Saturday, November 29. 2008
 Harald Wasser, psychoanalytisch wie systemtheoretisch inspirierter Autor, hat interessante Überlegungen "Zur systemtheoretischen Konstitution von Gegenständen" angestellt, die sich mit der Frage auseinandersetzen, worin denn eine systemtheoretische Phänomenologie bestehen kann, wenn sich diese nicht mehr ohne weiteres - wie bei Husserl (Foto: Wikipedia) - aus dem erlebenden Bewusstsein ergibt: "Der besondere Weg Luhmannscher Systemtheorie besteht (…) darin, sich vom Anspruch einer Phänomenologie des Erlebens insoweit zu lösen, als auch ganz andere Beobachter, die nicht in der Lage sind, zu erleben (stattdessen aber vielleicht: zu kommunizieren), als Beobachter von Phänomenen in Frage kommen. Eine weitere Besonderheit besteht dann darin, sich (wie es z.B. Freud in seiner Praxis einer »freischwebenden Aufmerksamkeit« gegenüber den »freien Assoziationen« seines Analysanden vorgemacht hat) auf die Beobachtung anderer Beobachter »aufzuschalten« und damit auf eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung umzuschalten. Beobachtet man Theorien anderer Beobachter, so stellen diese zunächst etwas dar, das sich grundsätzlich durch nichts von anderen Phänomenen unterscheidet und so fallen sie sozusagen in die Phänomenologie. Eben darum lassen sie sich beobachten, ohne sogleich nach dem Schema des beobachteten Beobachters, etwa: nach »wahr« und »falsch« beurteilt werden zu müssen. Phänomenologisch gesehen existieren ja auch Einhörner nicht anders als Pferde. Um das prüfen zu können, bedarf es nur eines Blicks in die Literatur der Märchen und Sagen. Dort sind sie leicht als kommunikative Phänomene nachweisbar, ebenso wie Hexen und Götter und ewige Liebe. Die Phänomenologie konstatiert Phänomene. Sie behauptet folglich nicht, dass die von ihr notierten Phänomene für alle Beobachter und immer gelten. Wechselt ihr Blick in die Naturwissenschaft, etwa die Zoologie, so wird sie umgekehrt konstatieren müssen, dass (und sogar: warum) aus Sicht dieses Beobachters Einhörner keineswegs existieren. Die phänomenologische Arbeitsweise der Systemtheorie ist also treffend dadurch charakterisiert, dass sie die ihr gegebenen (und das heißt immer zugleich: die von ihr erzeugten!) Phänomene auf eine Weise beobachtet, in der sich eigene Beobachtungen als Beobachtungen anderer Beobachter manifestieren können (second order cybernetics)." Der Artikel ist online auf www.hauptsache-philosophie.de zu lesen.
Tuesday, November 25. 2008
 Reinhard Sieder, dessen jüngsten Buch "Patchworks" über "neue Familien" kürzlich im systemagazin vorgestellt worden ist, hat im Jahre 2000 in der von ihm herausgegebenen "Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften" eine Arbeit über "Männer in Familien nach Trennung und Scheidung" veröffentlicht. Darin skizziert er die historische Entwicklung des Vaterbildes vom Patriarchen über den Miterzieher hin zum Neuen Vater. Über seine Vorgehensweise schreibt er: "Ein soziales und kommunikatives System und das innere Erleben der Akteure können empirisch durch die Interpretation und Analyse der in Texten gebundenen Erzählungen, durch teilnehmende Beobachtung, durch die Analyse von Photos oder Videofilmen etc. konstruiert werden. Doch bilden weder Erzähltexte noch irgendwelche ‚Abbildungen’ das Sozial- und Kommunikationssystem und das innere Erleben der beteiligten Personen resp. Akteure ab. Sie müssen im Wege der Text- oder Bildanalyse konstruiert werden. Dies geschieht, indem wir unsere Deutungen und Beobachtungen zu jeder Textsequenz systematisch nach einer binären Matrix sortieren: Für das soziale und kommunikative System beschreiben wir, was dort kommuniziert wird (das Manifeste) und was dort nicht kommuniziert werden kann (das Latente). In bezug auf das innere Erleben des Akteurs versuchen wir herauszufinden, was er weiß und erzählt (manifester Sinn) und was ihm nicht bewusst ist, was präreflexiv ist oder was nicht gesagt werden soll (Latenz und latenter Sinn). Für das Individuum als Person im sozialen und kommunikativen System stellen wir die Frage, was es hier mit seinem Einsatz von materiellen, sozialen, psychischen und kommunikativen Ressourcen an Ereignissen auslöst und was dies für die Dynamik des kommunikativen Systems und für die psychische Dynamik der Akteure bewirkt. Das Wissen und die Deutungen der Individuen werden interaktiv und diskursiv hergestellt. Jede Selbsterzählung enthält daher zahlreiche Bezugnahmen auf öffentliche und private Diskurse. Umgekehrt befragen wir das soziale und kommunikative System, was es im Akteur an affektiven und kognitiven Ereignissen auslöst und inwieweit es die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata – den Habitus des Akteurs – labilisiert oder verändert. Diese binäre Matrix von Latentem und Manifestem und der in der Interpretengemeinschaft kontrollierte Einsatz von Theorien aller Art unterscheidet diese sozial-, kultur- und kommunikationswissenschaftliche Hermeneutik vom intuitiven Vorgehen der klassischen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik. Mit diesen theoretischen Werkzeugen, Begriffen und Methoden soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, was Männer als Väter in Familien und binuklearen Familiensystemen leisten, ob und wie Trennung und Scheidung ihre Vaterarbeit reduzieren, zerstören oder intensivieren können und schließlich, wie all dies mit diskursiven Skripts von Vatersein und Väterlichkeit, von Mannsein und Männlichkeit zusammenhängt."
Sunday, November 23. 2008
 Bei Walter de Gruyter ist dieser Tage ein von Detlef v. Ganten, Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin herausgegebener Sammelband mit dem Titel " Funktionen des Bewusstseins" erschienen. Enthalten ist ein Aufsatz des Systemtheoretikers und Professors für Soziologie in Luzern, Rudolf Stichweh, zum Thema "Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen", der auf Stichwehs website heruntergeladen werden kann. Darin heißt es: "An die Stelle der Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen kann man in der Gegenwart die Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein treten lassen.  In dieser zweiten Fassung werden beide Seiten der Unterscheidung neu und sie werden anders bestimmt. Einerseits wird auf der Seite des Sozialsystems die kommunikationstheoretische Grundlegung der Soziologie benutzt, die seit der Informationstheorie der späten vierziger Jahre als eine Denkmöglichkeit verfügbar ist. Kommunikation ist unter diesen Voraussetzungen nicht etwas, was einem einzelnen Bewusstsein als seine Absicht oder einem einzelnen Akteur als seine Tätigkeit zugerechnet werden kann. Es handelt sich bei jeder einzelnen Kommunikation vielmehr um eine genuin soziale und elementare Einheit, die immer und mindestens zwei Prozessoren (Akteure; Psychen; Bewusstseine) voraussetzt, die an ihrer Produktion beteiligt sind. Eine Reduktion auf einen dieser Prozessoren ist nicht zulässig. Der Begriff des Bewusstseins wiederum kann nicht als bedeutungsidentisch mit dem Begriff des Psychischen gedacht werden. Vielmehr handelt es sich beim Bewusstsein um eine selektive Instanz, die sich, wie es Gregory Bateson formuliert, einer „Kodifikation und reduktiven Simplifikation eines weiter gefassten psychischen Lebens“ verdankt und dies auf der Basis einer „Spiegelung eines Teils der Psyche in das Feld des Bewusstseins“. Die dieser Überlegung zugrundeliegende Unterscheidung ist die von „bewusst“ und „unbewusst“. Jener Selektionsprozess, der Teile des Psychischen in das Bewusstsein spiegelt, ist selbst vermutlich eher ein unbewusster Prozess. Jedenfalls steht er unserer willentlichen Anstrengung nicht zur Verfügung." Zum vollständigen Text…
Friday, November 21. 2008
 Jürgen Markowitz, der bis zu seiner Emeritierung Professor für Soziologie an der Martin-Luther-Universität in Halle war, promovierte 1978 bei Niklas Luhmann in Bielefeld, wo er auch 1985 habilitiert wurde. In einem der frühen Jahrgänge der "systeme" erschien ein Aufsatz von ihm zum Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen unter dem Titel "Referenz und Emergenz": "Dieser Aufsatz versucht, das Verhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen zu bestimmen. Den Einstieg bietet die Figur der doppelten Kontingenz (Parsons, Luhmann). Der grundlegende analytische Bezugspunkt wird in der Tatsache gefunden, daß Menschen sich aufeinander beziehen, daß sie aufeinander referieren müssen, wenn sie ihr Verhalten aneinander orientieren wollen. Der dadurch entstehende Zirkel des Referierens auf Referieren auf Referieren … wird in seinen strukturellen Effekten untersucht. Dabei ergibt sich die Möglichkeit, die Entfaltung der drei Sinndimensionen zu studieren, vor allem aber zu sehen, welch dynamisches Verhältnis zwischen der Sachdimension auf der einen Seite sowie der Zeit- und Sozialdimension auf der anderen Seite besteht. Vor dem Hintergrund dieser Befunde wird deutlich, daß Theorien der Interaktion nicht gut beraten sind, wenn sie sich auf je einzelne pragmatische Typen - entweder auf Tausch, auf Konflikt, auf Diskurs usw. - kaprizieren und einen dieser Typen zum Inbegriff des Sozialen deklarieren." Der Aufsatz ist auch im Internet zu lesen. Zum vollständigen Text…
Sunday, November 16. 2008
 1995 veröffentlichten Stefano Franchi, Güven Güzeldere und Eric Minch in der Stanford Humanities Review ein schönes Gespräch mit Heinz von Foerster über seine Arbeit und sein Leben (Hier ein Prolog zum Interview von Francisco Varela). Ein kurzes Zitat von Heinz von Foerster: "I don't know where my expertise is; my expertise is no disciplines. I would recommend to drop disciplinarity wherever one can. Disciplines are an outgrowth of academia. In academia you appoint somebody and then in order to give him a name he must be a historian, a physicist, a chemist, a biologist, a biophysicist; he has to have a name. Here is a human being: Joe Smith -- he suddenly has a label around the neck: biophysicist. Now he has to live up to that label and push away everything that is not biophysics; otherwise people will doubt that he is a biophysicist. If he's talking to somebody about astronomy, they will say "I don't know, you are not talking about your area of competence, you're talking about astronomy, and there is the department of astronomy, those are the people over there," and things of that sort. Disciplines are an aftereffect of the institutional situation." Zum vollständigen Interview…
Saturday, November 15. 2008
 Tim Brown, CEO der Firma Ideo, deren Geschäftsfeld die Entwicklung und Implementierung von Designs und Prototypen für die verschiedensten Organisationen ist, hat für TED einen interessanten und amüsanten Vortrag über die Aktivierung von Kreativitätspotentialen bei Erwachsenen gehalten. Zusehenswert…
Sunday, November 9. 2008
 Im kürzlich vorgestellten Heft der "Sozialen Systeme" ist auch ein Aufsatz enthalten, der auf der Website der Zeitschrift im Volltext geladen werden kann, allerdings in englischer Sprache. Die Autoren sind Harrison White, Jan Fuhse, Matthias Thiemann und Larissa Buchholz. "Der Aufsatz setzt Niklas Luhmanns Systemtheorie in Beziehung zur soziologischen Netzwerkanalyse, um Grundlagen für eine allgemeine Netzwerktheorie zu entwickeln. Er beginnt mit Luhmanns Diskussion von Sinn als einer zentralen Kategorie der Soziologie. Luhmanns Formulierung wird erweitert von einem Fokus auf die Dyade und doppelte Kontingenz hin zur Reichweite von Netzwerken und daher multipler Kontingenz. Während Kommunikations- und Handlungsaspekte von Sinn in Netzwerken ineinandergreifen, entflechtet der Aufsatz analytisch deren jeweils besondere Bedingungen und führt dabei die Konzepte Netdoms, Netdom Switching und Discipline ein. Netzwerktheorie lenkt damit den Blick auf das Zusammenspiel von zeitlichen, sozialen und interpretativen Dynamiken in der Konstitution und Verkettung von Sinnhorizonten. Darüber hinaus entfaltet der Aufsatz das Konzept »Style« als synkopierte Komplexität, um Luhmanns Top-Down-Ansatz bei der selbstreferentiellen Reproduktion von funktionalen Subsystemen zu ergänzen." Zum vollständigen Text…
Tuesday, November 4. 2008
 Vor einigen Tagen erschien im systemagazin ein Diskussionsbeitrag von Jochen Schweitzer, der für eine "schulenübergreifende Psychotherapie mit starker systemischer Grundierung" plädierte, um Systemisches krankenkassenfähig zu machen. Außer zwei Kommentaren (hier der Text von Jochen Schweitzer mitsamt den Kommentaren) ist leider noch keine Diskussion zustande gekommen, was bedauerlich ist: immerhin geht es ja um eine Frage der Zukunft systemischer Therapie. In einem ausführlichen Beitrag von Wolfgang Loth ging es zwei Tage später erneut um die Frage der Psychotherapie-Integration. In seinem Literaturverzeichnis war ein interessanter Link zu finden, der den systemagazin-Lesern nicht vorenthalten werden soll. In der Psychotherapie-Forschung spielen "common factors" eine wichtige Rolle. Der Anteil dieser "gemeinsamen Faktoren" am Psychotherapieerfolg im Unterschied zu schulenspezifischen Wirkfaktoren ist erheblich. Duncan, Hubble und Miller haben mit ihren eigenen Forschungsarbeiten zur Verbreitung dieser Kenntnisse beigetragen. Interessant ist aber, wie alt die These der "common factors" ist. Sie stammt nämlich aus dem Jahre 1936, als der Psychologe Saul Rosenzweig zum ersten Mal diese Idee formulierte. Rosenzweig, Jahrgang 1907, starb 2004 im Alter von 97 Jahren in St. Louis. Barry Duncan hat vor einigen Jahren mehr durch Zufall herausgefunden, dass Saul Rosenzweig noch lebte und sich mit ihm in Verbindung gesetzt. In einem Artikel für das "Journal of Psychotherapy Integration", dass ein langes Interview mit Rosenzweig enthält, beschreibt Duncan auf sehr interessante Weise die Ideengeschichte der "common factors". Das Manuskript dieses Artikels im im Internet zu finden. Zum vollständigen Text…
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