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13.03.2007
Gabriele Rosenthal: Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern
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Psychosozial-Verlag, Gießen 1999, 3. Auflage
464 S., broschiert
Preis: 24,90 €
ISBN-13: 9783932133084
ISBN-10: 3-932133-08-0 |
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Psychosozial-Verlag
Renate Franke, Köln:
Wie gehen wir mit Vergangenheit um? Gehört sie noch zur Gegenwart und
zur Zukunft? Erzählen Eltern und Großeltern ihren Kindern und Enkeln
noch vom Früher, vom Wie-es-einmal-War? Walter Benjamin beobachtete
bereits die Akkulturation des Erzählens. Er sah den Grund in der
Ausgrenzung des Todes aus dem Leben. Da „echtes“ Erzählen „angesichts
des Todes“, im Bewusstsein von Werden und Vergehen sich gestaltet,
zerstört ein Weglassen, ein Ausblenden, Verschweigen oder gar
Verleugnen ein Erzählen, das Geschichte, auch Familien- und
Lebensgeschichte, tradiert.
Vor allen Dingen nach dem letzten Krieg ist Schweigen an die Stelle des
Erzählens getreten. Es ist ein Ver-Schweigen von unterschiedlichsten
Verstrickungen in Vorkriegs- und Kriegszeit unter der Ägide des
Nationalsozialismus. Dabei schweigen die Opfer und ihre Nachkommen
ebenso wie die Täter und ihre Familienangehörigen. Doch „wenn die
Großeltern oder Eltern als Überlebende der Shoah nicht von ihren
Erlebnissen sprechen, so ist ihr Schweigen mit ganz anderen Problemen
und Motiven verbunden als das Schweigen der Großeltern und Eltern, die
aktiv an den Nazi-Verbrechen teilgenommen haben“, schreibt Gabriele
Rosenthal, die Herausgeberin und wissenschaftliche Leiterin der im
Titel genannten Studie.
Das Schweigen der Großelterngeneration hat Auswirkungen, ebenso die
Abwehr der Enkelgeneration. Die Familiendynamik, der unvollständig
geführte Dialog, zeigen oberflächlich ähnliche Mechanismen: Abwehr von
Informationen über die Familien-Vergangenheit, Ängste vor Vernichtung
und Trennung, symbiotische Tendenzen und verzögerte Individuation und
Autonomieentwicklung aufgrund unauflösbarer Loyalitäten, Schuldgefühle,
psychosomatische Beschwerden, Depressionen – auch in der
Enkelgeneration – und Ausagieren der verschwiegenen oder verleugneten
Familiengeschichte in Phantasien und Alpträumen kennzeichnen den
problematischen Umgang mit der Vergangenheit.
Familiengeheimnisse wirken im Untergrund. Doch auch hier unterscheiden
sich die Inhalte und Funktionen entsprechend der jeweiligen
Familiengeschichte. Die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und die
jeweiligen Auswirkungen erforschte ein Team in exemplarischen
Fallstudien mit der Methode des biographisch-narrativen Interviews. In
diesen Interviews wurden die Lebensgeschichten von einzelnen
Familienangehörigen jeder der drei Generationen aus Opfer-, Täter- oder
Mitläuferfamilien in West-, Ostdeutschland (ehem. DDR) und Israel
erfragt und erzählt. Auch Familiengespräche, z. T. mit Vertretern aller
dreier Generationen, fanden statt. Insgesamt wurden mit zwanzig
Familien aus Israel und achtzehn aus Deutschland Gespräche geführt.
Israelische und deutsche Autorinnen, ein interdisziplinäres
Forscherteam, aus Soziologinnen, Psychologinnen und Politologinnen
zusammengesetzt, führte diese Studie durch. Nicht nur die Inhalte des
Erzählten, sondern auch die Art und Weise, Auslassungen, Wortwahl und
der Erzählfluss führten zu den schon teilweise benannten Ergebnissen.
Dass einfühlsames Zuhören, wozu auch die innere Bereitschaft gehört,
dieser schwierigen Thematik Raum zu geben, die Methode erst wirksam
macht und ein fruchtbares Wechselspiel zwischen Erzählen und Zuhören
stattfinden kann, wird bei der Lektüre deutlich. Dass überhaupt
erzählt, das Schweigen durchbrochen werden konnte, ist das große
Verdienst dieser Wissenschaftlerinnen, die sich auch selbst damit ihrer
familiengeschichtlichen Vergangenheit stellten.
Diese am Konkreten orientierte Forschung ergab weiterhin, dass das
Nicht-Erzählte auch in Mythen- und Phantasiebildungen, die sich
strukturell wiederum unterscheiden, Ausdruck findet. Die Überlebenden
verfolgter Familien bilden Mythen, die sich auf Stärke und Widerstand
konzentrieren (z. B. soll der Großvater einen SS-Mann im
Internierungslager geohrfeigt haben), während in Täter-Familien die
„Opferrolle der Familienangehörigen strapaziert wird.“ Auf der einen
Seite werden Ohnmachtsgefühle kompensiert, auf der anderen Seite soll
das Bild des „sauberen Soldaten“, der „sauberen Wehrmacht“, die
Verstrickung in Unrecht und Verbrechen abwehren. Der Vergleich
erzählter Lebensgeschichten zeigt auch in anderer Hinsicht strukturelle
Differenzen: „Während die Mitläufer und auch die Täter des
Nationalsozialismus stundenlang über ihre Erlebnisse während der
Kriegsjahre erzählen, haben die Verfolgten Erinnerungs- und
Erzählschwierigkeiten.“ Die ersten versuchen zu verhüllen, die
Überlebenden versuchen zu enthüllen, wozu sie die aktive Unterstützung
des Zuhörers brauchen. G. Rosenthal beobachtete, „dass mit der
Erzählung der Lebensgeschichte geradezu heilende Prozesse eingeleitet
werden können.“
Die Wiedergabe der Interviews ist den Autorinnen sehr gut gelungen.
Zusammenfassungen, Kommentare, Interpretationen, Deutungen, teilweise
mit Hilfe familiendynamischer und therapeutischer Methoden, wörtlich
transskribierte Passagen bringen atmosphärisch das Erzählte wie das
Verschwiegene, die Nöte und Probleme sowie die Bewältigungsversuche von
Menschen nahe, die in eines der düstersten Kapitel der
Menschheitsgeschichte verstrickt waren und auch noch sind. Denn das ist
eines der besonderen Verdienste dieses Buchs, ein neues Licht auf
unlösbar erscheinende Phänomene zu werfen und sie damit – mit einem
neuen Ansatz – lösbar zu machen: sowohl für die Leidenden wie für ihre
Therapeuten.
Vor allem Psychotherapeuten sollten die intergenerationellen
Auswirkungen der Vergangenheit noch viel mehr beachten. Die Genese von
Essstörungen ist beispielsweise auch unter diesem Aspekt zu beleuchten:
Extremstes Hungern in der einen Generation kann zu Esszwang in der
nächsten (vgl. die beschrieben Familie Goldstern) und möglicherweise
Verweigerung in der dritten führen. Überfürsorglichkeit, weil die
Kinder vor dem Grauen bewahrt werden sollen, verknüpft mit der
Botschaft des Stark-sein-Müssens, dem
Das-soll-uns-nie-wieder-Passieren, verursachen große
Ambivalenzkonflikte. Das grauenhafte Trauma der Mutter, mitansehen zu
müssen, wie Kinder des Getto Lodz aus dem Fenster geschworfen wurden,
lässt den Sohn Fallschirmspringer werden, der Enkel drückt das Trauma
durch extreme Höhenangst aus. Auch das Phänomen der Parentifikation
(die zweite Generation übernimmt oft die Elternfunktion für die Eltern
wie für die eigenen Kinder) erhellt sich im historischen Kontext. Angst
vor Feuer und Angst vor dem Ersticken, Symptome der Furcht vor der
Rache der Opfer, korrespondieren in der Enkelgeneration beispielsweise
mit der Familienvergangenheit von Tätern.
Dies sind nur wenige Beispiele. Man muss das Buch einfach lesen! Es
gibt jedem der verschiedenen Generationen Anstöße zum Arbeiten mit der
Familiengeschichte. Und sofern eine Öffnung für Verarbeitung und
Transformation da ist, kann es nur gewinnbringend sein. Sowohl in den
Einzel- und Familienschicksalen als auch in den umfassenden und
fundierten historischen und psychologischen Zusammenhängen, die
wiederum mit den konkreten Falldarstellungen korrespondieren, werden
mit der dargestellten adäquaten narrativen Methode nicht nur
Informationen, sondern eine realisierte und realisierbare
Bewältigungsstrategie aufgezeigt. Wissenschaftlich wird wieder einmal
eine uralte Weisheit bewiesen: „Das Vergessen wollen verlängert das
Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“
(Erstveröffentlichung in Kontext 1999)
Eine online zugängliche Arbeit von Gabriele Rosenthal über "Die Nachwirkungen der Nazi-Verbrechen bei den Nachkommen von Nazitätern und bei Nachkommen von Überlebenden der Shoah"
Ein Aufsatz von Ingo Jahrsetz über "Die Erben des Holocaust"
Verlagsinformation:
"Wie gestaltet sich der familiale Dialog über die Familienvergangenheit
in der Nazizeit in familien von Verfolgten des Naziregimes wie auch in
Familien von Nazi-Tätern und Mitläufern? Welchen Einfluss hat die
Vergangenheit der Großeltern auf das Leben ihrer Kinder und Enkel? Wie
unterscheidet sich strukturell der Dialog über den Holocaust in
Familien mit Tätern und in Familien mit Verfolgten? Ausgewählte
Fallstudien machen deutlich, wie die zweite und dritte Generation über
psychische Symptome und Phantasien die Vergangenheit ausagieren."
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