Saturday, October 27. 2007
 Wenn der Prozess des Lernens als Prozess der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten verstanden wird, ist er natürlich ein interessanter Gegenstand von konstruktivistischer Erziehung und Erwachsenenbildung. Horst Siebert, Literaturwissenschaftler, Altphilologe und Philosoph, Professor für Erziehungswissenschaften und seit 2002 auch als Professor in Rumänien tätig, hat 2004 für das überwiegend englischsprachige Journal of Social Science Education JSSE einen (deutschsprachigen) Beitrag zu diesem Thema geschrieben und resümiert folgendes: "Eine konstruktivistisch inspirierte Didaktik der sozialwissenschaftlichen und politischen Bildung ist - insbesondere in der Erwachsenenbildung - anschlussfähig an Konzepte des erfahrungsorientierten, lebensweltlichen Lernens, des biografischen Lernens und an den Deutungsmusteransatz. Eine konstruktivistische Didaktik vernachlässigt die Wissensaneignung nicht - wie gelegentlich vermutet wird - , aber Wissen ist eine kognitive, konstruktive Aneignung von Wirklichkeit und wird mit Begriffen wie ,Gewissheit', ,Bewusstsein' und ,Gewissen' verknüpft. Die konstruktivistische Didaktik distanziert sich von einer normativen Pädagogik, die gleichsam stellvertretend für die Lernenden verbindliche Norm- und Wertentscheidungen trifft. Allerdings sind normative Fragen einer zukunftsfähigen, sinnvollen, sozial- und umweltverträglichen Wirklichkeit durchaus zentrale Themen einer konstruktivistischen Pädagogik. Das konstruktivistische Konzept setzt den argumentativen Diskurs, die rationale Konsensfindung, die empirisch gesicherten Erkenntnisse keineswegs außer Kraft und leistet keiner moralischen oder politischen Beliebigkeit Vorschub, es akzeptiert jedoch die Vielfalt der Wirklichkeitsdeutungen und Beobachtungsperspektiven und betont die ,Differenzerfahrungen'". Zum vollständigen Text…
Tuesday, October 16. 2007
 Während alle Welt die Zukunft der deutschen Universität im Bemühen um die Erlangung von Fördermitteln im Rahmen der "Exzellenzinitiative" sieht und gleichzeitig die Mehrzahl der Universitäten sich mit der Umstellung auf Bachelor- und Mastersabschlüsse herumschlägt, frohlockte Dirk Baecker am vergangenen Samstag in der TAZ über die Gewinne, die bei diesem Prozess für die Universität als solche herausspringen könnten - nämlich die versteckte Aufwertung der Lehre: "Im Kern der ,Institution' Universität steht von Anfang an und bis heute die Idee einer Wissenschaft, die von der Notwendigkeit und Attraktivität der Lehre lebendig gehalten wird. Der Gang der Wissenschaft, so Wilhelm von Humboldts Argument für die Universität, also die Lehre, und gegen die Akademie, also die Versammlung der Gelehrten, sei unter kräftigen, rüstigen und jugendlichen Köpfen rascher und lebendiger. Deswegen ist die Universität bis heute und damit gegen das Interesse von Hochschullehrern, die sich ihre Reputationsgewinne aus ihren Forschungsbeiträgen versprechen, von der Lehre her zu denken. Die Universität ist primär nicht eine Stätte der wissenschaftlichen Forschung, sondern eine Sozialisationsagentur für die Heranführung des Nachwuchses an die komplexeren Fragen von Welt, Leben und Gesellschaft. Wissenschaftliche Forschung ist innerhalb der Universität, worin auch immer ihre eigenen Ziele bestehen, auf ihren Beitrag zu dieser Art von Lehre zu befragen." Es geht dabei um nichts anderes als die methodische, theoretische und praktische Neubestimmung des Verhältnisses von Wissen und Nicht-Wissen: "Dafür braucht man den Dreischritt von Methode, Theorie und Praxis, nämlich (a) die Fähigkeit, zwischen Situationen, in denen man sich festgefahren hat, von Situationen zu unterscheiden, in denen man noch weiterkommt (,Methode'), (b) die Fähigkeit, ein Problem nicht nur zu erkennen und gegebenenfalls zu lösen, sondern überhaupt erst einmal als ein solches zu formulieren, darzustellen und einer möglichen Lösung zuzuführen (,Theorie'), und (c) die Fähigkeit, mit der Erfahrung umzugehen, dass Situationen von den Teilnehmern unterschiedlich definiert werden und noch lange nicht jede gelungene Problemdefinition auch begrüßt wird (,Praxis'). Das Steckenbleiben kann den Verhältnissen, den Dingen, wie sie sind, und den Herren, wie sie herrschen, willkommener sein als das Weiterkommen; und die Problemstellung (bestenfalls auch nur eine Problemverschiebung) tritt jenen auf die Füße, die ihr Auskommen mit der bisherigen Problemvermeidung oder Problemlösung hatten. Deswegen macht es immer wieder Sinn, daran zu erinnern, dass praxis für die alten Griechen jede Tätigkeit war, die sich selbst genügt. Wollte man darüber hinaus etwas bewirken oder herstellen, sprach man von poiesis. Das ist die Herausforderung, der sich die nächste, die kleine, die dichte, die vernetzte Universität stellt: Sie bemisst die methodischen und die theoretischen Kompetenzen, die sie nur vermittelt, indem sie sie laufend erprobt, an einer Praxis, von der man weiß, dass sie sich selbst genügt, indem sie ihre eigenen Motive, Werte und Ziele hat und selbst dann auf Kontinuität hinaus will, wenn sie die Diskontinuität, den dauernden Wandel predigt." Zum vollständigen Artikel…
Monday, October 15. 2007
Heute wäre Michel Foucault 81 Jahre alt geworden. Michael White aus Australien hat seine therapeutischen Bemühungen ganz explizit in einen Foucaultschen Begründungszusammenhang gestellt - und ist dafür auch ziemlich kritisiert worden. Fred Redekop hat in einem Aufsatz im "Journal of Marital and Family" aus dem Jahre 1995 diese Debatte skizziert und stellt sich auf die Seite Whites. "White and Epston's (1990) use of Foucault has been characterized as 'skewed' and 'dubious', a characterization which I have argued is unjust; White in particular has developed Foucault's problematizing practices to a high degree in his work. Rather than Foucault and White having 'nothing in common but their first names', it seems more accurate to say that White has closely followed a number of Foucault's tactics, such as questioning the local use of power, examining the relationship of story to discourse, and raising the question of one's position in a discipline, all tactics which make use of problematization."Der Artikel ist im Volltext auch im Netz zu finden. Hier kommen Sie hin…
Friday, October 12. 2007
 Jan A. Fuhse, bis April 2007 Soziologe an der Abteilung für Soziologie und empirische Sozialforschung der Universität Suttgart beschäftigt und gegenwärtig Visiting Scholar an der Columbia University, hat einen spannenden Aufsatz über "Persönliche Netzwerke in der Systemtheorie" geschrieben, der sich mit dem Status von Sozialbeziehungen beschäftigt, die keine eindeutige Innen-Außen-Differenzierungen im Sinne von System-Umwelt-Unterscheidungen zulassen. Im abstract heißt es: "Persönliche Netzwerke haben in der Luhmannschen Systemtheorie bisher keinen systematischen Stellenwert. Die vorliegende Arbeit versucht diese Lücke mit einer Diskussion bisheriger Begriffsvorschläge und dann mit einer eigenen Verortung des Netzwerkbegriffs in der Systemtheorie zu schließen. Zunächst wird überprüft, inwiefern frühere konzeptionelle Vorschläge in der Systemtheorie für die Fassung persönlicher Netzwerke geeignet sind. Diskutiert werden die Dreier-Typologie sozialer Systeme (Interaktion, Organisation und Gesellschaft) nach Niklas Luhmann, der Vorschlag einer Erweiterung um den Systemtyp der Gruppe von Helmut Willke, Friedhelm Neidhardt und Hartmann Tyrell, sowie Überlegungen zu Familie und Intimsystemen von Tyrell, Luhmann und Peter Fuchs und der Begriff des Interaktionszusammenhangs nach André Kieserling. Der zweite Abschnitt nimmt die bisherigen systemtheoretischen Arbeiten zum Netzwerkbegriff in den Blick: einige Formulierungen von Luhmann selbst, die Arbeiten von Gunther Teubner, von Eckard Kämper und Johannes Schmidt, von Veronika Tacke und von Stephan Fuchs. Abschließend wird auf den vorangegangenen Überlegungen aufbauend ein eigener Begriffsvorschlag für die systemtheoretische Fassung des Netzwerkbegriffs entwickelt. Einzelne Sozialbeziehungen werden dabei im Anschluss an Luhmann als autopoietische Systeme gesehen. Diese sind in gemeinsamen Interaktionen und in der Konstruktion von Personen (als Knoten von Netzwerken) aneinander gekoppelt. Nur in Ausnahmefällen entstehen dabei symbolisch abgeschlossene Gruppen wie Familien oder Straßengangs." Die Arbeit ist in der Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart 2005 erschienen und ist auch online zugänglich. Zum vollständigen Text…
Sunday, October 7. 2007
 Noch ein Geburtstag! Heute wäre Ronald D. Laing 80 Jahre alt geworden. Er wurde am 7.10.1927 in Glasgow geboren und starb im Alter von 61 Jahren in St. Tropez. Ursprünglich psychoanalytisch ausgebildet, machte er sich vor allem einen Namen als Mitbegründer der Anti-Psychiatrie-Bewegung. In den 60er und 70er Jahren wurde er mit seinen Büchern "Das geteilte Selbst", "Das Selbst und die Anderen", "Phänomenologie der Erfahrung" und "Wahnsinn und Familie" sehr berühmt. 1962 besuchte er erstmals Gregory Bateson und Jay Haley in den USA, im Sammelband "Schizophrenie und Familie" der Autorengruppe um Bateson veröffentlichte er den Beitrag "Mystifikation, Konfusion und Konflikt". Später ließ sein Ruhm, der u.a. auch auf seinem politischen Engagement beruhte, rapide nach. Daniel Burston, der 1996 ein Buch über Laing geschrieben hat ("Wings of Madness") zeichnet in einem differenzierten Beitrag für das Online-Magazin JANUSHEAD den Lebensweg Laings nach und macht deutlich, dass Ruhm und Vergessenheit nur zum Teil Laing selbst zuzuschreiben sind, zum anderen Teil den Veränderungen in den intellektuellen Moden: "Mention Laing nowadays and most people can dimly conjure up a flamboyant rebel of the psychedelic era, a chum of Tim Leary, Ram Dass, and Allen Ginsburg -- which he was, of course, off and on. But press them to describe what he stood for, what he actually thought or said, and you'll only elicit a trickle of platitudinous sound bites, proving that serious reflection on his work has virtually halted. The lasting fame that Freud and Jung achieved, and that some predicted for Laing, eluded him, and the recent stream of books about him, (my own included), have done nothing to change that. My first book on Laing, The Wing of Madness, appeared in 1996, and since then many people have asked me why Laing's credibility declined so dramatically over the years. By way of a reply I generally rattle on about his internal contradictions, his inability to follow through and finish his various projects, his flamboyant and provocative gestures, and so on. All true, up to a point. Laing must shoulder some of the responsibility for his current neglect -- something he was apparently unwilling or unable to do. But on further reflection, the reasons for his brief fame and rapid decline are much more complex, and have less to do with his enigmatic personality than with changing climates of opinion." Zum vollständigen Text…
Friday, October 5. 2007
 Rainer Krause, Professor für Psychologie an der Universität Saarbrücken und einer der bekanntesten deutschsprachigen Affekt- und Psychotherapieforscher, wird heute 65. systemagazin gratuliert und verweist aus diesem Anlass auf eine online verfügbare Arbeit von Rainer Krause, die sich mit der Mikroebene affektiver Kommunikation in gestörten Beziehungen beschäftigt: "In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die 25-jährigen Studien der Forschungsgruppe Saarbrücken zusammenzufassen. Es wird argumentiert und mit dem empirischen Material untermauert, dass man die Hartnäckigkeit psychischer Störungen teilweise erklären kann durch das unbewusste mikro-affektive Verhalten der seelisch erkrankten Personen, das ihre normalen Partner dazu bringt, ihre unbewussten Annahmen über sich und die Welt zu bestätigen. Die Art und Weise, wie dies geschieht, wird am Verhalten verschiedener Störungsbilder aufgezeigt. Nach Weiss und Sampson hat dieses Verhalten als Testfunktion sicherzustellen, dass sich die bedeutsamen anderen nicht den historischen Figuren entsprechend verhalten. Die Sicherheitsgrenzen sind allerdings so hoch angesetzt, dass ein Alltagsinteraktionspartner sie nicht bestehen kann. Im zweiten Teil werden die Studien dargestellt, die untersuchten, ob sich gute Therapeuten ganz unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung dadurch auszeichnen, dass sie sich dieser unbewussten Verhaltensinduktion entziehen können. Diese Annahme konnte sehr überzeugend bestätigt werden. Die Anzahl mikroaffektiver Verflechtungen korreliert signifikant mit dem Misserfolg, wobei reziproke Verflechtungen, besonders unheilvoll sind. Darunter werden unbewusste affektive Antwortreaktionen verstanden, die im gleichen hedonischen Umfeld stattfinden, beispielsweise der Freude oder aber der negativen Affekte wie Verachtung und Ekel. Es wird eine Taxonomie des Scheiterns gut ausgebildeter Therapeuten vorgenommen, und es werden Überlegungen zur Behandlungstechnik und Ausbildung angestellt." Zum vollständigen Text…
Tuesday, October 2. 2007
 Heute vor fünf Jahren starb Heinz von Foerster in Pescadero, Kalifornien, im Alter von fast 92 Jahren. systemagazin verweist aus diesem Anlass auf einen spannenden Aufsatz von Wolfram Lutterer, in dem dieser die Rezeption von Gregory Bateson und Heinz von Foerster durch Niklas Luhmann kritisch untersucht. Der Aufsatz ist 2002 in der Zeitschrift "Sociologia Internationalis" erschienen und auch als PDF im Netz zu lesen. Lutterer macht deutlich, dass systemisches Denken bei den genannten Autoren durchaus zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt und kritisiert insbesondere die Verwendung des Konzeptes der strukturellen Kopplung bei Luhmann: "Wenn im folgenden zwischen einer ,Systemtheorie' bei Luhmann und einer ,systemischen Theorie' bei Bateson und Foerster unterschieden wird, verdankt sich dies insbesondere zwei, meines Erachtens zentralen Unterschieden beider Positionierungen: Erstens besteht ein Unterschied hinsichtlich der Rolle des Beobachters. Für Bateson wie Foerster dürfte die allzu artifizelle Trennung sozialer, psychischer und biologischer Systeme durch Luhmann nur wenig Sinn machen. Dies wird im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes noch weiter ausgeführt werden. Für beide ist in einem sehr radikalen Sinne der Beobachter Teil des beobachteten Systems und nicht nur ,strukturell gekoppelt'. Eine Konsequenz hieraus ist allerdings auch, daß in einer systemischen Herangehensweise keine auch nur annähernd vergleichbare ,großer Theorie' entwickelt werden kann. Zweitens besteht aber auch ein Unterschied im Systembegriff selbst. Zur Klärung der unterschiedlichen Semantiken sollte es genügen, daß eine systemische Theorie nicht notwendig die Existenz von Systemen postuliert, sondern schlichtweg irgendetwas als ein System beschreibt. Eine Systemtheorie hingegen versucht – zumindest im Luhmannschen Sinne – bereits als System erkannte Phänomene hinsichtlich ihrer Eigenheiten zu analysieren. Das System wird hier – und zwar nicht nur aus pragmatischen Gründen – als realiter vorhanden angesehen. Die Unterschiede in den Systembegriffen von systemischer Theorie und Systemtheorie bei den drei genannten Autoren werden nachfolgend näher analysiert und insbesondere hinsichtlich Luhmannscher Theorie problematisiert." Zum vollständigen Text…
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