Thursday, October 30. 2008
 Der Südkoreaner Hoyong Choe hat seine Dissertation 2005 am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der FU Berlin vorgelegt, die auch online zugänglich ist: "Meine Dissertation zielt darauf ab, einen gemäßigten Konstruktivismus, d.h. denjenigen, der konstruktivistische Interessen oder Themen im komplementären Verhältnis zu nicht-metaphysischen Versionen des Realismus verfolgt, zu formulieren und dessen Potenziale bzw. Grenzen ansatzweise zu forschen. Nach einem Überblick über gegenwärtige konstruktivistische Ansätze (Kap. 2) habe ich die Grundzüge des gemäßigten Konstruktivismus im Anschluss an u.a. Putnam und Luhmann durch zwei Thesen charakterisiert (Kap. 3): 1. Der deskriptive Aspekt des Wissens lässt sich als begriffssysteminterne Angelegenheit begreifen (sog. „externe Tatsachen innerhalb eines Begriffssystems“). 2. Der konstruktive Aspekt des Wissens lässt sich als den kontingenten Charakter je eines Begriffsystems verstehen („begriffliche Relativität“). Der gemäßigte Konstruktivismus macht es dabei deutlich, dass man außer zwei Deskriptionsbegriffen, d.h. einem metaphysischen und einem nicht-metaphysischen, auch zwei Konstruktionsbegriffe zu unterscheiden hat; im Sinne der unveräußerlichen Bedingtheit unseres Wissens durch ein Bezugssystem einerseits, im Sinne der Kontingenz oder Selektivität dieses Bezugssystems andererseits. Wenn der erste Konstruktionsbegriff zum Zweck der „Weltbeobachtung“ nicht geeignet ist, und wenn der zweite vom ersten nicht ableitbar ist, dann kann man sagen, dass die Brauchbarkeit des ersten für empirische Forschung sehr beschränkt ist. M.a.W.: Die radikal-konstruktivistische Unterscheidung von Konstruktion/Deskription im Sinne von grundsätzlicher Konstruktivität unseres Wissens versus metaphysischer Illusion der Deskription ist m.E. wie die wittgensteinsche Leiter, die man hinaufsteigt und dann lieber wegwerfen soll. In diesem Sinne ist Glasersfelds Viabilitätskonzept zu kritisieren (Kap. 4): Dies ist zwar im Zusammenhang mit der als absolut angenommenen, realen Welt wohl vertretbar, aber für empirische Forschung unbrauchbar. Denn in einer empirischen Forschung steht das Verhältnis von Subjekten bzw. Organismen zu ihrer beobachtbaren Umwelt im Vordergrund. Und Viabilität im Gegensatz zur Deskription im metaphysischen Sinne ist eine andere Sache als Viabilität im Unterschied zur Deskription im gemäßigten Sinne. Maturanas Theorie autopoietischer Systeme ist m.E. als eine Pseudoempirie infolge undifferenzierter Begriffsverwendung aufzufassen (Kap. 5): Seine Hauptthesen wie die Autonomie der Lebewesen und die Subjektabhängigkeit der Kognition ergeben sich daraus, dass er aufgrund mangelnder begrifflicher Differenzierung zum einen methodologische mit objekttheoretischen Angelegenheiten ständig verwechselt, zum anderen auf objekttheoretischer Ebene funktionale auf strukturale Zusammenhänge reduziert. Seine Begriffsverwirrungen sind ein Beispiel dafür, dass der radikale Konstruktivismus mit seiner grundsätzlichen Option für die Konstruktivität des Wissens dazu tendiert, eine Homologie zwischen den Bedingungen des Wissens und dem dadurch Bedingten, eine Reduzierbarkeit eines Bedingten auf dessen Bedingungen hervorzuheben. Der gemäßigte Konstruktivismus demgegenüber bietet sich, mit ihrer differenzierten Handhabung von Begriffen wie v.a. Deskription und Konstruktion, als Vorschlag zur Fokusverschiebung im konstruktivistischen Diskurs an." Die Lektüre dürfte einiges Nachdenken erfordern. Zum vollständigen Text…
Saturday, October 25. 2008
 So titelte die online-Ausgabe des "Handelsblatt" gestern kritisch in einem Artikel von Eva-Maria Schur, der sich mit der Tatsache auseinandersetzt, dass Psychiater noch mehr als z.B. Herz-Kreislauf-Spezialisten finanziell mit der Pharmaindustrie unter einer Decke stecken - und zwar heimlich: "Anders als Krebs oder Herzinfarkte sind psychiatrische Krankheiten weder auf Röntgenbildern noch in den Blutwerten der Patienten zu erkennen. Die Diagnosekriterien sind Definitionssache, und deshalb ist es vergleichsweise einfach möglich, darauf Einfluss zu nehmen. In den vergangenen 50 Jahren explodierte die Zahl psychiatrischer Störungen von 106 auf inzwischen 297. Nicht nur der Fortschritt der Forschung könnte dafür der Grund sein, sondern auch 'disease mongering', Geld verdienen mit der Ausweitung von Diagnosen, vermuten unabhängige Beobachter." Zum vollständigen Artikel…
Thursday, October 16. 2008
Manfred Füllsack, Sozialwissenschaftler an der Universität Wien, hat sich 1998, also nach Erscheinen von Luhmanns "Gesellschaft der Gesellschaft" in einem Aufsatz für "Soziale Systeme" (mit dem Titel "Geltungsansprüche und Beobachtungen zweiter Ordnung. Wie nahe kommen sich Diskurs- und Systemtheorie?") noch einmal Gedanken über die sogenannte Habermas-Luhmann-Debatte unter gemacht und plädiert für eine Entpolarisierung: "Obwohl die Heftigkeit der Kontroverse nicht zuletzt auch in der Wahl der sprachlichen Mittel zwar nun eine gewisse Konsolidierung gegenüber ihrem Beginn in den siebziger Jahren zu erfahren scheint, dürften die beiden Konzepte in der sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion nach wie vor als weitgehend inkompatibel gelten. Gerade „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ gibt aber, indem sie gewisse, freilich bereits auch im früheren Werk angelegte Züge der systemtheoretischen Konzeption mit neuer Deutlichkeit herausstellt, Anlaß, einen zweiten Blick auf Parallelen und Analogien von Diskurs- und Systemtheorie zu werfen. Dabei zeigt sich überraschender Weise, daß die Fronten so starr gar nicht sein müßten, daß sie vielmehr an sehr grundsätzlichen Stellen Möglichkeiten bieten, um die eine Konzeption in die andere überzuführen oder mit den Konsequenzen der einen an Prämissen der anderen gewissermaßen „interkonzeptuell“ anzuschließen. Ob die beiden Autoren (und vor allem die mittlerweile nicht unbeträchtliche Zahl ihrer Epigonen) ihre Theorien freilich in dieser Weise „kompatibilisiert“ sehen wollten, bleibt fraglich. Da sich aber beim Aneinanderhalten der beiden Konzepte einerseits ein besseres Verständnis der jeweiligen Ansätze ergeben könnte ( - um mit Luhmann zu sprechen, kann man dann sehen, daß und wie eine der Theorien sehen kann, was die jeweils andere nicht sehen kann - ), und andererseits damit vielleicht auch weitere Anschlußmöglichkeiten für die Sozialwissenschaften geschaffen werden, werde ich im folgenden – als Teil einer umfangreicheren Untersuchungsreihe zur Habermas-Luhmann-Debatte - die jeweiligen theoretischen Zentren der beiden Konzeptionen gegeneinanderstellen und zeigen, daß ihre Differenzen zwar grundsätzlich, nicht aber unüberwindbar sind." Der Aufsatz ist auch im Internet zu lesen, hier ist der Link…
Thursday, October 9. 2008
 "Amerikamüde ist jemand, der seine Zeit als Amerikabetrachter für beendet erklärt und doch immer wieder auf dieses Land schauen muss wie Frau Matzerath auf die Aale im Pferdeschädel. Er hält das Interesse an Wahlkämpfen für übertrieben, weil es ja nicht der Präsident ist, der die USA regiert. Trotzdem geht ihm das Spektakel nicht aus dem Kopf." So leitet Gert Raeithel seine Betrachtungen in der aktuellen Ausgabe der Gazette über den amerikanischen Wahlkampf, über Sieger, Verlierer, Betrüger und den kulturellen Niedergang der USA ein (Foto: moonbattery.com) Die Lektüre lohnt sich…
Wednesday, October 8. 2008
 "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, so lautet der berühmte letzte Satz des Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein. Franz Hogel, Dipl.-Kommunikationsdesigner und Wittgenstein-Kenner aus Nürnberg, versucht in seinem Text, die philosophischen Paradoxien Wittgensteins, die sich aus der Selbstreferentialität seines sprachlichen Philosophierens ergeben, systemtheoretisch zu rekonstruieren und mit einen systemtheoretischen Konzept von Selbstreferentialität in Beziehung zu setzen. "Die Systemtheorie transformiert den wittgensteinschen Grundsatz, dass nicht gesagt werden könne, was sich nur zeigt, dahingehend, dass nicht zugleich gesagt werden kann, was sich zeigt. In einem nächsten Satz kann sehr wohl beschrieben (gesagt) werden, was der vorangegangene gezeigt hat. Die Sage des gegenwärtigen Satzes kann sich im Moment des Sagens wiederum nur zeigen usw. Hier kann man unschwer das Motiv der Beobachtung zweiter Ordnung, die immer auch – für einen Beobachter dieser Beobachtung – als Beobachtung erster Ordnung beschrieben werden kann, wiedererkennen. Oder, angelehnt an Spencer-Brown: Jede Markierung von etwas setzt eine Unterscheidung ein, die nicht zugleich, sondern erst später markiert werden kann. Was sich im Gesagten gezeigt haben mag – der implizite Kontext, die ausgeblendete Unterscheidung, das „unwritten cross“ (Spencer-Brown) –, kann immer nur im Nachtrag gesagt werden. Dann stellt der Beobachter der Form fest, dass er schon immer mit dieser Form beobachtet hat." Zum vollständigen Text…
Monday, October 6. 2008
 Lesenswerte Gedanken zum schillernden Begriff der "Information" hat sich der österreichische Philosoph Herbert Hrachovec gemacht: "Ein Weg dazu ist etwa, sich das Wort 'Information' vorgeben zu lassen, und es aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Es spricht nicht von selbst, auch wenn die Buchstabenfolge in noch so vielen Suchmaschinen registriert ist. Damit es etwas sagt, braucht es Kontext, und wenn es einen Kontext gibt, dann meistens mehrere, die einander in wichtigen Punkten widersprechen. Die Konfrontation der Betrachtungsweisen ist ein gesellschaftliches Problem. Für Arbeit ist gesorgt." Ein Aspekt ist die Frage nach dem Verhältnis von symbolischem Code und den vermeintlich neutralen technischen Kommunikationsmedien: "Jedes Ordnungssystem schafft Entfaltungsspielräume, Gewinner und Verlierer. Ein offenbares Defizit der gegenwärtigen Informationsgesellschaft besteht darin, daß es erst wenig Mittel gibt, die Rolle der Ingenieurswissenschaft in solchen Abläufen fundiert zu kritisieren. Am Umgang mit dem Wort 'Information' läßt sich die Unbeholfenheit gut zeigen. In der Arbeit mit Computern errechnet sich der Informationsgehalt eines Ausdrucks aus dem System von Differenzen, in dem er einen Platz markiert. Damit können Außenstehende wenig anfangen. Für sie stehen mitgeteilte Inhalte im Vordergrund, nicht die binären Entscheidungssequenzen, welche erlauben, sie digital zu kodieren. Von dieser Seite wird gerne betont, daß die Technik Dienstleistungsaufgaben im Interesse der Menschen zu erfüllen hat. Das wäre praktisch, übersieht jedoch einen entscheidenden Punkt. Die Bereitstellung von Kommunikationsmitteln ist gegenüber den Kommunikationsinhalten nicht neutral. Informatikerinnen geben Sprachen vor, die nicht selten jene Gedanken bestimmen, welche die Sprachen ausdrücken. Die nervöse Insistenz auf dem Primat des Humanen überspielt das Faktum, daß er durch digitale Technologien auf weite Strecken ausgehöhlt ist. Bis vor Kurzem mußte jemand, um ein Plagiat zu verfassen, das Original zumindest lesen. Mit Hilfe von Suchmaschinen sowie 'cut and paste' wird diese Hürde übersprungen. Ein Hauptgrund für die die mühsame Entwicklung fundierter Technologiekritik liegt darin, daß die Ingenieure, ohne es wahrzuhaben, Bedingungen der Kommunikation bestimmen, während den Kommunikationspartnern in der Regel die Mittel fehlen, das Verfahren zu durchschauen, geschweige denn, verändernd einzugreifen. Das kompensieren sie gerne mit ehrgeizigen Sprüchen." Zum vollständigen Text…
Friday, October 3. 2008
 Ging es gestern an dieser Stelle um ein Buch zur "Selbstwirksamkeit von Klienten", ist heute die Reflektion der Selbstwirksamkeit des Therapeuten Thema. Helmut de Waal, Wiener Kollege von Konrad Grossmann, hat sich in den "Systemischen Notizen" 2/06 "Gedanken über Mühen und Widersprüche bei der Ausübung des Therapeutenberufes" gemacht: "Alles was wir sagen und tun, sagen und tun wir nicht nur dem Klienten gegenüber, sondern auch uns selbst. Im Grunde können wir sagen, es ist eine Selbstbegegnung, die vom Klienten immer wieder verstört wird, weil er anders antwortet als wir uns denken. Was wir im Alltag vernachlässigen können (die permanente reflexible Selbstbezüglichkeit), müssen wir als Therapeuten aushalten. Der Therapeut muss bereit sein, sich viel mit sich selbst zu beschäftigen, wenn er dem Klienten gerecht werden will." Zum vollständigen Text…
|