Saturday, September 30. 2006
"Der 30. September 2006 ist ein schwarzer, ein schlimmer Tag für aufgeklärtes, aufklärendes Denken und Handeln in Deutschland. An diesem Tag wird das Institut für Sexualwissenschaft ( zur website hier) in Frankfurt, bislang angesiedelt im Klinikum der Universität, abgewickelt, geschlossen, also beseitigt. Zum Anlass nehmen die Mitglieder des Fachbereichsrates Medizin ohne Gegenstimmen die Emeritierung des Direktors Professor Volkmar Sigusch, der das Institut 1973 aufgebaut hat." So schreibt die Süddeutsche Zeitung in einer Würdigung von Volkmar Siguschs Lebenswerks. "Nimmt man alles in allem, dann ging es bei der Arbeit des Instituts für Sexualwissenschaft neben der Minderung von Leiden vor allem um die Rettung, die Legitimation, die Neuerfindung der Liebe, von der doch keiner endgültig sagen kann, was sie in Wahrheit sei. Weil das so ist, weil das in der fragmentierten Welt gesellschaftlich notwendiger wäre denn je, hätte Siguschs Institut gerettet werden müssen. In zwei bis drei Jahren soll es eine unselbstständige Professur für reine Sexualmedizin im Zentrum für Psychiatrie geben. Die emphatische Aufklärung hat verloren. In Frankfurt wurde eine Chance vernichtet."
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Anlässlich der Zerschlagung des "Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaften" im Anschluss an die heutige Emeritierung des Institutsleiters Volkmar Siguschs sei hier auf einen Text von Sigusch verwiesen, der als Open Source im Internet frei zugänglich ist: "On cultural transformations of sexuality and gender in recent decades (leider ohne deutsche Übersetzung). In der Zusammenfassung heißt es: "Nach der letzten „sexuellen Revolution" kam es in den reichen Gesellschaften des Westens zu einer enormen kulturellen und sozialen Transformation der Sexualität. Sigusch nennt sie die "neosexuelle Revolution". Bisher ist diese Transformation und Umwertung der Sexualität eher langsam und leise verlaufen. Ihre symbolischen und realen Auswirkungen sind aber möglicherweise einschneidender als die der schnellen und lauten sexuellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre. Die neosexuelle Revolution zerlegt die alte Sexualität und setzt sie neu zusammen. Dadurch treten Dimensionen, Intimbeziehungen, Präferenzen und Sexualfragmente hervor, die bisher verschüttet waren, keinen Namen hatten oder gar nicht existierten. Insgesamt verlor die Kulturform Sexualität an symbolischer Bedeutung. Heute ist Sexualität nicht mehr die große Metapher der Lust und des Glücks. Sie wird nicht mehr so stark überschätzt wie zur Zeit der sexuellen Revolution, ist eher eine allgemeine Selbstverständlichkeit wie Egoismus oder Motilität. Während die alte Sexualität positiv mystifiziert wurde als Ekstase und Transgression, wird die neue negativ mystifiziert als Missbrauch, Gewalt und tödliche Infektion. Während die alte Sexualität vor allem aus Trieb, Orgasmus und dem heterosexuellen Paar bestand, bestehen die Neosexualitäten vor allem aus Geschlechterdifferenz, Thrills, Selbstliebe und Prothetisierungen. Aus der Unzahl der miteinander vernetzten Prozesse, die Neosexualitäten hervorbringen, werden drei herausgegriffen: die Dissoziation der sexuellen Sphäre, die Dispersion der sexuellen Fragmente und die Diversifikation der sexuellen Beziehungen. Das Resultat der neosexuellen Revolution könnte als 'Lean sexuality' oder als 'Selfsex' bezeichnet werden, der selbstdiszipliniert und selbstoptimiert ist." Zum vollständigen Artikel…
Wednesday, September 20. 2006
 Der Schweizer Psychoanalytiker und Schriftsteller Paul Parin (Foto: Psychosozial-Verlag) wird heute 90 Jahre alt. David Signer hat ein aktuelles Interview mit ihm für die Zürcher Weltwoche geführt, in dem der vor einem Jahr erblindete Parin freimütig Auskunft über seine jetzige Lebenssituation gibt, über Suizidgedanken, die Diskrepanz zwischen seiner körperlichen und geistigen Verfassung und einiger interessanter Aspekte seiner Biografie (wobei sich die Frage stellt, welche Aspekte seiner Biografie nicht interessant sein könnten). Es wäre ihm wohl nicht recht, wenn man ihm heute ein langes Leben wünscht, dennoch an dieser Stelle ein Ausdruck von Wertschätzung und Hochachtung, verbunden mit den besten Glückwünschen. Auf der Website von Roland Kaufhold finden sich noch drei Texte über Parin, ein Artikel anlässlich seines 80. Geburtstages, der in der Frankfurter Rundschau erschien, sowie zwei Rezensionen von Parins literarischem Werk aus der Zeitschrift psychosozial.
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Friday, September 15. 2006
 Vor 250 Jahren wurde nicht nur Wolfgang Amadeus Mozart geboren, sondern auch Karl Philipp Moritz, und zwar genau heute vor 250 Jahren. Dennoch haben wir kein Moritz-Jahr (abgesehen davon, dass für mich als Vater eines Moritz eigentlich jedes Jahr Moritz-Jahr ist). Benedikt Erenz hat in der letzten Ausgabe der "Zeit" zehn schöne Gründe dafür genannt, Moritz (mal wieder) zu lesen. Er ist nicht nur als Autor des "Anton Reiser" zum Klassiker geworden, sondern hat auch eine der ersten psychologischen Zeitschriften überhaupt gegründet - mit dem schönen Namen "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde". Also: warum nicht im Moritz stöbern (und womöglich etwas Mozart dabei hören)?
Monday, September 11. 2006
"September 11th Revisited" ist ein fesselnder Film über die Zerstörung des World Trade Center (Foto: Wikipedia). Es handelt sich um eine eindrucksvolle Dokumentation mit Augenzeugenberichten und archivierten Nachrichten-Beiträgen vom 11.9.2001, die jedoch niemals im Fernsehen präsentiert wurden. Es werden nicht nur Interviews mit Augenzeugen und Feuerwehrmännern gezeigt, sondern auch Analysen von Experten und Wissenschaftlern wie Steven E. Jones, David Ray Griffin, Jeffrey King und James H. Fetzer. Der Film versucht Beweise beizubringen, dass die vollständige Zerstörung der World Trade Center Türme sowie des Gebäudes WTC7 nur durch den zusätzlichen Einsatz von Sprengstoff ermöglicht wurde. Zum Film…
Sunday, September 10. 2006
 Liebe Leserinnen und Leser, das systemagazin findet immer mehr Zuspruch und Interesse, darüber freue ich mich. Allein im (Ferienmonat) August gab es über 800 Besuche täglich. Viele positive Rückmeldungen betreffen die Systemische Bibliothek. Auch zukünftig möchte ich Ihnen die Möglichkeit bieten, systemische Texte, die nicht mehr ohne weiteres im Buchhandel erhältlich sind, in der Systemischen Bibliothek nachzulesen. Diese Texte stehen online auf dem systemagazin-server zum download zur Verfügung. Nun habe ich eine weitere Idee, zu deren Realisierung ich auf Sie angewiesen bin. Ich möchte im systemagazin analog zur Systemischen Bibliothek eine Link-Bibliothek einrichten. Im Internet existieren viele ungehobene Schätze, die für SystemikerInnen interessant sind, aber an vielleicht recht unzugänglicher Stelle oder nicht ausreichend verlinkt (Zeitschriftenarchive, Online-Journals, Promotionsarchive etc.). Ich möchte solche Texte im systemagazin vorstellen und in einem eigenen Link-Archiv präsentieren. Es sollten aber tatsächlich einzelne Texte sein (nicht nur abstracts) und nicht etwa komplette websites, portale oder Bibliografien. Die Links werden alphabetisch nach Autoren angeordnet und mit einem abstract oder einer kurzen Beschreibung versehen. Ich möchte Sie einladen, bei Ihren Surfgängen im Internet an das systemagazin zu denken, wenn Sie über etwas Interessantes stolpern. Das muss nicht zwangsläufig etwas explizit Systemisches sein, wichtiger ist, dass Sie es für eine interessante Lektüre für systemisch orientierte Leser halten. Wenn Sie mir den Link und ein paar Zeilen zum Text (nicht mehr als 5) schicken, veröffentliche ich auch gerne Ihren Namen als Einsender(in). Wenn Sie alle mitwirken, kommt sicherlich ein schöner Fund(us) zusammen. Herzlichen Dank im Vorhinein und beste Grüße Ihr Tom Levold
Wednesday, September 6. 2006
Harald Welzer, 48, Gedächtnis- und Erinnerungsforscher am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, beleuchtet in einem TAZ-Interview die "Grass-Affäre" aus der Perspektive seiner Untersuchungen über die Erinnerungen an die NS-Zeit ("Opa war kein Nazi") und wirft ihm mal was ganz anderes vor als die sonst gerne genannten moralischen Defizite, nämlich sein "leeren Sprechen" über die Seiten der dunklen Vergangenheit, in die er selbst als Akteur verstrickt war. Zitate: "Es werden, wie bei Grass, wie wir in unseren Studien zu deutschen Familienüberlieferungen der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus gefunden haben, fast nie Details geliefert, wenn es um Einheiten, Orte und Einsätze geht. Es werden aber in der Regel auch keine erfragt. Und mit gutem Grund dringt man in solchen Momenten nicht weiter in die Zeitzeugen, würden einem Details über Ort und Art der Einsätze doch vielleicht das Bild vom guten Großvater oder aufrechten Großschriftsteller etwas zerknittern.… "Den Modus, der dieses generationelle Einverständnis garantiert, haben wir in unserer Untersuchung über das deutsche Familiengedächtnis 'leeres Sprechen' genannt: Man sagt vage 'das da mit den Juden' oder 'was sie da gemacht haben' und vermeidet es tunlichst, Akteure, Ereignisse und Zusammenhänge konkret zu benennen. 'Sie', 'die', 'das da' und 'man' - solche nebulösen Benennungen machen es dem Zuhörer möglich, die Leerstelle genau mit jenem Sinn aufzufüllen, der seinem eigenen Bedürfnis entspricht. Orte, Zeiten, Personen werden im Modus des leeren Sprechens nicht genannt, und doch glaubt man, etwas über die Vergangenheit des Erzählers zu erfahren. Das mag ein Grund sein, weshalb keiner der vielen Leser der Vorabexemplare von Grass' Zwiebelbiografie bemerkt hatte, dass hier sein Outing schon vorkam - als eigentümlich leere Formulierung, 'wie mir auch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist'."… "Was die Angehörigen dieser Generation nie begriffen haben, ist, dass sie Teil eines gegenmenschlichen Projekts waren, das es ohne ihre Teilhabe nicht gegeben hätte. Das erinnerungspolitische Zauberkunststück, sich permanent aus jenem Zusammenhang herauszudefinieren, den man zugleich 'niemals zu vergessen' behauptet, beherrschen sie mit solcher Sicherheit, dass die Frage, warum sich ganz normale Deutsche mehrheitlich in erstaunlich kurzer Zeit für die Unmenschlichkeit entschieden haben, bis heute unbeantwortet geblieben ist."… "Das ist das Erbe der nationalsozialistischen Zeit: Eine Distanzlosigkeit sich selbst gegenüber, die eine Anerkennung dessen, was anderen angetan wurde, über bloße Bekenntnisrhetorik hinaus nie im Sinn und, vor allem, nie im Gefühl gehabt hat. Ein Habitus des Immer-recht-Habens, der Larmoyanz, der vollständigen Unfähigkeit zur Ambivalenz, frei von jeder Selbstironie. Totalitäre Systeme sind solche, in denen die größte Gewissheit darüber besteht, was richtig und was falsch ist. Wer in einer Gewissheitswelt groß geworden ist, scheut Ambivalenzen wie der Teufel das Weihwasser. Noch die Welt der 68er war völlig binär gewirkt und darin dem Nationalsozialismus viel näher, als sie selbst wahrhaben mochte. Der Fall Grass markiert nur den Abgesang einer Generation, die sich immer ganz sicher war und einem damit schon immer auf die Nerven ging." Zum vollständigen Interview…
Nachdem vorgestern überraschend mitgeteilt wurde, dass es jetzt doch schon diese Woche, nämlich heute im TV (und nicht in der Kronenzeitung) ein Interview mit Natascha Kampusch zu sehen gibt, stellen sich natürlich manche Fragen, hieß es doch lange, damit sei auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" fordert ihren Tribut und jede Menge Geld ist dabei – wie immer – im Spiel. In einem hervorragenden Artikel für das FAZ.net beleuchtet Erna Lackner aus Wien die Hintergründe dieser "Vermarktung eines Martyriums". Zur Lektüre empfohlen!
Tuesday, September 5. 2006
Medien entziehen sich nicht nur nicht der Beobachtung, sie müssen sie auch – wenn sie ausbleibt oder ermattet – selber herbeiführen oder herstellen. Auch – oder gerade weil – es nichts zu berichten gibt, weil sich die Person, über die zu berichten wäre, der Berichterstattung entziehen will, müssen die Medien dies allemal als Gegenstand der Berichtserstattung inszenieren. Wir erinnern uns an die Enttäuschung der Medien (und ihrer Nutzer) über die mangelnde Kooperation von Susanne Osthoff bei der Produktion von Aufmerksamkeit, nun mochte auch Natascha Kampusch, das wiederaufgetauchte Opfer einer Kindesentführung in Wien vor 8 Jahren, nicht an der Aufklärung ihres Schicksals mitwirken. Weil sie das nicht tut, müssen die Medien trotz ihres Schreibens Überlegungen anstellen, warum das nicht der Fall ist (Um Geld scheint es offenbar nicht zu gehen, was die Medien natürlich schon einmal ratlos machen dürfte). Die weitreichendste Erklärung: Das Stockholm-Syndrom, unter dem sich jeder etwas vorstellen kann, aber niemand nichts genaues. Nun hat ein gewisser Harald Staun von der F.A.Z. die Gunst der Stunde genutzt und unter dem Signum "die Medien" ein melancholisch-entschuldigendes Schreiben an Natascha Kampusch verfasst ("Unsere Neugier ist grenzenlos…"), das wahr und ironisch gleichzeitig daherkommt: "Sie hatten gehofft, daß außerhalb Ihres Gefängnisses die Wirklichkeit wartet; jetzt stehen dort Kameras und Reporter. Die Flucht vor ihnen führt Sie erneut in die Isolation. Sie wollen nicht an die Öffentlichkeit, aber Sie haben keine Wahl: Ihre Freiheit heißt Öffentlichkeit. Ihre Geschichte ist unsere Geschichte". Es scheint, als ob Frau Kampusch ein Einsehen zeigt, in dieser Woche wird die "Kronenzeitung" (ausgerechnet) ein erstes Exklusivinterview bringen.  Auf ähnliche Weise sind die Medien natürlich auch mit der Beobachtung der Medien durch die Medientheorie verbandelt, die ihre (durchaus auch kritischen) Erkenntnisse nur durch Medien kommunizieren kann. Wobei wir bei der Medientheorie angelangt wären. In drei so spannenden wie köstlichen Gesprächsprotokollen, auf die ich heute beim Internet-Surfen gestoßen bin und die auf der großartigen medientheoretischen und -ästhetischen Internetplattform formatlabor zu finden sind, können wir Dirk Baecker im wahrhaft herausfordernden Diskurs über Medien und Systemtheorie "lesen": Teil 1, Teil 2, Teil 3. Als Herausforderer wirken Till Nikolaus von Heiseler und Pit Schultz. Viel Spaß bei der Lektüre!
Sunday, September 3. 2006
Wer noch immer an der Grass-Debatte interessiert ist, hier ein Link zum ausführlichen Interview von Karin Fischer (Deutschlandradio) mit dem Soziologen und Generationenforscher Heinz Bude, der versucht, sich in die Situation von Grass einzufühlen: "Eine Generation ist auch dadurch charakterisiert, dass die voneinander wissen, worüber die anderen nicht reden.… die riechen das. … Schweigen heißt nicht unbedingt böses Schweigen, sondern Schweigen ist auch etwas, das man voneinander weiß, worüber eigentlich schwer zu reden ist." Zum Interview (mp3, ca. 24 min.)…
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