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04.04.2010
Arist von Schlippe & Jochen Schweitzer: Systemische Interventionen
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Vandenhoeck & Ruprecht / UTB, Göttingen 2009
128 S., brosch.
Preis: 9,90 €
ISBN-10: 3825233138
ISBN-13: 978-3825233136 |
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Verlag Vandenhoeck & Ruprecht/UTB
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach: Systemische Interventionen – Systemische Interaktionen?
Die beiden Lehrbücherautoren Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer haben jetzt ein Kompendium systemischen Anwendungswissens herausgebracht, das sicherlich bald zur Standardlektüre für AusbilderInnen und AusbildungskandidatInnen werden dürfte, sowie zu einer bevorzugten Quelle für allgemein am Thema Interessierte. Man merkt dem Text an, dass er aus der Fülle jahrzehntelanger Tätigkeit schöpft, sowie aus der im Lauf der letzten 20 Jahre entwickelten Eleganz, ein umfassendes und anspruchsvolles Ideengelände dermaßen smooth zu porträtieren und in Anwendungsvorschläge zu übersetzen, dass man die Schlaglöcher und Schotterstrecken kaum merken dürfte, die es auch auf systemischen Wegen zuweilen gibt. Das ist alles gut gemacht, dient dem Zweck des überblickartigen Informierens zu Lehr- und Lernzwecken ebenso wie der Selbstpositionierung auf Augenhöhe in Bezug zu anderen Schulen professioneller psychosozialer Hilfen. Die systemischen Ideen und Konzepte zum Umgang mit Problemsystemen und Fördern von Lösungssystemen sind von der Menge her umfassend, doch in der Form ebenso knapp wie informativ beschrieben. Dies unterstützt durch gesondert gesetzte Beispiele und durch viele inhaltlich gegliederte Sets von Techniken. Den Autoren darf man gratulieren zu einer schnörkellosen, eingängigen Kurzdarstellung systemisch begründeter Vorgehensweisen. Wer sich in dieser Hinsicht einfach informieren möchte, ist damit sehr gut bedient.
Der nun folgende Teil dürfte wohl vor allem diejenigen LeserInnen interessieren, die es (zumindest ein wenig) bedauern, dass sich dieses Buch, das sicherlich zu einem Aushängeschild systemischer Hilfeformen werden wird, fast vollständig auf die Pragmatik systemischer Ideen konzentriert. In der Tat lässt der Buchtitel „Systemische Interventionen“ vermuten, dass diese Publikation eine logische Folge und natürliche Ergänzung des Lehrbuchs II ist, und dem Anliegen dient, systemische Hilfekonzepte an die Erfordernisse des Mainstreams anzudocken. Den Autoren dürfte dies recht sein. Zum einen haben sie schon lange akzeptiert, dass eine Verankerung der Systemischen Therapie im Chor der Anerkannten nur um den Preis zu haben ist, ausreichend anschlussfähig zu wirken für die, die darüber entscheiden, ob man mitsingen darf. Dies bedeutet nicht ohne weiteres sich unterzuordnen oder zu verleugnen. Doch verlangt es Kompromisse, die ebenfalls nicht ohne weiteres für alle akzeptabel erscheinen. Zum anderen habe ich den Eindruck, dass die Autoren im vorliegenden Buch den Bereichen Organisationsberatung, Coaching, Supervision größere Beachtung zu widmen scheinen. Möglicherweise ist das auch ein Trend. Und vielleicht hat dieser Trend damit zu tun, dass in den genannten nichttherapeutischen Bereichen die Ursprungsidee der Platzierung von Hilfe in größeren Settings eben eher nahe liegt. Dazu passt, dass hier m.E. klinische Beispiele häufig aus dem Bereich der Familientherapie genommen werden – auch wenn gleich zu Anfang der entscheidende Schritt von der Setting- zur Konzeptorientierung benannt wird. Welche Rolle spielt es dabei, dass im beigefügten Glossar „Setting“ definiert ist als „Gestaltung der Beratungssituation durch den Berater“ (Hervorh. WL)? Ein kleines Beispiel dafür, scheint mir das, wie sich ebenso unscheinbar wie folgenreich Schritt für Schritt eine Bedeutungsbewegung entwickelt hin zur systemischen „Behandlung“. Hätte das vorliegende Buch unter dem Titel „Systemische Interaktionen“ Sinn gemacht? Für wen? Der Begriff „Sinn“ fehlt im Glossar übrigens ebenso, wie etwa Selbstorganisation, Kontingenz, Kooperation – allesamt im Text an wichtigen Stellen verwendet. Dagegen findet sich dann im Glossar der Begriff „Psychose“. Nun ja.
Noch einmal zur Settingfrage. Ich denke, dass in diesem Buch, ob gewollt oder nicht, eine wichtige Frage angerissen ist, ohne dass sie explizit diskutiert wird. Mein Eindruck ist, dass die Autoren vornehmlich auf Mehrpersonensettings zielen. Und dies scheint mir auch eine logische Konsequenz zu sein aus einem mehr oder weniger explizit formulierten Primat des Kommunikativen als dem eigentlichen Zuständigkeitsbereich systemischer Perspektiven. In Sprache bringen, Narrativieren, wertschätzende Beschreibungen finden – alles Schwerpunkte besonderer Aufmerksamkeit systemischer Herangehensweisen. Es scheint mir schön und treffend zusammengefasst, wenn die Autoren schreiben: „Aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Methoden geht es nun im Beratungsprozess immer wieder um die Frage, wie es möglich wird, sich in ein solches Geflecht von sich gegenseitig stabilisierenden Geschichten „einzufädeln“ und Angebote zu machen, diese Geschichte anders zu sehen, die gewohnten Beschreibungen zu dekonstruieren“ (S.11). Das passt zu der m.E. bestechenden, weil heuristisch produktiven Idee, dass im Sinne systemischer Problem-Betrachtung ein Problem nur solange existiert, solange es Thema signifikanter Kommunikation ist. Im Phänomenbereich der Entwicklungslinien von Mehrpersonensettings wird sich relativ leicht Material finden lassen für entsprechend erwünschte Veränderungen. Unter den Prämissen systemtheoretisch verstandener, d.h. operativ definierter Sinnerfassung liegt der Fokus genau darauf.
Was jedoch, wenn es nicht so einfach wäre? Wenn sich das Ausbleiben von Mitteilungen über „Problem“ mit einer resignativen Erkenntnis zusammentäte: „Was soll‘s, was ich erlebe passt nicht zu dem, was andere hören wollen…“ Der Gedanke: Es mag sein, dass die Frage des Rubikons im engeren Bereich von Therapie und existenziell gestimmter Beratung eine größere, zumindest: andere Rolle spielt als im nichttherapeutischen Bereich. Der Rubikon, den es zu überschreiten gilt zwischen kommunikativem Geschehen und gespürtem Erleben. Es ist richtig, wenn die Autoren darauf hinweisen, dass die Idee kommunikativer Problemsysteme „weitreichenden Missionierungsideen unter Beratern und Therapeuten gewisse Zügel“ anlegt (S.31). Doch was ist mit dem aufmerksamen Nachvollziehen und Erkunden, inwieweit Gesagtes/Mitgeteiltes von Bedeutung ist für jemanden? Ob die Tendenz zur sozialen Zustimmung, bzw. zur sozialen Erwünschtheit unter Werbebedingungen die innere Glaubwürdigkeitsgrenze für jemanden überschreitet, der sich in seinem Alltag mit all den Vernetzungen wieder findet, die allzu oft nicht werben, sondern bedrängen, vernebeln, desillusionieren? Ließe sich das „traurige Beispiel“ auf S.10 nicht auch anders lesen? Ein Beispiel, in dem geschildert wird, wie für einen Jungen in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Station das vorwurfsvolle Anraunzen durch eine Betreuerin offensichtlich intern glaubwürdiger war als die positiv getönten Zuschreibungen, die das Team sich für ihn ausgedacht hatte. Vielleicht ist das weniger ein „trauriges Beispiel“ für die internen Beharrungskräfte der Angst vor dem Chaos als ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Hilfe-Ideen nicht mit denen überlegt werden, denen sie gelten sollen?
Ich möchte einem Missverständnis vorbeugen. Wenn ich mich kritisch mit Interventionsideen auseinandersetze, so wie sie in diesem Buch beschrieben werden, heißt das nicht, dass ich sie im Kern ablehne. Ich möchte sie im Gegenteil als wichtige Bestandteile systemischer Perspektiven würdigen, was für mich jedoch heißt, sie gegen die in der vorliegenden Form aufscheinende Tendenz zur Trivialisierung zu verteidigen. Wie meine ich das? Im Buch gibt es einige Stellen, an denen die Autoren zur Vorsicht mahnen, zur Rücksicht, indem sie darauf hinweisen, es gehe nicht um Technik, es sei notwendig, die Bedingtheit eigener Wirklichkeitskonstruktion im Sinn zu behalten, und es sei wichtig, vor eigenen normativen Vorgaben auf der Hut zu sein (z.B. S. 58, 63, 76). An manchen Stellen lassen die Autoren jedoch Beschreibungen zu, die offen lassen, wie genau sie es nehmen mit diesen Vorsichten. Wenn z.B. Reframing keine Technik sein soll, sondern Ergebnis einer gemeinsam miteinander erzeugten Realität, dann kann ich mich zwar darin üben, aufmerksam zu sein für Möglichkeiten dieses Prozesses und wie ich meinen Teil dazu beisteuern kann, doch es sollte mich wundern, wenn ich das Ergebnis, d.h. „Reframing trainieren“ könnte (S.80). Ebenso: wenn ich das gemeinsame Entwickeln von Kontrakten als ein den gesamten gemeinsamen Weg orientierendes Geschehen begreife, dann scheint mir „Kontrakt“ nicht zusammenfasst werden zu können als „Was biete ich an?“ (S.22). Da nützt dann m.E. auch wenig, den Begriff in der englischsprachigen Verlaufsform zu nehmen: contracting. Das wäre für mich dann eine vom Kern ablenkende Kosmetik.
Die bisherigen Bemerkungen mögen manchem vielleicht zu kritisch klingen. Worum es mir jedoch geht: Ich halte es für wichtig, dass Systemische HilfeanbieterInnen ihre Bemühungen um systemisch plausible Verstehenszugänge in praktische Hilfeangebote übersetzen können. Ohne das bliebe es gut gemeinter Zuspruch, sich nicht vor der Unbill der Welt zu fürchten (was, wenn ernst gemeint, also „in der Tat“ solidarisch geäußert) schon eine ganze Menge ist. „Interventionen“ sind möglich, man kann etwas anregen, anstoßen, aufzeigen (manchmal mehr als einem lieb ist), doch „systemisch“ daran wäre m.E. nie die „Intervention“ an sich. Systemisch wird es m.E. durch eine Rahmung, die es ermöglicht, den Prozess mitzuverfolgen und zu erkunden, wie (unter welchen Bedingungen mehr oder weniger) ein zunächst von außen herankommendes Angebot zur hilfreichen Wendung den Rubikon der jeweiligen inneren Sinngrenze überschreiten kann und, zumindest probeweise, zunächst einmal für wahr genommen werden kann, so als ob es aus sich selbst heraus gekommen wäre. Der Ritt auf der Sinngrenze bleibt das Kunststück, und dies kann geübt werden - was aussehen mag wie: Interventionen lernen. Doch es kann letztendlich nicht „bewirkt“ werden als Intervention. Man muss reingelassen werden, als Besuch vielleicht, auf Probe womöglich. Und erst wenn beim Erlernen dieser Umgangsformen – auch der eigenen Umgangsformen mit den Ausschlägen des Existenziellen im Leben - die Erkenntnis belastbar geworden ist, dass die Sicherheit im Umgang damit nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung ist, dann wird zum Jazz, was vorher wie Durcheinander klang – oder Zumutung. Ich wünsche dem Buch jedenfalls viele LeserInnen, die sich von ihm nicht blenden, sondern anregen lassen, immer wieder zu überprüfen, was sie meinen, wenn sie ihre Arbeit „systemisch“ nennen wollen.
(mit freundlicher Erlaubnis aus systhema 3/2009)
Verlagsinformation:
Was ist systemische Intervention? Systemisches Denken hat sich weite Arbeitsfelder erschlossen, von der Einzel- und Paartherapie über die Supervision bis zur Organisationsentwicklung, in der Medizin und Sozialarbeit wie im Management und der Politikberatung. Bei systemischer Intervention wird ein Problem als Geschehen gesehen, an dem verschiedene interagierende Menschen beteiligt sind, nicht als ein „Ding“, das eine Person „hat“. Störungen, Probleme und Anlässe werden somit im sozialen Kontext betrachtet und behandelt. Das Werk bietet eine übersichtliche Einführung mit vielen Beispielen und Detailanweisungen für die praktische Gesprächsführung.
Inhalt:
Systemische Intervention im Profil
1 Der Beginn der Beratung: zwei Fundamente
1.1 Prozesssteuerung und „Prozess-mit-Steuerung“
1.2 Auftragsorientierung – Kundenorientierung
2 Unfreiwilligkeit und Dreieckskontrakte
3 Der Stellenwert systemischer Methoden: Zugänge zu Wirklichkeits beschreibungen suchen und finden
4 Ein systemisches Verständnis von „Problemen“
4.1 Problemdeterminierte Systeme
4.2 Was „ist“ ein Problem?
4.3 Wie werden Probleme erzeugt?
4.4 Konsequenzen für das Handeln in der systemischen Beratung
Praxis der systemischen Intervention
5 Genogramm, Organigramm, Systemzeichnungen
5.1 Genogramm
5.2 Organigramm
5.3 Systemzeichnungen
6 Systemisches Fragen
6.1 Der Beratungsprozess als engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen
6.2 Zur Form systemischer Gesprächsführung
6.3 Frageformen, die Unterschiede verdeutlichen
6.4 Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktion
6.5 Ein Schaubild
7 Skulpturen, Familienbrett, Aufstellungen
7.1 Skulpturen und Aufstellungen
7.2 Die Familienskulptur
7.3 Das Familienbrett und symbolische Darstellungen
7.4 Familienaufstellungen, Organisationsaufstellungen
7.5 Strukturaufstellungen am Beispiel der Tetralemmaaufstellung
8 Reframing: „Stroh zu Gold spinnen“
9 Reflektierendes Team und Reflektierende Positionen
9.1 Historie und Arbeitsweise
9.2 Grundstruktur der RT-Arbeit
9.3 Reflektierende Positionen in der Teamberatung
9.4 Der „Besuch mit der Reflexionsliste“ / Krankenhausberatung
9.5 Reflektierendes Team im Case-Management
Interventionen in verschiedenen Settings
10 Interventionen im Coaching
10.1 Die Arbeit mit inneren Anteilen
10.2 Auftragskarussell
10.3 Führungskräfteberatung
11 Interventionen in der systemischen Teamberatung
11.1 Teams starten
11.2 Teams fusionieren
11.3 Teams neue Aufgaben geben
11.4 Teams dezentralisieren
12 Interventionen in der systemischen Organisationsberatung
12.1 Menschen in Arbeitskontakt bringen: die Positionsskulptur
12.2 Erzählte Organisationsgeschichte: auf der Zeitlinie wandern
12.3 Ritualgestaltung: kultische Aspekte der Organisation pflegen
12.4 Die schwarze Seele der Organisation: die Gerüchteküche
12.5 Sprechchöre: die Selbstzweifel der Organisation vertonen
Über die Autoren:
Prof. Dr. phil. Arist von Schlippe, Diplom-Psychologe, hat den Lehrstuhl für Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke inne. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut am Institut für Familientherapie Weinheim, Ausbildung und Entwicklung e.V.
Prof. Dr. rer. soc. Jochen Schweitzer, Diplom-Psychologe, leitet die Sektion Medizinische Organisationspsychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut für Systemische Therapie am Helm Stierlin Institut. |
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