobachten ? Wenn er schon der Rede mächtig ist, wieso sollte er denn nicht auch lügen können ? Wer stellt die Wahrheitsfrage, und wer will sie beantworten ? Da Bezugspersonen letztlich unvermeidlich de »wahren Körper« und somit auch das »wahre Selbst« nur verfehlen und dieses daher notwendig nur traumatisieren können, gerät (Körper-)Psychotherapie geradezu zur Psychotraumatherapie. Es verwundert daher auch nicht, dass sich in den Studien zur Körpertherapie immer wieder ein »hoher Ton« oder gar ein »Jargon der Eigentlichkeit« (Adorno) vernehmen lässt, wenn etwa vom »eigentlichen Gespräch«, vom »dialogischen Prinzip« oder vom »Moment der Begegnung« beim »psychosomatischen Dialog« die Rede ist. Überhaupt scheint die so beliebte Metapher der »Körpersprache« doch eine unscharfe Argumentation zu verdecken. Mit Hahn (1988) ist jedenfalls davon auszugehen, dass es niemals der Körper selbst ist, der spricht. Vielmehr wählt immer die Kommunikation bestimmte körperliche Veränderungen aus und misst ihnen Bedeutung und Sinn zu. Bei der »Körpersprache« handelt es sich um ein soziales Bedeutungssystem. Auch wenn und gerade weil der Körper sozial nicht vollständig kontrollierbar ist, wird das sozial nicht Kontrollierbare sozial verbindlich gedeutet. Immer hat man es mit einem beobachteten und somit sinnhaft kontextualisierten Körper zu tun. Dem Körper kommt eine sinntragende Realität nur zu, sofern er bezeichnet wird, und das heißt nur auf der Ebene sozialer oder psychischer Systeme. Insofern ist es eine Illusion, den Körper als ehrlich, authentisch und die Wahrheit verbürgend zu stilisieren, wie überhaupt ein solcher Rekurs auf Ursprünglichkeit, auf Fassbares, Greifbares, Handhabbares, auf etwas, was Sicherheit und Orientierung vermitteln könnte. Die immer wieder holistische und insofern in defragmentarisierender Absicht vorgetragene Argumentation kann nicht überzeugen, impliziert doch jede Beobachtung notwendig den Verzicht auf Ganzheitlichkeit." (In: Der Körper als Adresse – Zur Funktion der Somatisierung. Kontext 39 (2), 2008, 104-126).
Tuesday, June 9. 2009
 Die "Verfahren der Wissenschaften (fügen) sich keinem gemeinsamen Schema (…) - sie sind nicht 'rational' im Sinne solcher Schemata. Kluge Menschen halten sich nicht an Maßstäbe, Regeln, Methoden, auch nicht an 'rationale' Methoden, sie sind Opportunisten, das heißt, sie verwenden jene geistigen und materiellen Hilfsmittel, die in einer bestimmten Situation am ehesten zum Ziele zu führen scheinen". (In: Erkenntnis für freie Menschen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 9).
Monday, June 8. 2009
"Also die Systemtheorie ist sicher keine kausalistische Theorie. Schon deshalb nicht, weil man sonst Politik in die Wissenschaft mit einbeziehen würde. Wenn man sagen würde, wie es richtig gemacht werden sollte, würde man ja Politik machen, eine Art technokratische Vorstellung haben. Das ist sicher nicht der Fall und wird auch durch die Gesellschaftstheorie selber schon desavouiert, indem sie Politik oder auch Intimbeziehungen oder Religion oder Wirtschaft als eigene Systeme beschreibt, die von der Wissenschaft aus nicht gesteuert werden können. Aber es gibt natürlich Veränderungen in den typischen Problemstellungen. Und das kann man relativ deutlich spezifizieren. Wenn Sie z.B. die Probleme der Arbeitslosigkeit, der massenhaften Entlassungen in Europa sehen, dann kann man die Frage stellen: Ist das ein Effekt von Konjunktureinbrüchen? Müssen wir das zwei, drei Jahre durchhalten oder hat das strukturelle Gründe? Und da würde man vielleicht sagen, daß in der modernen Gesellschaft das Interesse an der Unternehmenserhaltung und das Interesse an Vermögenserhaltung auseinander laufen. Wenn ich mein Vermögen halten will, kann ich nicht mein Unternehmen halten. Und das ist auch völlig antimarxistisch gedacht. Ich habe mein Vermögen nicht im Unternehmen. Mein Vermögen fließt je nachdem, wo es angelegt werden soll. Und das Unternehmen ist eine andere Sache. Wenn man diese Tendenz beobachtet – und das läßt sich systemtheoretisch aufhängen – hat man natürlich ganz andere Vorstellungen in Bezug auf Politik und in Bezug auf öffentliche Meinung auch und in Bezug auf Weltkonstellationen, auf das Verlagern von Produktion in Billiglohnländer und dergleichen, als man sie hätte, wenn man sie nur konjunkturspezifisch sieht. Daraus folgt noch keine Handlungsanweisung. Aber ich denke, die Art wie man sich vor Probleme stellt, ist der Schritt, von dem aus man es der Wirtschaft oder der Politik überlassen kann, Konsequenzen zu ziehen." In: "Interview mit Niklas Luhmann. http://fifoost.org/user/luhmann.html")
Sunday, June 7. 2009
 "Die Methode der Inszenierung von Ambivalenz kann jederzeit für das wissenschaftliche Schreiben, für die Genese von Theorien genutzt werden. Sie ist mithin besonders hilfreich, wenn man theoretisch arbeiten möchte. Theoretische Arbeiten gehen zumeist aus von anderen theoretischen Arbeiten, sie beziehen sich auf diese, setzen diese fort oder bieten alternative theoretische Blicke an. Die Methode der Ambivalenzinszenierung hat vor allem das Potenzial, alternative theoretische Deutungen zu produzieren. Sie ist, genau genommen, eine Beobachtung höherer Ordnung, die beobachtet, wie andere Theorien beobachten, und dann versucht, das, was diese durch ihre Begriffe nicht beobachten können, zu beobachten, einzublenden. Dabei werden vor allem zentrale Begriffiichkeiten beobachtet, Begriffiichkeiten, die wie selbstverständlich voraus- oder eingesetzt werden. Die entsprechenden Begriffe werden mit ihren möglichen Gegenbegriffen konfrontiert, und es wird gefragt, ob nicht zugleich auch die Gegenbegriffe Brauchbares über das Thema aussagen, beschreiben und erklären können. Mit der Methode der Ambivalenzinszenierung oder der Ambivalenzreflexion kann in drei Schritten vorgegangen werden: Erstens: Während der Lektüre von Texten, die Phänomene (z. B. der Praxis) beschreiben und erklären, die also Theorie betreiben, wird versucht, die scheinbar eindeutigen Selbstverständlichkeiten aufzuspüren und über sie zu staunen, sich über sie zu wundern. Zweitens: Nachdem die Selbstverständlichkeiten aufgespürt wurden, über sie gestaunt werden konnte, beginnt die Suche nach möglichen Gegenbegriffen zu den vermeintlich selbstverständlichen Begriffen. Dabei geht es darum, alternative Begriffe, Gegenbegriffe aufzuspüren, die einblenden, was ausgeblendet wird. Schließlich sollen die Begriffe, deren Selbstverständlichkeiten offenbart wurde, aus dieser Selbstverständlichkeit entrissen werden, indem mit den Gegenbegriffen aufgezeigt wird. was ebenfalls plausibel eingeblendet werden könnte. Drittens: In einem letzten Schritt erfolgt dann etwas, das mit der Methode der funktionalen Analyse der luhmannschen Systemtheorie (…) verwandt ist: Die Gegenbegriffe werden zunächst in Szene gesetzt, und zwar als auch mögliche Beschreibungen derselben Phänomene, mithin als Alternative zu den Begriffen, die die Selbstverständlichkeiten bezeichnen. Sodann wird eine alternative Erklärung des Phänomens unternommen mithilfe der Gegenbegriffe. Diese Erklärung wird neben die primäre Erklärung gestellt. Beide werden schließlich miteinander verglichen, aber als Pole in ihrer Unterschiedlichkeit belassen, und zwar so, dass die zuvor verborgene Symmetrie dieser Begriffe wieder zum Vorschein kommt und die Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen bezüglich eines Phänomens sichtbar wird." (In: Heiko Kleve: Ambivalenz, System und Erfolg. Provokationen postmoderner Sozialarbeit. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2007, S. 24f.)
Saturday, June 6. 2009

"In Luhmanns Systemtheorie geht die kategoriale Eliminierung des Subjekts mit der Irrealisierung der Körperproblematik einher. Die Genese der Differenz zwischen organischem System und psychischem System wird nicht prozesslogisch rekonstruiert, sondern absolutistisch gesetzt. Die Frage nach den anthropologischen und soziologischen Bedingungen, unter denen die ontogenetischen Subjektbildungsprozesse stehen, wird bedeutungslos. Bedeutungslos werden damit aber auch die körpernahen Interaktionen und Kommunikationen zwischen Kleinkind und sorgender Bezugsperson, normalerweise der Mutter, im ontogenetischen Bildungsprozess einer sinnstrukturierten Subjektorganisation. Da Luhmann die Bedeutung der körpernahen Interaktionen zwischen Kleinkind und (mütterlicher) Bezugsperson systematisch ignoriert, kann er auch die Sinnkategorie von allen Verstrickungen mit symbiotischen und postsymbiotischen Erlebnissen reinigen und als das »absolute Medium ihrer selbst« (…) bestimmen. Die absolutistisch gesetzte Sinnkategorie wird nun an Kognition und Kommunikation gekoppelt und zu einem Funktionsmerkmal psychischer und sozialer Systeme. Im systemtheoretischen Denken Luhmanns muss es deshalb vollständig unverständlich bleiben, warum die Sinnproblematik des modernen Subjekts auch in somatischer Dimension bedeutsam ist. Luhmann kann weder die psychosomatischen brisanten Implikationen der modernen Sinnproblematik noch die »Wiederkehr des Körpers« (…) als lebenspraktisch relevantem Medium reflexiver Sinngenerierung in einer angemessenen Weise begreifen." (In: Andreas Weber: Subjektlos. Zur Kritik der Systemtheorie. UVK, Konstanz 2005, S. 84).
Friday, June 5. 2009
 "Sprachliche Bedeutungen haben körperliche Wurzeln. Wenn wir miteinander sprechen, bewegen wir uns keineswegs in einer immateriellen, entsinnlichten Sphäre. Das leibliche »Ich« spricht zum leiblichen »Du«. Der Austausch von Botschaften ist stets körperlich verankert, in dem hochabstrakten Ort, den wir Ich-Mitte oder Selbst nennen. Auch die Aufmerksamkeit gründet im Körperselbst. Im Gespräch entscheidet das Körperselbst darüber, was wir sagen, und die Auswahl der Elemente, die in der Erinnerung abgespeichert werden, geht letztlich allein von ihm aus. Auf indirektem Weg, über Gestik, Mimik, Zwinkern, Verbergen von Intentionen, Lippenbewegungen und so weiter, zeigt das Körperselbst zudem Bedeutungsnuancen an. Alle diese Elemente lassen sich ohne weiteres dem Strom des Bewusstseins einverleiben, weil sie sich alle auf eine gemeinsame semantische Basis beziehen, die durch die körperliche Selbstreferenzialität stets als »zu mir gehörig« markiert ist. Das gilt sogar für Menschen, die eine Amnesie erleiden oder im Zustand einer so genannten Fugue vorübergehend ihre soziale Identität verlieren. Das Körperselbst bleibt dabei unversehrt. Semantische Verarbeitungsprozesse wurzeln also stets in unserer Körperlichkeit. Das häufig zitierte Gedankenexperiment vom »Gehirn im Tank« ist nur ein Spiel mit Begriffen, denn es postuliert, dass ein vom Körper abgekoppeltes Gehirn ein Identitätsempfinden entwickeln und aufrechterhalten könnte. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das eine reale Möglichkeit ist. Wenn bei neurologischen Patienten das Bewusstsein auch nur ansatzweise von körperbezogenen Feedback-Systemen abgeschnitten ist, führt das zu ausgeprägten Bewusstseinsstörungen. Theoretisch gesehen ist unser Bewusstsein vielleicht sogar körperbezogener, als uns lieb ist. Seine körperliche Verankerung ist eine Grundtatsache des mentalen Lebens. Das Bewusstsein kommt ohne ein solides körperliches Fundament des Identitätsempfindens nicht aus, ganz gleich, wie raffiniert seine symbolischen Operationen und Kunstgriffe auch sein mögen. Ohne diese Basis kommt es ins Schwimmen und verliert gleichsam den Boden unter den Füßen. Es gerät außer Kontrolle und verliert den Realitätskontakt." (In: "Triumph des Bewusstseins". Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S. 144f.).
Thursday, June 4. 2009
 "Eine Alltags- und Arbeitsphilosophie mit den Aufforderungen zur Entrümpelung, zum Zeitmanagement und zu postmateriellen Werten (…) greift zu kurz. Sie unterschätzt die Möglichkeiten aus der Unordnung menschlichen Verhaltens. Die Notwendigkeit, sich laufend an geänderte Rahmenbedingungen anzupassen, ruft nach dem Gegenteil, nach der Verkomplizierung. Fixe Verhaltensmuster (Entrümple!) mögen gegenwärtig von Nutzen sein, sie verhindern als Muster aber zukünftige Chancen. Jeder erfahrene Praktiker schätzt die Potenziale des Unaufgeräumten. Jeder gute Handwerker, dessen Nische die Improvisationskunst ist, kann nicht ohne ein gewisses Potenzial an Unaufgeräumtem tätig sein. Und sollten wir es mit einem ausgesprochen organisierten Handwerker zu tun haben, so ist dies möglicherweise nur ein Hinweis auf seinen modernen Nachfolgeberuf, den Monteur und dessen Montagequalitäten und auch ein Indiz für seine mangelnde Improvisationskompetenz, das kann man nicht mehr reparieren, da müssen wir das Ganze austauschen"). Mechanische Verhaltensmuster verringern Leidenschaft und Kreativität. Der blinde Fleck der Simplify-Philosophie ist das Potenzial, das sich aus dem Unaufgeräumten und Zufälligen ergibt." (Winfried W. Weber, complicate your life. Verlag Sordon, Göttingen, S. 16f.).
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