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07.07.2005
Hans-Joachim Giegel, Uwe Schimank (Hrsg.): Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns "Die Gesellschaft der Gesellschaft"
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Suhrkamp Verlag

Tom Levold, Köln:
1997, ein Jahr vor seinem Tode, erschien das zweibändige
Hauptwerk von Niklas Luhmann: "Die Gesellschaft der Gesellschaft". Wie
wohl sonst nur das Buch "Soziale Systeme" von 1984 (das Luhmann im
Vorwort seines Doppelbandes als "Einleitungskapitel" bezeichnet) ragt
es aus seinen zahllosen Veröffentlichungen hervor und erscheint
angesichts seines Todes im Jahre 1998 geradezu als Abschluss seines
Werkes, ohne dass dies in der Absicht des notorisch produktiven
Verfassers gelegen haben dürfte.
Nun steht dieses gewaltige Werk zur Diskussion, Interpretation,
Affirmation und Kritik - eine Aufgabe, die noch lange nicht
abgeschlossen sein dürfte. Die Rezeption - nicht selten auch:
Nicht-Rezeption – seines universaltheoretischen Ansatzes in den
unterschiedlichen Fachdisziplinen ist bereits Gegenstand einer weiteren
(Doppel-)Besprechung im systemagazin. Im vorliegenden Sammelband geht
es nun um eine genuin sozialwissenschaftliche Diskussion des
Luhmannschen "Opus Magnum". Der Großteil der Beiträge besteht aus
ausgearbeiteten Vorträgen einer Tagung der Sektion „Soziologische
Theorien“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die zu Luhmanns
Hauptwerk abgehalten wurde.
Die Herausgeber Hans-Joachim Giegel und Uwe Schimank,
Soziologie-Professoren an der Universität Jena und der Fern-Universität
Hagen, legen einen Band vor, der Luhmanns "Nachdenken über die
Beschaffenheit und die Perspektiven der heutigen Gesellschaft"
reflektiert und dabei im Großen und Ganzen der Gliederung der
„Gesellschaft der Gesellschaft“ folgt, indem er die Beiträge in die
Abschnitte Kommunikationstheorie (Sozialdimension), Evolutionstheorie
(Zeitdimension) und Differenzierungstheorie (Sachdimension) sowie
„Gesellschaftliche Selbstbeschreibung“ gliedert.
Dabei orientieren sie sich in der Auswahl der Autoren an einer Position
„mittlerer Distanz“ zu Luhmann, d.h. weder affirmative
Luhmann-Apologeten noch Frontalkritiker sollen zu Wort kommen,
stattdessen kritische Sympathisanten sowie sympathisierende Kritiker
(S. 8), so dass zumindest sprachliche Anschlussfähigkeit zwischen den
einzelnen Beiträgen gewährleistet ist.
Die Argumentation dieser Beiträge kann an dieser Stelle nicht
ausführlich wiedergegeben werden. Das Abstraktionsniveau ist
durchgehend hoch, schließlich geht es um die theoretische, gelegentlich
auch empirische Testung der Luhmannschen Begriffe und Konzepte. Un
kritisch ist es unbedingt, und zwar umso mehr, je mehr es sich von den
allgemeintheoretischen Grundlagen Luhmanns entfernt und sich den
empirischen Fragestellungen der Gesellschaftsanalyse zuwendet. Das Buch
ist also keinesfalls als „Einführung in die Theorie der Gesellschaft“
gedacht, dafür sollte man sich seit 2005 besser an Luhmann selbst
halten (vgl. die Rezension in systemagazin). Aus diesem Grund möchte
ich nur einige wenige von vielen bedeutsamen Aspekten herausgreifen und
folge dabei der inhaltlichen Aufteilung des Bandes.
Die Abteilung „Kommunikationstheorie“ wird von Armin Nassehi, Wolfgang
Ludwig Schneider und Rainer Greshoff behandelt (s. Inhaltsverzeichnis).
Im Zentrum steht dabei die viel diskutierte Frage nach den Vorteil des
Kommunikationsbegriffs gegenüber dem Handlungsbegriff für ein
Verständnis sozialer Systeme. Nassehi, der seinen Beitrag mit einer
Rekonstruktion der theoretischen Anleihen Luhmanns bei Edmund Husserl
beginnt, betont, dass Handlungen ausschließlich das „Ergebnis von
sozialen Zurechnungsprozessen“ sind, „d.h. Kommunikationssysteme
behandeln sich selbst so, als seien sie Handlungssysteme, indem sie
alles, was geschieht, auf Akteure zurechnen“ (28). Dabei sind Akteure
selbst auch nur Konstruktionen und daher von „leibhaftigen Menschen“ zu
unterscheiden, die - bekanntermaßen - für Luhmann als soziologische
Kategorien uninteressant waren. Allerdings: „Wenn man also den Akteur
für eine soziale Konstruktion hält, dann entwertet das nicht den
Menschen, im Gegenteil. Akteure (Luhmann schlägt auch den Begriff der
‚Person‘ vor), Akteure sind Menschen, wie sie als Zurechnungspunkte in
der Kommunikation vorkommen, wie sie von der Kommunikation als
Handelnde behandelt werden. … Der Clou ist der, wie das wechselseitige
Kontrollverhältnis läuft, wie also der Akteur, der zugleich als Effekt
und als Irritation in das Kommunikations- und Handlungsgeschehen
eingelassen ist, zugleich Kontrolleur und Kontrollierter ist“ (31). Wie
noch zu sehen sein wird, beantworten die sympathisierenden Kritiker
diese Frage genau andersherum (etwa Schimank, s.u.).
Wolfgang Ludwig Schneider (auch ein kritischer Sympathisant) zeichnet
die systemtheoretische Transformation des Handlungskonzeptes nach: „Sie
ersetzt subjektiven Sinn durch kommunikativ zugeschriebenen Sinn,
Motive durch erwartbare und semantisch vordefinierte
Motivzuschreibungen, und sie verlagert den Schwerpunkt der Erklärung
sozialen Wandels von der Ebene der Semantik und der semantischen
Motivvokabulare auf die Ebene der sozialstrukturell erzeugten Änderung
typischer Situationen und damit verknüpfter Opportunitäten“ (68).
Mit Rainer Greshoff kommt ein „sympathisierender Kritiker“ zu Wort, der
sich kritisch mit der Frage befasst, auf welche Weise Verstehen in der
Kommunikation (wie Luhmann behauptet) als etwas Nicht-Psychisches
gedacht werden könne und stellt dagegen, dass
Kommunikation/Gesellschaft keine operationsfähige Instanz sei, die
„Verstehen selbst beschaffen“ könne (Luhmann), dies könnten „allein die
Instanzen Alter und Ego, die mit dem von ihnen hergestellten operativen
Zusammenspiel Kommunikation/Gesellschaft im Wesentlichen ausmachen“
(80). Der Ausschluss des Psychischen aus der Kommunikation werde
bei Luhmann nur aufgrund einer Verkürzung der Darstellung von
Kommunikation auf Sprechen bzw. Geschriebenes plausibel, d.h. auf die
sichtbare Seite kommunikativen Verhaltens. Greshoff setzt dagegen: „1)
Kommunikation geht nicht in Sprechen (im Sinne von Verhalten) auf; 2)
alles das, was zu einer jeweiligen Kommunikation gehört und nicht
Verhalten ist, ist Gedankliches“ (89). er argumentiert also gegen die
Trennung von Sozialem und Psychischem bzw. Körperlichem, so wie Luhmann
sie vorgenommen hat und schlägt vor, die Person als „Instanz, die aus
sehr grundlegenden Einstellungen/Erwartungen - etwa: ‚obersten Werten‘
- besteht“, als Komponente sowohl „individueller“ als auch „sozialer
Systeme“ zu betrachten, je nachdem, ob die Personen „mit sich
beschäftigt“ sind oder Einstellungen und Erwartungen aufeinander
richten (96f.)
Der Abschnitt zur Luhmannschen Verwendung des Evolutionsbegriffs
enthält Arbeiten von Michael Schmid, Max Miller und Wil Martens. Schmid
beurteilt den Erklärungswert der Evolutionstheorie Luhmanns skeptisch,
da er die „evolutionäre Relevanz einer akteurlosen Selbstläufigkeit von
Kommunikation“ abstreitet, die er lieber „wie jedes andere
Systemgeschehen als Resultat intentionalen Handelns“ modellieren
möchte, um „auf diese Weise den Gang der gesellschaftlichen Evolution
auch dann als Produkt entscheidungsfundierter Mechanismen zu verstehen“
(148). Zwar nimmt er Luhmann auch gegen Kritiker in Schutz, die ihm
Empiriefeindlichkeit vorwerfen, aber auch er bemängelt, „dass Luhmann …
Spezifikationen nur mit Hilfe von lockeren, unsystematischen Beispielen
vornimmt, die zwar die ‚Plausibilität‘ des eingeführten
Begriffsapparats belegen mögen, insoweit aber kaum als Tests verstanden
werden können, als Luhmann aus ihnen nur selten unabhängig prüfbare
Folgerungen ableitet bzw. deren empirische Prüfung nicht vorsieht“
(140).
Max Miller weist in einem kurzen Beitrag auf den „eigentümlich
resignativen Zug“ der Gesellschaftstheorie Luhmanns hin, der sich aus
der Idee ergäbe, dass sozialer Wandel letztlich nicht absichtlich
herbeigeführt werden könne, sondern einfach nur stattfinde, und
plädiert für die Nutzung von Chancen von Planungs-,
Institutionalisierungs- und Lernprozessen, die die „Normalisierung des
Unwahrscheinlichen ermöglichen“ (165).
Auch Wil Martens zeigt sich mit seinem Aufsatz über „Struktur, Semantik
und Gedächtnis“ als Luhmann-Kritiker. Er hält ihm vor, das „Gedächtnis
der Gesellschaft“ vor allem in der „gepflegten Semantik“ und den
Selbstbeschreibungen der Gesellschaft zu suchen und macht den
Vorschlag, soziales und semantisches (bzw. kulturelles) Gedächtnis zu
unterscheiden: „Das soziale Gedächtnis besteht aus den wiederholten
Beziehungen der Kommunikationen (einschließlich der sie beschreibenden,
als Orientierungshilfe fungierenden Kommunikationen) und den damit
zusammenhängenden ‚Imprägnierungen‘ des (kollektiven) Bewusstseins, die
man sich als Modelle oder Schemata kommunikativer Zusammenhänge denken
kann. Die Personen wissen, welche Kommunikationen zusammengehören,
eventuell soziale Systeme bilden, und sie haben ein ‚Gefühl‘ dafür,
welche Kommunikationen in diesen Zusammenhängen erwartet werden“ (193).
Fügte man noch die körperliche Verankerung dieses Gedächtnisses hinzu,
wäre damit auch ein Anschluss an das Habitus-Konzept Bourdieus möglich.
Auch das Bewusstsein ist für Martens „eindeutig an der Verfertigung von
Kommunikations- und Sinnstrukturen beteiligt“: diesen „begegnen wir
zerschnipselt und verstreut in Handlungen und Kommunikationen, sie
werden daraus schematisierend, synthetisierend und idealisierend
‚destilliert‘. das kann nur als ‚Aktivität des Bewusstseins verstanden
werden“ (198).
Besonders kritisch fallen die Beiträge zum Thema „Differenzierung“ aus.
Wie schon in der Einleitung festgehalten wird, erteilt Luhmanns Theorie
der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in einzelne
Funktionssysteme (Recht, Politik, Wirtschaft etc.), welche die früheren
Differenzierungsformen der Vormoderne (z.B. segmentäre oder regionale
Differenzierung) abgelöst habe, allen (modernen) Vorstellungen eine
Absage, dass damit ein sozialer Fortschritt verbunden sei, etwa durch
Spezialisierungsvorteile, die sich aus einer Arbeitsteilung der
Funktionssysteme ergäben. Der damit verbundene Verzicht auf Redundanz
sei vielmehr ausgesprochen riskant. Die Risiken dieser
„Selbstgefährdung der modernen Gesellschaft“ sieht Luhmann einerseits
in der „kumulativen Exklusion nennenswerter, vielleicht wachsender
Bevölkerungsgruppen aus Teilsystemzugehörigkeiten“ einerseits, in der
„Ausbeutung und Vernichtung der natürlichen Umwelt“ andererseits. Dem
gegenüber widme sich „Luhmann dem Problem gesellschaftlicher
Integration offensichtlich nur als Pflichtübung“ (16). Die Frage ist
hier also, wie das gesellschaftliche Ganze intern zusammengehalten
wird, wie das Verhältnis der Funktionssysteme zueinander verstanden
werden kann. Aus dem Autopoiese-Postulat Luhmanns ergibt sich ja in
gewisser Weise, dass die einzelnen Funktionssysteme autonom und
füreinander „blind“ sind, da sie nur aufnehmen können, was sie auf
Grund ihrer systemeigenen Beobachtungsschemata beobachten können. Von
Arbeitsteilung kann da nicht die Rede sein.
Johannes Berger setzt dementsprechend auch damit an, dass „Luhmanns
autopoietische Reformulierung der Theorie eher zur weiteren Verwirrung
beigetragen“ habe, da sie theoretische Inkonsistenzen in Kauf nehme
(207). Nach einer kurzen Skizze der Theorie funktionaler Spezifizierung
präsentiert er seine Einwände zu unterschiedlichen Teilen der Theorie.
So findet er es „fraglich, ob die Funktionsbereiche der modernen
Gesellschaft durch Kommunikationsmedien charakterisierbar sind, die
allesamt älter sind als die Moderne. Gibt es wirklich genau vier Medien
und, wenn dies zutrifft - woran Luhmann (in der ‚Gesellschaft der
Gesellschaft‘, S. 336, TL.) ja festhält -, wie kann es dann mehr als
vier Funktionssysteme geben? (215). Eine weitere Kritik liegt darin,
dass „Luhmann wissenssoziologisch Funktionssysteme primär durch
Sichtweisen charakterisiert“ (219), woraus sich ergäbe, dass diese
keine „Sichtweisen der Welt“ hätten, sondern selbst nur
„Beobachtungsverhältnisse“ seien. Bergers eigene Entscheidung ist dabei
eindeutig: er will nicht nur der Frage nachgehen, wie bestimmte soziale
Systeme die Welt sehen, sondern darüber hinaus selbst Überlegungen
anstellen, wie die diese Welt beschaffen ist: „Es ist einfach etwas
anderes, Einkommensunterschiede selbst zu studieren oder lediglich die
Fixierung auf sie als die Realitätsauffassung z.B. einer Linkspartei
oder der Gewerkschaften zu thematisieren“ (221). Allerdings wirft er
Luhmann auch vor, die Hinwendung zu einer rein semantischen Analyse von
Sichtweisen nicht radikal genug betrieben zu haben, also die ältere
Vorstellungswelt, dass man tatsächlich Aussagen über die Funktion von
Teilsystemen für die ganze Gesellschaft treffen könne, nicht
konsequenter preiszugeben (ebd.).
Weitere Einwände betreffen die Konzeption der Funktionssysteme als
autonome, gleichrangige, nur ihrer eigenen Autopoiese unterworfener
Systeme. „Auf dem Boden dieser Konzeption sind artifizielle
Begriffsmanöver erforderlich, um alltägliche Phänomene wie das
Eindringen fremden Sinns in ein System, Sinnüberschneidungen und die
Kommunikation zwischen Systemen in den Griff zu bekommen“ (222). Es sei
vor diesem Hintergrund schwierig, aus der Position eines externen
Beobachters überhaupt zu erkennen, wo die Grenzen eines
Funktionssystems verlaufen (223). Zweitens könnten kommunikative
Grenzziehungen soziale Grenzziehungen nur unzureichend abbilden (224)
und drittens vergebe sich die Systemtheorie „mit dem Insistieren auf
der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme … die Möglichkeit, für
das ubiquitäre Phänomen des Imports fremden Sinns eine geeignete
Begrifflichkeit zu entwickeln“ (224). Ganz allgemein wird der m.E.
berechtigte Vorwurf erhoben, dass mit dem „cultural turn auch der
Systemtheorie … ein ‚herber‘ Themenverlust“ einhergehe, Fragen, „die
früher einmal im Zentrum des Fachs (Soziologie, T.L.) standen, werden
überhaupt nicht mehr aufgegriffen“, z.B. die Frage nach den Ursachen
wirtschaftlichen Wachstums etc. (226f.). Als Folgerung aus dieser
Argumentation empfiehlt Berger, wieder den „Weg zurück zu Parsons und
Weber zu gehen“, nicht weil deren Ansatz weniger Probleme aufweise,
sondern weil „in einem ‚institutionellen‘ Bezugsrahmen Fragen nach der
Struktur und Entwicklung moderner Gesellschaften besser behandelt
werden als in einem ‚autopoietischen‘“ (228).
Diese grundlegende Kritik wird von Thomas Schwinn noch verstärkt, der
das Problem der sozialen Integration von Gesellschaft in den
Mittelpunkt seines Beitrages rückt, die nicht vom Luhmannschen
Begriffspaar Inklusion/Exklusion abgedeckt werde, da diese „die soziale
Integration eins zu eins an die Differenzierung der Ordnungen“ binde,
womit „das Prinzip funktionaler Differenzierung als die unabhängige und
soziale Integration als die abhängige Variable begriffen“ werde (233).
Die Integrationskraft von Gesellschaften habe aber weniger mit den
Funktionsleistungen einzelner Teilsysteme zu tun, sondern vielmehr mit
ihrer Fähigkeit, Antworten für die heterogenen und milieuspezifischen,
lebenspraktischen Probleme der Menschen zu bieten, die sich in ihrer
eigenen Perspektive nicht auf „ausschnitthafte Partizipation an und in
den einzelnen Ordnungen“ der Funktionssysteme reduzieren lassen.
Schwinn macht hier geltend, dass die gegenwärtige soziale Integration
„gegen das politische Regime und gegen die kapitalistischen
Marktprinzipien durchgesetzt werden“ musste, d.h. ein „Ergebnis
konflikthafter Auseinandersetzungen zwischen privilegierten
(inkludierten) und unterprivilegierten (exkludierten) Gruppen und nicht
bloß aus einer ordnungsspezifischen Differenzierungslogik erklärbar“
sei (236f.) In der Lebenspraxis der Individuen treffen sich „ordnungs-
und lebenslaufintegrative Anforderungen“ (252) und „die
Leistungssteigerung der differenzierten Ordnungen ist nur möglich, wenn
die Leistungs- und Integrationsfähigkeit auf der Lebensführungsebene
mitwächst“ (253). Auch wenn die Wortwahl ein wenig an die Habermas'sche
Gegenüberstellung von Lebenswelt und System erinnern mag, geht es hier
doch in erster Linie darum, ob „die Ordnungs- und Strukturanforderungen
individueller Lebensführungen“ zur Umwelt von Gesellschaft gehören oder
nicht, und ob normative Gesichtspunkte nicht auch für eine
Systemtheorie der Gesellschaft eine Rolle spielen können: „Die
differenzierten Ordnungen, insbesondere die Marktökonomie, sind blind
für lebenslaufrelevante Belange. So ist eine prosperierende Wirtschaft
mit gleichzeitig steigenden Arbeitslosenzahlen vereinbar. Verbot von
Kinderarbeit, Schulpflicht, Arbeitszeitregelungen, Lohnhöhe,
Arbeitslosengeld, Rentenhöhe und -alter, Mutterschaftsschutz etc., die
Bedingungen, zu denen die Individuen in und an den Institutionen
partizipieren und die die Eckdaten ihrer Lebensläufe markieren,
sind nicht aus den differenzierten Institutionen einfach ableitbar,
sondern mussten und müssen nicht selten gegen sie durchgesetzt werden.
… Hier ergibt sich ein sozialer Regelungsbedarf, der nicht aus dem
Differenzierungsprinzip ableitbar ist, sondern einer anderen,
normativen Grammatik gehorcht“ (255).
Auch der dritte Beitrag in dieser Abteilung von Mitherausgeber Uwe
Schimank setzt auf ein „Umschwenken auf eine akteurtheoretische
Perspektive“ (261), denn eine „akteurlose Sozialität“ sei nur eine
Fiktion, als die das teilsystemische Geschehen den Akteuren selbst
erscheine, und zwar in einer zirkulären Kausalschleife: „Weil die
Akteure ihrem Handeln die Teilsysteme als Fiktionen zugrunde legen,
kann das teilsystemische Geschehen weithin als Fiktion akteurloser
Sozialität ablaufen, was wiederum auf Seiten der Akteure die Funktionen
der Teilsysteme bestärkt usw.“ (270). Schimank kritisiert weiterhin -
ähnlich wie schon Berger - den Begriff der „Funktionalen
Differenzierung“, da sich für Luhmann eben nicht wie bei Parsons die
„Differenzierung der Teilsysteme nach Funktionserfordernissen der
Gesellschaft richtet“ (271), sondern ausschließlich nach den
Differenzschemata, die durch den jeweilig vorgegebenen Code
strukturiert werden. Damit fallen aber für Schimank die Möglichkeiten
einer Untersuchung konkreter Strukturdynamiken aus der Beobachtung der
Teilsysteme heraus, die nur durch eine Analyse des strategischen
Handelns von Akteuren in unterschiedlichen sozialen Konstellationen zu
erschließen seien (286). Dafür interessiere sich Luhmann aber zu wenig,
und was er selbst als Beispiele für seine Gesellschaftstheorie
heranziehe, ginge sowohl historisch als auch geografisch „drunter und
drüber“, als gäbe es zwischen dem Unterschied zwischen Moderne und
Vormoderne nicht auch noch erhebliche Unterschiede innerhalb der
modernen Gesellschaft selbst (275). Bei allem Respekt gegenüber
Luhmanns Leistung einer „Charakterisierung der modernen Gesellschaft
als eines polykontexturalen Verdinglichungszusammenhangs“ schließt
Schimank: „Um teilsystemische Strukturdynamiken ‚mittlerer Reichweite‘
beschreiben und erklären zu können, kommt man um Akteure und den
‚Gebildecharakter‘ der Teilsysteme nicht herum“ (294).
Im letzten Beitrag des Bandes zum Thema der Selbstbeschreibung von
Gesellschaft postuliert Georg Kneer, dass Luhmann entgegen seiner
Kritik an der modernisierungstheoretischen Perspektive diese implizit
selbst in Anspruch nimmt: „Wenn es am Ende von ‚Die Gesellschaft der
Gesellschaft‘ heißt, dass die moderne Gesellschaft in einer bestimmten
Hinsicht erst am Anfang steht, so ist m.E. damit gemeint, dass
gegenwärtig erst begonnen wird, den semantischen Apparat der
Gesellschaft auf die Form einer reflexiven Beobachtung zweiter Ordnung
umzustellen. … Luhmann beansprucht für seine eigenen
Theoriekonstruktionen also genau das, was er anderen Semantiken, nicht
zuletzt konkurrierenden soziologischen Theorieangeboten, abspricht:
Modernität“ (329f.).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Band alles andere als
leichte Kost darstellt. Er rückt gleichwohl Luhmanns Postulat in den
Vordergrund, dass alle seine Beobachtungen und Theorie-Entscheidungen
notwendigerweise kontingent sind, d.h. auch jeweils anders ausfallen
könnten - und dann eben andere Beobachtungen und Theorie-Entscheidungen
ermöglichen würden. Wer sich intensiver mit Luhmann auseinandersetzen
will - und sich nicht ganz dem Plausibilitätserleben der
Luhmann-Lektüre alleine überlassen möchte -, kommt daher um die
Reflexion der Kontingenz seiner Theorieanlage und die Zur-Kenntnisnahme
möglicher Alternativen nicht herum. Dieses Buch bietet den soziologisch
interessierten und bewanderten Lesern eine Fülle
kritisch-sympathisierender Hinweise zur eigenen Beschäftigung mit
Luhmanns Gesellschaftstheorie. Einsteiger dürften sich dagegen etwas
verloren fühlen. Der Band wird mit einer von Uwe Schimank erstellten
Auswahlbibliographie von Niklas Luhmanns umfangreichen eigenen
gesellschaftstheoretischen Arbeiten sowie neueren Beiträgen zu seiner
Gesellschaftstheorie abgeschlossen.

Die Website von Uwe Schimank finden Sie hier.

Verlagsinfo:
"Verlagsinformation: "Im Jahr 1997 erschien "Die
Gesellschaft der Gesellschaft", das gesellschaftstheoretische Hauptwerk
von Niklas Luhmann. Die darin entfaltete systemtheoretische Perspektive
mit ihrer Grundformel, dass Gesellschaft nicht ohne Kommunikation zu
denken ist und Kommunikation nicht ohne Gesellschaft, hat seither nicht
nur der Soziologie entscheidende Impulse gegeben. Die unterschiedlichen
Aspekte von Kommunikation, Evolution, Differenzierung und Beobachtung,
die Luhmann seiner Untersuchung abgewinnt, sowie seine Idee der
Weltgesellschaft sind Gegenstand dieses Materialienbandes. Die Autoren
bringen Luhmanns Gesellschaftstheorie kritisch mit anderen
soziologischen Sichtweisen ins Gespräch und ihre Texte sind damit
Zeugnis für die Aktualität und Kraft dieses Klassikers der modernen
Soziologie".
Inhaltsverzeichnis:
Schimank, Uwe (2003): Einleitung. S. 7-18.
Nassehi, Armin (2003): Die Differenz der Kommunikation und die
Kommunikation der Differenz. Über die kommunikationstheoretischen
Grundlagen von Luhmanns Gesellschaftstheorie. S. 21-41.
Schneider, Wolfgang Ludwig (2003): Handlung - Motiv - Interesse -
Situation. Zur Reformulierung und explanativen Bedeutung
handlungstheoretischer Grundbegriffe in Luhmanns Systemtheorie. S.
42-70.
Greshoff, Rainer (2003): Kommunikation als subjekthaftes
Handlungsgeschehen - behindern "traditionelle" Konzepte eine "genaue
begriffliche Bestimmung des Gegenstandes Gesellschaft"? S. 71-113.
Schmid, Michael (2003): Evolution. Bemerkungen zu einer Theorie von Niklas Luhmann. S. 117-153.
Miller, Max (2003): Evolution und Planung - einige kritische
Anmerkungen zu Luhmanns Theorie soziokultureller Evolution. S. 154-166.
Martens, Wil (2003): Struktur, Semantik und Gedächtnis. Vorbemerkungen zur Evolutionstheorie. S. 167-203.
Berger, Johannes (2003): Neuerliche Anfragen an die Theorie der funktionalen Differenzierung. S. 207-230.
Schwinn, Thomas (2003): Differenzierung und soziale Integration. Wider eine systemtheoretisch halbierte Soziologie. S. 231-260.
Schimank, Uwe (2003): Theorie der modernen Gesellschaft nach Luhmann - eine Bilanz in Stichworten. S. 261-298.
Kneer, Georg (2003): Reflexive Beobachtung zweiter Ordnung. Zur
Modernisierung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen. S. 301-332.
Schimank, Uwe (2003): Auswahlbibliographie zu Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie. S. 333-341.
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