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Neuvorstellung zur Übersicht
29.12.2006
Steve de Shazer: Das Spiel mit Unterschieden. Wie therapeutische Lösungen lösen
de Shazer Spiel mit Unterschieden Carl-Auer-Systeme-Verlag 2006
5. korrigierte Auflage

190 Seiten

Preis: 20.50 € / sFr 36.00
ISBN 3-89670-429-X
Carl-Auer Verlag





Jan V. Wirth, Berlin:

Der Titel des Buches hätte auch – je nach Blickrichtung - anders lauten können, z.B. „Wie postmoderne Lösungen lösen können“. Diese zugegeben etwas abstrakte Überschrift hätte sich allerdings ungünstig auf die Verkaufszahlen in der eigentlichen Zielgruppe auswirken können. Aber: sind nicht alle Therapeuten zugleich auch irgendwie Philosophen? Doch der Reihe nach. Steve de Shazer hat einen Beitrag vorgelegt, der aus verschiedenen Gründen interessant ist (Das Buch erschien zuerst 1991 in den USA unter dem Titel „Putting Difference to Work“).
Zum einen darf das Werk als eines der wenigen in Deutsch verlegten Bücher aus der Therapieszene als explizit postmodern bezeichnet werden, auch wenn de Shazer selbst dies nicht tut.
Die Postmoderne, in welcher Spielart auch immer, zeichnet sich vor allem durch eine antirepräsentationalistische Haltung aus. Antirepräsentationalismus ist die Verneinung von Vorstellungen, statistisch abgesicherte Aussagen spiegelten die Wirklichkeit so wider, wie sie ist. Die Ansicht, die Bedeutung eines Wortes sei diesem inhärent (vgl. de Shazer, 172) wurde von Ludwig von Wittgenstein, auf den sich de Shazer oft bezieht, philosophisch untergraben, denn nach ihm hängt die Bedeutung des Wortes von dem Gebrauch des Wortes und von dessen Kontext ab. Man (oder Frau) lese dazu einfach dessen „Philosophische Untersuchungen“ Sicherlich wird die Fruchtbarkeit dieser Ideen einleuchten und ihre therapeutische Umsetzung dann gelingen, wenn sie nicht zugleich mit Hoffnungen überfrachtet werden.  Richtig ernst wird mit der Selbst-Hinterfragung von Selbstverständlichkeiten - nicht nur die der Klienten (!) - gemacht, wenn Psychotherapieformen, die auf Unterscheidungen aufsetzen, mit der Möglichkeit des Scheiterns, diese Unterschiede irgendwie lokalisieren und festsetzen zu können, kombiniert werden. Dies wiederum lehrt das poststrukturalistische Denken (z.B. Derrida), das de Shazer pragmatisch in seine Therapiebeschreibung implementiert. Das bedeutet u.a., es gibt nichts hinter der Sprache, was unabhängig von Sprache „entdeckt“ werden kann UND ohne es zugleich wiederum in Sprache kleiden zu müssen. Wir bedienen uns in Therapie der Sprache nicht nur, um gemeinsam mit dem Klienten den Verwirrungen der Sprache (Wittgenstein) zu entkommen (was freilich nicht möglich ist), sondern wir dekonstruieren sie, um neue Unterscheidungen zu ermöglichen. Das funktioniert deswegen erfolgreich, weil schon Wygotski in den 30- Jahren des letzten Jahrhunderts  entwicklungspsychologisch plausibel zeigen konnte, dass Sprache und Denken wechselseitig aufeinander verweisen. Der Vorwurf an postmoderne Vertreter, sie seien zu textbezogen, also zu wenig bodenbehaftet angesichts der all zu wirklichen Realität von psychophysischer Not und Leiden, trifft  sozial- oder interaktionalkonstruktivistisch (de Shazer;  vom radikalen Konstruktivismus grenzt sich de Shazer explizit ab) gesehen daneben. Wenn a) der Anschlussüberlegung gefolgt wird, dass Sprache Wirklichkeit erzeugt und dadurch optimal zu Machtzwecken verwendet werden kann und wenn die Einsicht beherzigt wird, dass b) die Bedeutung eines Wortes im Dialog entsteht (Bachtin) und in der sozialen Interaktion konstruiert, also verhandelbar ist (de Shazer), entsteht eine „wortmächtige“ Handreichung für therapeutisch Tätige. Therapie mit de Shazer ist NICHT die Begleitung bei der Sinnsuche des Klienten (ein Problem „verhält“ sich ja sinnvoll!). Vielmehr werden die Bedeutungen der Worte gemeinsam (Gedanken, die in Worte münden; Worte, die gesagt wurden; Handlungen, über die man spricht) zugleich dekonstruiert und ergebnisoffen rekombiniert.
Betrachtet man Therapie stets als einen Weg vom Problem zum Ziel, dann sind moderne Therapieansätze (Psychoanalyse) methodisch einseitig, weil defizitorientiert. Erst wenn das Problem „gestellt“ werden kann, kann gewusst werden, wie es therapiemäßig weitergehen kann. Aus einem postmodernen Blickwinkel spielt das Problem und seine Konkretheit eine viel mehr untergeordnete  Rolle. Eine recht radikale Lösungsorientierung von Therapie, die de Shazer vertritt, empirisch zu belegen sucht und in seinem Buch beispielhaft umsetzt, kann in vielen Situationen genau die Möglichkeit sein, vorwärts zu kommen, OHNE freilich zu wissen, wo man ankommt.
Zum anderen ist de Shazer’s Buch die ideale, weil theoriestringente Ergänzung für den Wissensfond von postmoderner Sozialarbeitswissenschaft, die in einem im deutschsprachigen Raum von Heiko Kleve in Vibration gesetzten Framework agiert. Die Geringschätzung der „Differenz“ und ihre Subordination unter das „Gleiche“  in der Moderne führte folgerichtig zur Genese einer Sozialarbeit und Therapie, die die Differenz nicht nur toleriert und akzeptiert. Sondern sie affirmiert die Differenz, das Andere, das Unterschiedliche, das ausgeschlossene, um die Stimmen derjenigen Menschen, Ethnien und Gruppen zu hören und zu stärken, die in formal „korrekt“ ablaufenden Konsensualisierungsprozessen zuerst marginalisiert, dann exkludiert werden und deren Exklusion später tradiert wird.






Verlagsinformation:

Das Spiel mit Unterschieden, das Steve de Shazer beherrschte wie kaum ein anderer, hat ihm den Ruf eines originellen Therapeuten und innovativen Pragmatikers eingebracht. Sein Konzept der lösungsorientierten Kurzzeittherapie und sein Bestseller Der Dreh haben die jüngere Entwicklung der Psychotherapie nachdrücklich beeinflusst. Gegenstand dieses Buches ist die Therapie als solche, als beobachtetes Gespräch zwischen Klient und Therapeut. In acht ausführlichen Fallbeschreibungen demonstriert de Shazer die unterschiedlichen Aspekte des lösungsorientierten therapeutischen Gesprächs als fortschreitende, sinnvolle Erzählung.


Vorwort zur deutschen Ausgabe von Helm Stierlin

In einer Fußnote zu einem der Kapitel dieses Buches erwähnt Steve de Shazer seine "simplemindedness". Das lässt sich vielleicht auf Deutsch mit geistiger Schlichtheit übersetzen. Er entschuldigt sich dafür, und er befürchtet, er könne deswegen den von ihm zitierten Philosophen, insbesondere Wittgenstein und Derrida, nicht gerecht werden.
Aber was er seine simplemindedness nennt, bezeugt in meinen Augen seine Stärke. Sie ermöglicht es ihm, mit frischem Blick an altbekannte Dinge heranzugehen, das jeweils Wesentliche zu erfassen, im besten Sinne des Wortes Pragmatiker zu sein und sich nicht von dem abschrecken zu lassen, was Autoritäten vor ihm gedacht und gelehrt haben. Kurzum, sie erlaubt ihm, originell und innovativ zu sein.
Diese Eigenschaften kennzeichnen Steve de Shazers Arbeit als Therapeut. Sie machen den weltweiten Erfolg der von ihm entwickelten lösungsorientierten Kurzzeittherapie verständlich. Sie kennzeichnen auch die Arbeit, die er in diesem Band darstellt, eine intellektuelle oder, wenn man so will, philosophische Arbeit, die der Theorie der Therapie und insbesondere der Theorie der Kurztherapie gilt. Wir finden darin dieselbe Frische, dieselbe Betonung dessen, was effektiv ist und Sinn ergibt, die auch seine Schriften über die mehr pragmatischen Aspekte der Therapie auszeichnet. Dies bedeutet indessen nicht, dass er Komplexität vermeidet. Er reduziert zwar Komplexität, tut dies aber in einer Weise, die diese im Blickfeld des Lesers und damit den Zugang zu ihr offen hält. Dies zeigt sich in diesem Band unter anderem daran, wie er mit Problembereichen der Semiotik und Semantik umgeht und dabei immer wieder auf begriffliche Klarheit, Präzision und Erfassen des Wesentlichen abzielt.
Ich meine, die Implikationen seiner Untersuchungen sind weitreichend. Vielleicht am wichtigsten: Steve de Shazer legt überzeugend dar, dass eine Kurztherapie - das heißt eine Therapie, die nicht länger als 10 Sitzungen und oft viel kürzer dauert - nicht nur zweitrangiges Substitut für eine dynamische Langzeittherapie, sondern oft das Beste ist, was ein Klient bekommen kann. Dies ergibt sich aus seinem Verständnis von Therapie als einer besonderen Form eines Sprachspiels. In diesem Verständnis verlieren alte Klischees, denen zufolge es sich bei Therapie um eine Art - sei es langweiliger, sei es heroischer - gegen widerständige Patienten durchgeführte Ausgrabungsart handelt, ihre Erklärungskraft. Es sind insbesondere die Schriften des späten Wittgenstein und poststrukturalistischer Denker wie Derrida und de Man, die Steve de Shazer zur Begründung seiner Position heranzieht. Von dieser Position her versteht er Therapie als ein auszuhandelndes, konsensuelles und kooperatives Unternehmen, worin der lösungsorientierte Therapeut und der Klient gemeinsam verschiedenste Sprachspiele spielen, um dadurch a) Ausnahmen, b) Ziele und c) Lösungen zu finden bzw. zu konstruieren.
Am Ende des Buches macht sich Steve de Shazer Gedanken darüber, ob das darin von ihm vorgestellte Modell eines interaktionellen Konstruktivismus für einige Leser nicht zu radikal oder zu schockierend sein könnte. Dies mag der Fall sein. Mich ließ es indessen an eine Tagebucheintragung Nietzsches denken, die mich zeitlebens beeindruckt hat: "Ein sehr verbreiteter Irrtum: Den Mut der Überzeugung haben; es kommt vielmehr auf den Mut zum Angriff auf die eigene Überzeugung an." Ich halte es für ein großes Verdienst dieses Buches, daß es uns einlädt, den Mut zum Angriff auf eigene Überzeugungen aufzubringen.


Vorwort zur Originalausgabe von
John H. Weakland

Das Spiel mit Unterschieden ist ein ungewöhnliches Buch und nicht für jedermann geeignet. Es untersucht ganz allgemein das breite Spektrum der Familientherapie (und damit indirekt jede Art der Psychotherapie) und insbesondere de Shazers eigene lösungsorientierte Kurztherapie, und zwar von "außen". Das ungewöhnliche Thema dieses Buches ist die Therapie als solche, als beobachtetes Gespräch zwischen Klient und Therapeut. Seine ungewöhnliche Methode bedient sich der Konzepte des Konstruktivismus und der poststrukturalistischen Textanalyse. Man könnte es als eine Meta-Therapie-Studie bezeichnen, eine Untersuchung, der mehr daran liegt, grundlegende Fragen zu stellen als detaillierte Antworten zu geben.
Demnach ist dieses Buch offensichtlich nicht für jene gedacht, die mit dem jüngsten Stand auf dem Gebiet der Psychotherapie, ihren Konzepten und ihren gegenwärtigen praxisbezogenen Methoden zufrieden sind. Da de Shazer die Behauptung aufstellt, wir würden noch nicht einmal wissen, was wir mit "Familientherapie" meinen, und den Vorschlag macht, wir müssten unsere Meinung über das Wesen der Therapie überhaupt ändern, wenn sie kurz und effektiv sein soll, würde dieses Buch jene zufriedenen Therapeuten vermutlich nur verwirren und irritieren.
Gleichwohl ist es aber auch nichts für jene - und dabei handelt es sich um eine große Anzahl, wenn man nach der Art vieler Bücher und Workshops auf diesem Gebiet urteilt -, die zwar nicht zufrieden sind, aber nach Rezepten suchen, nach spezifischen Verfahrensweisen für das, was sie als spezifische und individuelle Problemarten ansehen. Wenngleich dieses Buch eine ganze Reihe faszinierender Fallbeispiele vorstellt und bespricht, ist es doch kein Therapiekochbuch, vielmehr stellt es sogar den Wert solcher Kochbücher in Frage.
Diese zwei Arten von Therapeuten - jene, die mit dem Status quo zufrieden sind, und jene, die bloß auf der Suche nach einfachen spezifischen Antworten sind (während sie häufig komplizierte und zweifelhafte allgemeine Prämissen als selbstverständlich hinnehmen) - machen vermutlich die große Mehrheit unseres Berufsstandes aus. Das kann man jedoch auch nicht anders erwarten. Wir leben in einer konformistischen Zeit und arbeiten auf einem Gebiet, wo wir sowohl seitens unserer Klienten als auch seitens unserer Kollegen unter einem erheblichen Druck stehen, so zu tun, als wüßten wir bereits alle Antworten. Allerdings scheint es relativ klar zu sein, daß viele unserer Antworten nicht sonderlich gut funktionieren.
Trotzdem glaube ich, oder hoffe zumindest, daß es immer noch eine beachtliche Anzahl von Therapeuten gibt, die an diesem Buch interessiert sind und die es lesen sollten. Ich denke hauptsächlich an zwei Gruppen potentieller Leser: jene, die die Therapie und ihre Möglichkeiten ernst genug nehmen, um mit der gegenwärtigen Situation in Theorie und Praxis unzufrieden zu sein, und jene, die verspielt genug sind, um neugierig zu sein, wohin eine neuartige Betrachtung unseres Unternehmens führen könnte. Freilich sind bestimmte Personen vielleicht sogar beides - zum Beispiel Steve de Shazer.
Dieses Vorwort ist selbstverständlich eine Empfehlung dieses Buches, zumindest für einen bestimmten Leserkreis. Es ist allerdings keine vorbehaltlose Empfehlung. Wenn ich das Buch auch stimulierend und aufschlußreich fand, enthält es doch einiges, mit dem ich nicht übereinstimme. Da dies ein Vorwort und keine Besprechung des Buches ist, gebe ich hier nur zwei Beispiele. Ich bin in einem bestimmten Punkt nicht der Meinung, daß die Verwendung des Begriffes "Strategie" unbedingt einen Streit zwischen Therapeut und Klient impliziert; ich würde sogar meinen, dass de Shazer seine therapeutischen Gespräche strategisch führt. Im allgemeinen scheint es mir, daß er zwar die Ideen der Dekonstruktivisten gut verwertet, seine Anwendung ihrer Begriffe jedoch gelegentlich irreführend ist. Der Schritt von der Terminologie des "Interpretierens" eines Textes und des "Verstehens" der Mitteilungen eines Klienten zum "Fehlinterpretieren" und "Missverstehen" ist so ähnlich wie vom Regen in die Traufe zu kommen. Impliziert der Begriff des "Fehlinterpretierens" nicht schon an sich, daß es eine "richtige" Interpretation gibt, anstatt einfach zu sagen, daß Mitteilungen immer und notwendigerweise interpretiert werden?
Ich hoffe, daß diese Vorbehalte meiner Fürsprache keinen Abbruch tun, sondern eher ihre Glaubwürdigkeit untermauern, denn trotz meiner anfänglichen Einsprüche bin ich der Meinung, daß dieses Buch viele, und zwar sehr aufmerksame Leser finden sollte.



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