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Selvini Palazzoli, Mara, Luigi Bosocolo, Gianfranco Cecchin, Giuliana Prata
Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung
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Klett-Cotta 1999 (Erstauflage 1977)
kartoniert, 166 S.
ISBN: 3608953752
Preis: 18,00 € |
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Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch (2000): "Spannender Klassiker systemischer Interventionen"
Arist von Schlippe (2000): "Hier gab
es neben dem Satir'schen neues Handwerkszeug. Bis heute bin ich damit
nicht „warm“ geworden, aber die Analysen und therapeutische
Beschreibungen üben ebenfalls bis heute eine große Faszination auf mich
aus"
Michael Wirsching (2000): "Der Wendepunkt"
Tom Levold: Eine gute Nachricht - Das Buch ist nach wie vor erhältlich. Die zweite
gute Nachricht: Der Titel ist in allen Literaturlisten enthalten, die
einen Überblick über die Geschichte der systemischen Therapie zu geben
versuchen. Eine Internet-Recherche ergibt zum Suchbegriff "Paradoxon
und Gegenparadoxon" 630 Einträge (am 9.3.05), in Englisch unter
"Paradox and Counterparadox" ähnlich viele. Aber es scheint im Internet
keine inhaltliche Würdigung dieses maßgeblichen Meilensteins der
Entwicklung von der Familientherapie zur systemischen Therapie zu
geben. Das lässt sich ändern, wenn Sie Ihre persönlichen
Erfahrungen mit Ihrer Lektüre dieses Buches aus der Erinnerung oder der
erneuten Lektüre oder aus welchem Zusammenhang auch immer dieser Seite
beisteuern - schreiben Sie mir einfach.
Bis auf Weiteres halte ich mich an das "Lehrbuch der systemischen Beratung und Therapie" von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer:
" Der
Begriff 'Mailänder Modell' ist eng verbunden mit den Namen von vier
Therapeuten, die 1975 mit einem aufsehenerregenden Buch an die
Öffentlichkeit traten, 1977 erschien es auf deutsch: 'Paradoxon und
Gegenparadoxon'. Das Buch beschreibt ein Therapiemodell von Familien
mit schizophrenen Mitgliedern, das von der Kürze des Vorgehens und von
der - behaupteten - Effektivität her alles in den Schatten stellte, was
es bisher an Ansätzen in dem Bereich gab. Die vier Mitglieder der
Mailänder Arbeitsgruppe waren Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo,
Gianfranco Cecchin und Guiliana Prata.
Die hervorstechenste Persönlichkeit war dabei zweifellos Mara Selvini
Palazzoli. Sie stammte aus einer wohlhabenden Mailänder Familie und
erlebte eine Erziehung, die durch Distanz geprägt war - emotionales
Zentrum waren für sie über lange Zeit ihre Amme und die Gouvernanten.
Sie selbst beschreibt ihre Familie als 'nicht glücklich' und erzählt,
dass sie in ihren Therapien oft an diese ihre Ursprungsfamilie denke. …
Im Mai 1967 gründete sie in Italien das erste familientherapeutisch
orientierte Zentrum und schloss sich nach einer längeren Anfangsphase
1971 mit den drei anderen (Boscolo, Cecchin, Prata) zusammen, die wie
sie Ärzte und ausgebildete Psychoanalytiker
waren und ebenfalls bereit, das Bezugssystem der Analyse zu verlassen.
… Das Mailänder Team versuchte schon früh, einen 'kybernetischen
Konstruktivismus' zu verwirklichen. Motive, Gefühle, Bedürfnisse und
Konflikte wurden als Konstrukte einer überkommenenen Epistemologie
betrachtet. Familie wird
gesehen als regelgeleitetes System: Wie bei jeder anderen Gruppe auch
entwickeln sich in einer Familie im Lauf der Zeit Regeln, die die
Verhaltensspielräume der einzelnen beschreiben und begrenzen. Im Fall
einer Familie mit klinischen Problemen ist in diesem Prozess ein System
entstanden, das sich über Transaktionen reguliert, die genau auf die
jeweilige Symptomatik zugeschnitten sind, die beklagt wird: 'Die Macht
liegt in den Spielregeln', (Paradoxon und Gegenparadoxon, S. 15). Daher
ist jedoch eine Veränderung - so sehr die Familie leidet - nicht im
Interesse der Familie, denn das 'Spiel' muss weitergehen; dies ist die
Paradoxie, mit der die Familie die Therapeuten konfrontiert: 'Ändert
uns, ohne uns zu ändern!' - und die mit dem 'Gegenparadoxon' beantwortet wird … 'Wir können Euch nur unter der Bedingung ändern, dass Ihr Euch nicht ändert!'.
… Für den Therapeuten ist es von entscheidender Bedeutung, ob es ihm
gelingt, sich aus dem Spiel herauszuhalten, denn 'derjenige, der das
Spiel mitspielt, hat es schon verloren' (ebd., S. 47). Da das Spiel die
ganze Familie in einem Paradoxon gefangenhält, entwickelten die
Mailänder in den 70er Jahren die bereits erwähnte Technik des
Gegenparadoxons, um solchen Familien zu helfen: Verschreibungen, die
auf verschiedenen Ebenen in sich paradox sind und es so der Familie
unmöglich machen, das Spiel nach den bisher gültigen Regeln
weiterzuspielen. … Die zum Teil minutiös ausgearbeiteten
Verschreibungen, die oft völlig verblüffende Umdeutungen der
Familiensituation darstellen, haben das Mailänder Team weithin bekannt
gemacht. Später berichteten sowohl Selvini Palazzoli als auch Boscolo
und Cecchin, dass sie die Paradoxie als Interventionstechnik wesentlich
seltener einsetzten …, da deutlich wurde, welche verändernde Kraft
bereits im zirkulären Fragen und in den Kommentaren steckt, die allein
über die Fragetechnik die Familie mit einer neuen Sichtweise
konfrontieren." (S. 26 - 31).

Den beste Einstieg in ein Verständnis der Konzeption des Mailänder Teams zum Ende der 70er Jahre bietet m.E. ein Interview, das Klaus G. Deissler,
damals Initiator, Herausgeber und Redakteur des Kontext, dem zunächst
mehr als interner Mitglieder-Rundbrief konzipiertes Informationsblatt
der 1978 gegründeten Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie
DAF, für die Zeitschrift 1979 mit Mara Selvini geführt hat. Dieses
ausgesprochen aufschlussreiche Interview ist der Nachwelt lobenswerterweise durch die Initiative von Klaus G. Deissler erhalten geblieben undfür das Internet in einem Sammelband unterschiedlicher Beiträge aufbereitet worden.
Lesen Sie hieraus das Interview mit Mara Selvini Palazzoli:
Das Mailänder Modell
Ein Interview mit Mara Selvini Palazzoli
"Work innovatively toward synthesis of new ideas, but expect no encouragement until after you have made a success". H.C. SHANDS
Vorwort von Klaus Deissler
Während meines Besuches im „Centro per lo studio della Famiglia“ in
Mailand habe ich am 10.4.1979 für die Informationsblätter der DAF2
"KONTEXT" das folgende Interview geführt. Nach den Gründen für dieses
Interviews gefragt, möchte ich folgendes antworten: Im deutschen
Sprachraum herrschen durch verschiedene Entwicklungsprozesse bedingt
psychoanalytische und / oder psychiatrische Denk - und Handlungsmodelle
vor, die man in ihrer Überzahl vom therapeutischen Ansatz her als
„sozial-atomistisch“ bezeichnen kann. Diese Modelle zeichnen sich
dadurch aus, daß sie hinsichtlich des Verständnisses menschlicher
Probleme „ego-zentri-petal“ angelegt sind. Dies heißt verkürzt
gesprochen: Gemäß dem zugrunde liegenden „medizinischen Modell“ werden
fast alle menschlichen Probleme als Probleme von Individuen angesehen;
(diese Betrachtungsweise herrscht z.Zt. in allen psychosozialen
Berufsgruppen vor). Durch dieses geistige Konstruktionsprinzip werden
Individuen losgelöst von ihrem natürlichen - d.h. ökosystemischen -
Kontext betrachtet und damit künstlich „isoliert“, darüber hinaus
werden die betreffenden Individuen hinsichtlich psychiatrischer
„Gesundheits- / Krankheitslehre kategorisiert“ und schließlich - je
nach therapieprognostischem Wert der psychiatrischen Kategorie -
therapiert oder „verwahrt“. Dieses Vorgehen hat verschiedene
Konsequenzen: Es verschleiert die gesellschaftliche Funktion des
Kategorisierenden, blendet das gesamte systemische Wirkungsgefüge,
welches die Basis der jeweiligen Probleme darstellt, aus und stellt
damit eine Selbstbehinderung psychotherapeutischer Arbeit dar. Ich
hoffe durch dieses Interview wird deutlich, daß es echte Alternativen
zu dem kurz skizzierten „medizinischen Modell“ gibt und welcher
ungeheuren Anstrengung es bedarf, solche Alternativen umzusetzen und
sie in der Praxis durchzuhalten: Das Mailänder Modell stellt für mich
eine der wenigen zukunftsweisenden systemischen Alternativen dar. Zu
den formalen Aspekten des Interviews möchte ich folgende Informationen
geben: Die Fragen wurden von Herrn Hans-Friedrich Kraa (Marburg) ins
Italienische übersetzt und direkt an Frau Selvini gerichtet. Frau
Selvini antwortete in englischer Sprache - Zusatzfragen wurden von mir
ebenfalls in Englisch gestellt. Die Rückübersetzung und Redaktion wurde
vom Interviewer selbst vorgenommen. Die Gesamtdauer des Interviews
betrug ca. 1 1/2 Stunden. Abschließend möchte ich mich bei der
„Familientherapeutischen Arbeitsgemeinschaft Marburg (fam) e.V.“ für
die Beteiligung an den Dolmetscherkosten bedanken. (Für die Redaktion
des KONTEXT Klaus G. Deissler)
Interview:
Klaus Deissler (kursiv): Frau Selvini, Sie sind eine der bekanntesten Familientherapeuten Europas, wie sind Sie zur Familientherapie gekommen?
Mara Selvini Palazzoli: In einer bestimmten, ganz anderen Weise als meine Kollegen - nicht
nur zur Familientherapie, sondern auch zur Psychiatrie: Ich war
Internist, ein Praktiker der Allgemeinmedizin an der Universität von
Mailand. Dort sah ich zum ersten Mal anorektische Patienten, und ich
bemerkte in den fünfziger Jahren, daß es unmöglich war, diese Patienten
medikamentös zu behandeln und daß es sich dabei sicherlich um
psychologische Probleme handelte. Nachdem ich mich auf innere Medizin
spezialisiert hatte, beschloß ich aus diesem Grund, mich auf
Psychiatrie zu spezialisieren und mich in Psychoanalyse auszubilden -
lediglich, um die Anorexie zu verstehen, weil ich an diesem Problem
sehr interessiert war. Ich wurde psychoanalytisch ausgebildet bei
Professor Benedetti in Basel. Er kommt aus Sizilien und leitet das
Institut für Psychotherapie in Basel. - 1963 schrieb ich mein erstes
Buch: „Anorexia Mentale 3 “, das von Feltrinelli verlegt wurde -
Feltrinelli war immer mein Verleger. Danach gründete ich eine Gruppe
hier in Mailand. Diese wollte Psychotherapie in das psychiatrische
Krankenhaus einführen - natürlich mit dem psychoanalytischen Modell
ausgerüstet. In den Jahren 1964-65 geriet ich in eine Krise, weil ich
den Eindruck gewann, daß die Psychoanalyse kein gutes Instrument sei.
Zu wenig Patienten konnten behandelt werden, die Behandlung war sehr
teuer und die Ergebnisse waren mager, ärmlich. Ich habe damals ca. 6o
anorektische Patienten behandelt: Die Ergebnisse waren nicht sehr gut,
die entsprachen nicht den enormen Anstrengungen und dem Zeitaufwand,
den ich diesen Patienten widmen mußte. Aber der „Tropfen“, der meine
volle Krise auslöste, war eine Serie sehr interessanter Aufsätze, die
von Lyman Wynne und Margret Thaler Singer 1963 veröffentlicht wurde.
Ich las diese Aufsätze jedoch erst 1965. Der Titel der Aufsätze lautet
„Thought Disorders and Family Relations of Schizophrenics“3 . Nachdem
ich diese Aufsätze gelesen hatte, begann ich alle Aufsätze zu lesen,
die damals veröffentlicht wurden und die Familien von Schizophrenen
betrafen: Ich geriet also in eine entscheidende Krise, und innerhalb
einer sehr kurzen Zeit entschied ich, daß es für mich nicht mehr
aufrichtig war, Psychoanalytiker zu sein, weil ich überzeugt war, daß
der Weg falsch war. Deshalb entschloß ich mich innerhalb einer Woche,
meinen Beruf aufzugeben. Ich wollte lediglich die Fälle beenden, die
ich begonnen hatte - es wäre nicht aufrichtig gewesen sie im Stich zu
lassen - aber ich nahm keine neuen Fälle mehr an. Meine Haushälterin
hatte damals den Auftrag, wenn jemand um einen Termin bitten sollte,
mitzuteilen: „Dr. Selvini hat ihren Beruf aufgegeben.“ Ich wurde damals
sehr kritisiert von Psychoanalytikern - jeder lachte über mich: „Die
ist verrückt“ usw. - Aber ich war sehr überzeugt von meinen Ideen. Ich
gab also meinen Beruf auf und begann mit Familientherapie. 1967
gründete ich das erste Zentrum für Familientherapie. Wir waren sehr
arm, ich hatte kein Geld. Dieses Zentrum befand sich in einem Keller,
einer Art Katakombe. Dort traf ich die ersten Familien. Danach ging ich
in die Staaten - nur für kurze Zeit: Ich hielt mich insbesondere in
Philadelphia auf, dort war ich sehr unglücklich, denn ich ging zum
Institut von BoszormenyiNagy und Framo: Sie verwandten das
psychoanalytische Modell. - Als ich zurückkam, schlugen alle Bemühungen
fehl. Deshalb entschied ich, daß die Psychoanalyse nicht das richtige
Modell sei und daß es notwendig sei, das systemische Modell zu wählen.
Wir entschlossen uns damals, Dr. Watzlawick für ein paar Tage
einzuladen, um zu entscheiden, daß wir unsere Richtung geändert hatten.
Unsere Anstrengungen bestanden also darin, absolut kohärent mit dem
Modell zu werden, das wir gewählt hatten, die Psychoanalyse in eine
Schublade zu stecken und sie zu vergessen. Die Psychoanalyse war für
mich eine sehr wichtige „Ausbildung“, ich habe über 15 Jahre mit diesem
Modell gearbeitet. Ich hatte eine sehr gute Ausbildung bei Professor
Benedetti. Ich hatte keine Angst, von meinen Klienten an der Nase
herumgeführt zu werden, und ich lernte auch die nonverbale Sprache zu
verstehen - das Verhalten als Kommunikation usw.. Aber bedingt durch
das psychoanalytische Modell war ich für eine gewisse Zeit gezwungen,
das „lineare“ Modell anzuwenden und dementsprechend zu denken: Z.B.
dieser Vater ist ein Krimineller, diese Mutter ist die Ursache von
allen Schwierigkeiten. Danach mußten wir jedoch die gesamte Kraft des
Teams zusammennehmen, um einen Sprung zu vollziehen, damit wir das
systemische bzw. zirkuläre Modell erreichen konnten - das war ein
extrem schwieriges Unterfangen. Deshalb hatte ich auch so viele
Schwierigkeiten mit dem Team, denn ich gründete das Team, als wir das
psychoanalytische Modell benutzten. Nachdem ich mich entschloß, die
Psychoanalyse aufzugeben, um mir das systemische Modell zu eigen zu
machen, kam es zu Auseinandersetzungen im Team, was schließlich dazu
führte, daß 4 Mitglieder des Teams weggingen. Ich blieb zurück mit dem
jetzigen Team: Dr. Boscolo, Dr. Cecchin und Dr. Prata. Die anderen
Mitglieder verließen das Team, weil sie das psychoanalytische Modell
nicht aufgeben wollten. Ende 1971, Anfang 1972 begannen wir unsere
Forschungen mit diesem Programm, um schizophrene Familien zu behandeln.
Die Erfahrungen aus dieser Zeit sind in dem Buch „Paradoxon und
Gegenparadoxon“ dargestellt. Wir behandelten auch viele anorektische
Familien usw.. Die Anstrengungen waren jedoch absolut schrecklich, weil
wir jeden Augenblick in das lineare Modell zurückfielen, jeden Moment
stellten wir fest, daß wir kausal dachten und nicht systemisch. - Heute
bin ich überzeugt, während jeder proklamiert: „Ich bin systemisch“ -
Minuchin sagt: „Ich bin systemisch“, Selvini sagt: „Ich bin systemisch“
- ist niemand wirklich systemisch: Es ist unmöglich, wirklich
systemisch zu denken, weil wir die Sprache benutzen und die Sprache ist
linear. Wir sind also nur in bestimmten mystischen Augenblicken
systemisch, und diese Augenblicke sind sehr kurz. Deshalb fallen wir
immer wieder in das kausale Modell zurück. Im Alltagsleben müssen wir
sogar kausale Modelle benutzen: Wenn mich z.B. jemand tritt, kann ich
nicht sagen: „Ich will das jetzt mal systemisch sehen“ - ich muß ja
reagieren und sage dann vielleicht: „Du Schuft!“ usw.. Deshalb ist die
ganze Sache sehr, sehr schwierig. Wenn man weint, weint man. Es ist
unmöglich weinen nachzuahmen. Manchmal bin ich also ein wenig
systemisch, es ist jedoch unmöglich, vollständig systemisch zu sein.
Deshalb ist es unmöglich, ununterbrochen im zirkulären Modell zu
denken. Aus diesem Grund haben wir uns, nachdem wir „Paradoxon und
Gegenparadoxon“ geschrieben haben, dem Erfinden von Instrumenten und
Kunstgriffen oder einigen Richtlinien gewidmet, die uns zwingen, im
zirkulären Modell zu denken.
Gibt es Personen, denen Sie in praktischer und theoretischer Hinsicht verpflichtet sind?
Wen meinen Sie mit dieser Frage?
Ich denke in erster Linie an Bateson, vielleicht kann ich noch Watzlawick nennen.
Ja, ich habe einen Gott: Gregory Bateson. Ich denke, daß Gregory
Bateson der Genius Maximus der Humanwissenschaften ist. - Watzlawick
ist ein sehr guter Wissenschaftler. Er hat das unsterbliche Verdienst,
die Arbeiten von Palo Alto in „Pragmatics of human Communication“ 6
gesammelt zu haben, aber er ist kein origineller Denker. Der Genius ist
Gregory Bateson, der zweite ist Jay Haley, der dritte Don Jackson und
Stop! Nach meiner Meinung liegt der Schlüssel für das systemische
Denken in „Steps to an ecology of mind“ 7 . Ich habe erfahren, daß
Bateson an Krebs erkrankt ist - man sagte, er würde bald sterben, aber
inzwischen soll es ihm besser gehen. Bateson hatte die Absicht, ein
weiteres Buch zu schreiben: „Mind and Nature - An Unseparable Unit“ 8
es ist noch nicht erschienen. Aber Gregory Bateson ist nach meiner
Meinung ein so schwieriger Autor, ein so schwieriger Schriftsteller -
er denkt ständig auf der Meta-, Meta-, Meta-, Meta-Ebene, deshalb ist
es unmöglich, ihn zu verstehen. Meiner Meinung nach hat er eine
mystische Intuition davon, wie zirkulär unser Leben ist, daß unsere
Lebensrealität zirkulär ist. Für uns ist es unmöglich, das
nachzuvollziehen. „Steps to an Ecology of Mind“ ist kein Buch, das man
einfach liest - man muß es lesen und lesen und nochmals lesen und
darüber meditieren, meditieren und wieder lesen - vielleicht 100 mal.
In diesem Buch liegt also der Schlüssel. Wenn man von diesem Punkt
ausgeht, ist es notwendig, genau diesen Weg weiterzugehen, denn Bateson
ist der richtungsweisende Denker, der den richtigen Weg zeigt. Bateson
war es ja, der die geniale Idee hatte, das die Familie ein System sei.
Bateson hat auch die kybernetischen Gedanken entwickelt, daß das
Programm, nach dem eine Familie funktioniert, vergleichbar ist mit dem
Programm eines Computers. Wenn man das Programm eines Computers
verändert, ändert sich die Arbeitsweise des Computers. Wenn man das
Programm einer Familie, das sich aus Regeln zusammensetzt, ändert,
ändert sich die Familie. - Nehmen wir z.B. die Familie die gestern da
war: Bei dieser Familie habe ich die Regeln verändert - viele, viele
Regeln, ohne es zu erklären; z.B. wenn ich ein Familienmitglied frage:
„Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater,
zwischen Ihrem Vater und Ihrer Großmutter, zwischen Ihrer Schwester und
Ihrem Vater ?“ - dann breche ich eine Regel, weil es in dysfunktionalen
Familien verboten ist, in Gegenwart der anderen Beziehungen zu
kommentieren - metazukommunizieren. Und am Ende der Sitzung habe ich
gegen eine weitere Regel verstoßen: In dieser Familie war es nämlich
verboten, über Beziehung zwischen der Großmutter und ihrem Sohn zu
sprechen, über deren Koalition - nicht etwa über die Beziehung Tochter
und Großmutter - denn der Vater war Priester, und er haßt Frauen, und
er benutzt seine Mutter, um gegen seine Frau vorzugehen - das ist ganz
typisch für eine solche Horrortype von Mann. Aber wenn ich es so
begründe, riskiere ich, die ganze Sache kausal zu begründen - aber es
ist eben nicht kausal, denn die Ehefrau ist ebenfalls in das Spiel
involviert. Sie ist kein Opfer, sie macht mit. Sie können also sehen,
wie kompliziert das Ganze ist. Um auf unseren Ausgangspunkt
zurückzukommen: Der Weg wurde von Gregory Bateson bereitet.
Genauso schätze ich es ein.- Bateson ist der Begründer dieser
Denkmodelle. Aber lassen Sie mich etwas anderes feststellen: Minuchin
scheint Bateson zu mißachten ...
... vollständig! - Ich mag Minuchin als Mann sehr: Wir hatten zwei
schreckliche Auseinandersetzungen, aber wir mögen einander - sehr
sogar. Ich mag ihn, ich weiß nicht warum - ich nehme an, er mag mich.
Ich traf Minuchin zum ersten Mal 1977 in New York. Dort zeigte man
viele Videoaufnahmen von unseren Sitzungen, die im Ackerman-Institut
aufgenommen wurden. Minuchin kam von Philadelphia und sah sich diese
Bänder an. Danach hatten wir eine schreckliche Diskussion, und er sagte
zu mir: „Dr. Selvini, ich weiß nicht, ob Sie ein Familientherapeut sind
oder nicht, ob Sie Erfolge haben oder nicht, weil wir andauernd davon
sprechen, Forschungen zu betreiben. Sind Sie ein Familientherapeut oder
nicht?“ Ich antwortete: „Ich bin kein Familientherapeut. Ich bin
sicher, daß ich kein Familientherapeut bin“. - Er war perplex und ich
fuhr fort: „Ich forsche danach, was Familientherapie ist, denn ich weiß
nicht, was Familientherapie ist.“ Und paradoxerweise - sehen Sie -
fügte ich hinzu: „Ich benutze etwas, das ich Familientherapie nenne, um
zu wissen, was Familientherapie ist. Aber ich weiß es nicht ...
vielleicht wissen Sie sicher, daß Sie Familientherapeut sind, aber ich
bin es nicht, weil ich nicht weiß, was das ist!“- Er war schockiert.
Aber ich war vollständig aufrichtig und sehr verärgert, absolut
verärgert - nicht wegen Minuchin, denn ich glaube, sein theoretisches
Modell ist sehr „seicht“, sehr, sehr seicht. Das ist ein Modell für
Sozialarbeiter, das ist kein Modell für Gregory Bateson. Also das
Modell ist theoretisch gesehen von sehr niedrigem Niveau - vielleicht
sehr nützlich für diese Leute, die „was tun wollen“, vielleicht haben
sie Erfolge damit, aber es ist kein Modell für die Forschung in den
Humanwissenschaften. - Ich bin nicht daran interessiert - z.B. diese
Familie von gestern - zu „heilen“. Ich bin daran interessiert, wie der
Mensch in seiner natürlichen Gruppe funktioniert und nicht daran,
Familien zu heilen - vielleicht ging es ihnen vor der Therapie besser -
ich weiß es nicht. Ich bin nicht so sicher, ob es ihnen morgen besser
geht. Ich möchte nur Änderungen bewirken, weil ich neugierig bin. Als
Jay Haley in Zürich war, sagte er etwas sehr Anstößiges: Therapie sei
etwas anderes als Forschung - das ist verrückt, das ist lächerlich.
Jede Sitzung ist Forschung! Aus diesem Grund hatte ich eine weitere
schreckliche Auseinandersetzung. Als ich letztes Jahr im Juni in
Florenz (11. International Conference: „The Family Therapy in the
Community“, 21.-24. Juni 1978) war, - ich weiß nicht, was los war - Jay
Haley und Minuchin waren sehr erschreckt. Minuchin bat mich: „Kommen
Sie nicht zu meinem Seminar, ich bin nicht auf Sie vorbereitet!“
Sie hatten doch ohnehin nicht die Absicht?
Nein! Ich mag doch diese Leute - aber ich stimme nicht mit ihren
Ideen überein, das verstehen die nicht, das ist doch eine ganz andere
Sache: Ich kann mit jemanden sehr befreundet sein usw. - die Ideen sind
doch andere, die muß man doch diskutieren können, und ich mag sie doch!
In der BRD hat es sich eingebürgert, drei verschiedene Richtungen
der Familientherapie zu unterscheiden: - psychoanalytisch orientierte,
wachstumsorientierte und problemlösungsorientierte. Halten Sie diese
Einteilung für sinnvoll, würden Sie sich einer dieser Orientierungen
zuordnen und welche Besonderheit weist Ihre Familientherapie auf?
Ja, ich glaube dieselbe Einteilung finden Sie in Italien oder in
den USA. - Nun habe ich in verschiedenen amerikanischen und englischen
Zeitschriften gelesen, daß die Psychoanalyse in den USA am Ende ist -
vollständig am Ende: Es gibt keine Forschungsförderung mehr, keine
Ausbildungskandidaten mehr, die Psychoanalytiker werden wollen usw.. In
den USA kehrt man zu Psychopharmaka zurück - und nach meiner Meinung
vollkommen zurecht, denn die Psychoanalyse bewirkte absolut nichts: Bei
anorektischen Kindern - nichts, in den Kliniken nichts. Daher hat man
vollkommen recht, kein Geld mehr dafür zur Verfügung zu stellen. Es ist
vielleicht besser, Medikamente zu verabreichen als Psychoanalyse.
Dieselbe Einteilung finden Sie auch in Italien, aber nach meiner
Meinung haben die Wachstumstherapie, die Psychoanalyse und die
Problemlösetherapie nichts mit dem systemischen Modell zu tun, weil das
systemische Modell eine radikale Revolution darstellt, eine Veränderung
des Denkens, die Aufgabe der aristotelischen Logik, die endgültige
Aufgabe des „medizinischen Modells“, das nicht nur in der Psychiatrie
angewandt wird, sondern unglücklicherweise auch in der Psychologie -
auch die klinischen Psychologen haben nur das „medizinische Modell“ im
Kopf: Es gibt wirklich nichts, das wir heilen würden, weil ich nicht
weiß, was richtiger ist. Ich kann Ihnen nicht sagen: „Herr Klaus
Deissler, Sie sollten dies nicht tun oder das tun“ usw. „Ich weiß doch
nicht, was für Sie richtig ist.“ Aber wenn Sie zu mir kämen und sagten:
„Ich fühle mich nicht wohl, so wie ich bin“, würde ich mich anstrengen,
Sie zu ändern, aber ich weiß nicht, in welcher Richtung, weil ich
glaube, daß Sie clever genug sind, um Ihre eigene Richtung zu finden. -
Unsere Familien sind clever genug, ihre Probleme selbst zu lösen,
nachdem ich ihr repetitives Spiel gebrochen habe. Sie finden ihre
Lösung besser, als ich es jemals könnte. Minuchin ist sicher, er weiß,
was besser für die Familien ist. Das ist lächerlich, absolut
lächerlich. Das ist das typische amerikanische Konzept „Ich weiß es
besser als Sie, weil ich Spezialist bin. Ich weiß besser als Sie, was
für Sie als Paar richtig ist. Ich weiß besser, was für Sie als Familie
gut ist.“ Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, wenn es mir
gelungen ist, das repetitive Spiel zu brechen, findet die Familie die
beste Lösung, während ich mir diese Lösung gar nicht vorstellen kann.
Vor drei Monaten behandelten wir in nur einer Sitzung ein
schizophren-katatones Mädchen in der ersten Krise erfolgreich - diese
Familie hat eine Lösung gefunden: herrlich! Die Sitzung war sehr gut,
aber die Lösung war viel, viel besser, denn wir haben das repetitive
Spiel gebrochen. Sofort danach war das Mädchen nicht mehr schizophren
und die Familie mußte eine Lösung finden - sie brachen sofort danach
die Therapie ab. Bei unseren Therapieabbrüchen unterscheiden wir
zwischen Abruch wegen „Veränderung“ und Abbruch, weil „nichts geht“. -
Im eben genannten Fall haben wir einen Abbruch wegen Veränderung; denn
diese Familie weiß, wie sie eine Lösung gefunden hat ohne den
Therapeuten, eine bessere Lösung, als ich sie mir je hätte vorstellen
können ...
... Sie brechen nur das repetitive Spiel und geben keine Lösung vor ...
... niemals, niemals in meinem Leben - weder Dr. Prata, Dr.
Boscolo noch Dr. Cecchin geben einer Familie vor, was sie zu tun hat.
Niemals!
Sie fühlen sich also nicht als pädagogischer Lehrmeister Ihrer Familien ...
... Niemals, weil ich Respekt vor meinem Nächsten habe.
Will man psychoanalytisch orientierten Familientherapeuten glauben,
so ist für einen Familientherapeuten in vielerlei Hinsicht
Voraussetzung für seine Arbeit die intensive Auseinandersetzung mit
seinen eigenen Problemen: – manche sehen die Lehranalyse als beste
Voraussetzung für einen Familientherapeuten an; – inzwischen neigen
einige Familientherapeuten dazu, die Familien ihrer
Ausbildungskandidaten - die Familien der zukünftigen
Familientherapeuten also - einzuladen und diese gemeinsam einer
Familientherapie zu unterziehen ...
... ja, weil das Idioten sind, ja..
... Herr Haley hat sich zu diesem Problem letztes Jahr in Florenz
sinngemäß folgendermaßen geäußert: Er sagte, ihm seien keine
Untersuchungen bekannt, die aufzeigen würden, daß „selbsterfahrene“
Familientherapeuten in irgendeiner Hinsicht bessere Therapeuten seien.
Er würde es vorziehen, bei bestimmten Problemen, die bei den
zukünftigen Familientherapeuten „blinde Flecke“ vermuten ließen, diese
durch Übung mit Familien im Rahmen der Live-Supervision zu vermindern.
Gibt es also einen Selbsterfahrungsmythos in der Psychotherapie und
kann man die Lehranalyse als Strategie zur Aufrechterhaltung der
Kontrolle etablierter Psychotherapeutenkreise über die Lernenden
bezeichnen?
Ja, - um eine Kirche aufzubauen - nur deshalb. Sehen Sie, was
diese Leute sagen, ist folgendes: Niemand weiß, niemand kann wissen -
weil es unmöglich ist, zweimal im selben Fluß zu baden - niemand weiß
also, ob ich oder meine Kollegen gute Therapeuten sind, weil wir
Psychoanalytiker sind. Das ist unmöglich, denn es wäre ja notwendig,
zum Fluß zu gehen, Wasser zu trinken und dann alles zu vergessen. Es
ist also unmöglich zu wissen, ob wir gute Familientherapeuten sind,
weil wir Psychoanalytiker waren. Deshalb ist es auch unmöglich zu
entscheiden, ob es notwendig ist, eine Lehranalyse zu machen, um ein
Familientherapeut zu werden. In unserem Institut gehen wir deshalb
folgendermaßen vor: Dr. Boscolo und Dr. Cecchin sind die
Ausbildungsleiter an unserem Institut - ich bin nicht daran
interessiert, auszubilden. Die beiden stellen einige Gruppen zusammen,
um die Motivation für Familientherapie zu überprüfen. Falls eine Person
zu gestört ist, schicken sie sie wieder weg: „Werden Sie kein
Therapeut, Tschüs“ usw.. Wenn die Leute sich mehr im mittleren Bereich
befinden, wirklich motiviert sind, sehr clever sind, sich das zirkuläre
bzw. systemische Modell aneignen wollen, sie Phantasie haben und unsere
Techniken lernen wollen usw., können sie gute Familientherapeuten
werden. Inzwischen haben wir Erfahrungen gewonnen, denn wir haben vor
zwei Jahren Therapeuten ausgebildet: Sie sind sehr, sehr gute
Therapeuten, und sie wurden nicht analysiert. Die Praxis, die in vielen
Instituten im Ausland üblich ist, nämlich die Familiensituation des
Ausbildungskandidaten zu analysieren, ist absurd, idiotisch, lächerlich
usw., weil wir definitionsgemäß Mitglieder unserer Familie sind. Wenn
wir als Familienmitglieder in der Familie sind, sind wir immer in
F-Position und nicht in T-Position. Die Position eines
Familienmitgliedes ist die F-Position und nicht die Meta-Position: Was
sollen wir also in der Familie analysieren? Wenn wir Therapeuten sind,
müssen wir in einer vollständigen anderen Position sein: Nicht in der
F-Position, sondern in der Meta-Position. Das ist also ganz anders. Die
Anstrengungen der Familie gehen dahin, uns zu Mitgliedern der Familie
zu machen - und wenn die Familie schizophren ist, schafft sie es auch.
Wenn wir also keine andere Hilfe von anderen Kollegen haben, schaffen
sie es, uns einzubeziehen, uns zu homöostatischen Mitgliedern der
Familie zu machen. Daß wir uns als Therapeuten also einer
Familientherapie unterziehen bzw. unsere Position in der Familie
analysieren lassen, ist ein absolut dummer Gedanke - da stimme ich
genau mit Jay Haley überein.
Wir können jetzt überleiten zu Ihrem familientherapeutischen Modell
mit seinen Besonderheiten. Sehen wir uns zunächst die Rahmenbedingungen
an: Arbeiten Sie ausschließlich familientherapeutisch, d.h. mit allen
Familienmitgliedern bzw. den Subsystemen einer Familie, und gibt es
Bereiche, bei denen Sie auf ihr systemtheoretisches Familienmodell
verzichten?
Ich arbeite in drei Bereichen: Der erste ist natürlich die
Familientherapie mit dem systemischen Modell. Wie ich Ihnen gestern
bereits erzählt habe, teilen wir inzwischen auch die Familien auf und
arbeiten mit den Subgruppen, z.B. mit der letzten Generation alleine.
Familien in Subsystemen aufteilen und z.B. die erste und letzte
Generation getrennt behandeln, ergibt manchmal gute Ergebnisse -
insbesondere bei Schizophrenie. Das ist genau das Gegenteil von dem,
was wir in „Paradoxon und Gegenparadoxon“ sagten: „Teile niemals die
Familien auf!“. Inzwischen erscheint es uns insbesondere bei
schizophrenen Familien zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendig. Wir
hatten enorme Erfolge dadurch, daß wir die letzte Generation einluden,
z.B. haben wir einen Schizophrenen mit seinen 4 bis 5 Geschwistern
eingeladen, um eine Allianz, eine Gang der letzten Generation zu
bilden; denn sehr häufig ist der designierte Patient mit seinen Eltern
involviert und von den Geschwistern isoliert. Die Eltern auszuschließen
und eine Allianz der letzten Generation auf gleichem Niveau der
Geschwister und dem designierten Patient zu bilden, erweist sich
deshalb als sehr, sehr nützliche Taktik.
Der zweite Bereich, in dem ich arbeite, ist die katholische
Universität: Dort arbeite ich mit Schulpsychologen,
Betriebspsychologen, Psychologen, die in der Forschung und in großen
Organisationen arbeiten, zusammen. Innerhalb dieser Forschungsarbeit
wende ich dasselbe systemische Modell an. Ich habe darüber das Buch
„Der entzauberte Magier“ 10 veröffentlicht und in Florenz einen Artikel
mit dem Titel „Pitfalls in Organizations: The Redundancies Observed in
Every Organization“ (11 Dieser Aufsatz ist meines Wissens bisher nicht
erschienen. Das angesprochene Thema wird jedoch in folgendem kürzlich
erschienen Buch abgehandelt: SELVINI PALAZZOLI, M. et al. (1984):
Hinter den Kulissen der Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart.)
vorgestellt. Dieser Artikel wird zusammen mit einem weiteren „Why long
intervals between sessions in treating the schizophrenic family“ von
Guilford Press 12( SELVINI PALAZZOLI, M. (1980): Why a Long Interval
Between Sessions. The Therapeutic Control of the Family-Therapist
Suprasystem. In: ANDOLFI, M. & ZWERLING, I.: Dimensions of Family
Therapy. Guilford, New York. deutsch: Die Notwendigkeit langer Abstände
zwischen den Sitzungen. In: Zeitschrift für Systemische Therapie, 1984,
4: 49-56.) veröffentlicht. Unabhängig vom Typ der Organisation habe ich
mit den Psychologen zusammen, die in solchen Organisationen arbeiten,
drei typische Phänomene, drei typische Fallen festgestellt. Diese
Fallen findet man, da sie repetitiv, redundant sind, in jeder Art von
Organisation. - Dies ist also mein zweiter Arbeitsbereich. Innerhalb
meines dritten Arbeitsbereiches behandle ich zu Forschungszwecken auch
individuell Patienten mit orthodoxer, orthodoxer, orthodoxer
Psychoanalyse - aber manchmal gebrauche ich Paradoxien: Wenn ich
Widerstand antreffe, verschreibe ich den Widerstand. Aus diesem Grund
ist die Behandlung sehr viel dynamischer. Wenn ich z.B. schizophrene
Patienten individuell behandle, analysiere ich die Übertragung - das
ist orthodox, aber manchmal nehme ich eine Verschreibung vor. Ich habe
z.B. eine Patientin die schizophren war - inzwischen ist sie aus der
Psychose raus. Es war unmöglich, die Familie zu behandeln, denn sie
lebt im Ausland. Ich habe sie jedoch manchmal getroffen und kannte
somit das Problem der Familie - diese Patientin war erschreckt durch
ihre Fortschritte. Sie bestand darauf, mehr als zwei Sitzungen pro
Woche zu bekommen. Deshalb habe ich ihr verschrieben, um mehr Sitzungen
zu bitten, und dies wie folgt begründet: „Also in jeder Sitzung
diskutieren wir darüber, daß sie mehr Sitzungen haben wollen. Damit
hören wir auf, die Therapie fortzusetzen, das ist gut für Sie, weil Sie
durch Ihre Fortschritte erschreckt sind. - Bitten Sie also um mehr
Sitzungen!“- Ich verschreibe immer den Widerstand.
Können Sie kurz etwas über die prozentuale Aufteilung dieser drei Arbeitsbereiche sagen?
Der wichtigste Bereich ist die Familientherapie, in diesem Bereich
arbeite ich drei Tage pro Woche. Je ein Tag ist für große Systeme und
Individualtherapie vorgesehen, an den restlichen Tagen studiere und
schreibe ich usw., basta!
Sie leiten ein privates Institut: Was hat Sie bewogen, Ihr Institut auf privater Basis zu konzipieren?
Freiheit, um frei zu sein. In Italien ist alles Politik: Wenn ich
Geld von den Kommunisten nehme, muß ich für sie arbeiten. Wenn ich Geld
von der Kirche nehme, dann muß ich für die Kirche arbeiten usw., usw. -
und wenn ich Geld von der Forschungsförderung nehme, zwingen sie mich,
Mitarbeiter einzustellen - ich kann nicht mit Leuten zusammenarbeiten,
die ich hasse, das ist unmöglich: Also um frei zu sein.
Aus welchen sozialen Schichten und mit welchen Problemen kommen
Familien zu Ihnen? Gibt es Familien, die sie hinsichtlich Ihrer
spezifischen Problematik ablehnen?
Nein, am Anfang hatte ich nur anorektische Patienten - etwa
zwischen 69 bis 72 - weil ich für mein Fachgebiet Anorexie bekannt war
und es damals in Italien auch keine anderen Familien gab, die
Familientherapie haben wollten. Darüber hinaus konnte ich in jenen
Jahren nur solche Familien akzeptieren, die zahlen konnten. Ich hatte
damals sehr große Unkosten, und es war unmöglich, arme Leute zu
behandeln. Heute ist das ganz anders, weil wir arme Leute in der
Ausbildung behandeln: Der Ausbildungskandidat bezahlt für die Familie.
Wir haben vier Ausbildungstage in der Woche: Dienstag, Donnerstag,
Freitag und Samstag. Auf diese Weise können wir arme Familien behandeln
- sie bezahlen nicht nichts, aber sehr, sehr wenig ...
... wieviel bezahlen diese Familien selbst?
10 bis 20 DM.
Sie lehnen also keine Familien ab, weil sie eine besondere Problematik aufweisen?
Nein, aber wir haben Schwierigkeiten mit den überweisenden
Personen hier in Mailand, weil diese Personen neidisch sind. Ich war
z.B. eine Zeitlang sehr daran interessiert, das Problem des Stotterns
zu untersuchen: Mir wurde nur eine Familie überwiesen, weil diese Leute
eifersüchtig sind und keine Patienten schicken möchten.
Wenden Sie Familientherapie an, wenn der Symptomträger hospitalisiert ist?
Ja, das ist eine sehr gute Sache für mich und kein Problem - wie
etwa für Jay Haley - weil ich das positiv bewerte und annehme, daß der
Patient für das Wohlergehen der Familie hospitalisiert wurde. Ich bin
nicht gegen die Hospitalisierung, weil ich dem Symptom, dem Verhalten,
eine positive Bedeutung beimesse. Wenn der Patient in der Klinik ist,
lade ich die Familie ein und sage ihr, sie solle den Patient von der
Klinik abholen, mit ihm zur Sitzung kommen und ihn danach wieder zur
Klinik zurückbringen. - Für uns ist das ganz gleichgültig genauso wie
medikamentöse Behandlung.
Widerspricht das nicht Ihrer Feststellung, die die Unvereinbarkeit
zweier Therapien betrifft, die gleichzeitig stattfinden, wenn z.B. ein
Patient gleichzeitig an einer Familientherapie und an einer
Individualtherapie teilnimmt?
In dem Fall, den Sie ansprechen, handelt es sich um Psychotherapie
- dabei entsteht ein Konkurrenzkampf: Der Psychoanalytiker, der den
Patienten individuell behandelt, glaubt, daß er als Therapeut besser
bzw. der beste sei - dann entsteht die Konkurrenz. Denn der Patient
kommt mit dem Paradox zu dem Analytiker zurück - und der Analytiker
kritisiert das: „Dr. Selvini ist verrückt“ o.ä.. Nehmen wir z.B. den
Fall von gestern: Wenn Mary in psychoanalytischer Behandlung wäre,
würde sie zu ihrem Analytiker zurückkommen, ihm die Sitzung erklären
und sie kritisieren. - Es ist unmöglich, so zu arbeiten. Wenn der
Patient jedoch im Hospital ist, gehört dies zum Familiensystem dazu -
das Hospital wird zu einem Teil des Familiensystems. Ich frage den
Patienten dann: „Du wolltest doch hospitalisiert werden, weil Du
wußtest, daß Deine Familie einen Patienten braucht?“
Was Ihre konkrete Arbeit mit Familien betrifft, arbeiten Sie im
Team: 2 Therapeuten arbeiten mit der Familie, 2 Therapeuten beobachten
die Sitzung hinter der Einwegscheibe, anschließend besprechen Sie die
Sitzungen z.T. mehrstündig anhand von Video-Aufzeichnungen. Meine Frage
dazu lautet: Wie viele Familien können Sie pro Woche behandeln? Wenn
man darüber hinaus bedenkt, daß Sie die Gesamtsitzungszahl mit ca. 10
Sitzungen pro Jahr veranschlagen und die Abstände zwischen den
Sitzungen in 4-6 Wochen betragen, sieht dann die Kosten-Nutzen-Relation
noch so aus, daß Sie von den Einkünften aus Ihren Therapien leben
können? Herr Watzlawick hat zu diesem Problem in einem Aufsatz
geäußert, daß man mit Psychotherapie, die auf
kommunikationstheoretischen Prinzipien beruhe, keine Privatpraxis
unterhalten könne. Wenn man nun die Gesamtzahl von 10 Sitzungen
zugrundelegt, was kostet eine Familientherapie bei Ihnen?
Pro Woche kann ich höchstens vier Familien behandeln: Eine am
Montag, zwei am Dienstag und eine am Mittwoch. Danach habe ich genug,
denn an den jeweiligen Abenden muß ich die Sitzungen in einer so
präzisen Synthese niederschreiben, daß ich sie in fünf Minuten
nachlesen kann. Diese fünf Minuten müssen also alle wichtigen
Informationen beinhalten - das ist sehr, sehr schwierig. Ich habe mich
auf diesem Gebiet spezialisiert. Meine Kollegen können das nicht
machen, sie sind nicht so gut dran wie ich: Mein Mann ist sehr, sehr
gut zu mir; er arbeitet im Hospital, und er „füttert“ mich. Meine
Kollegen müssen an anderen Tagen noch Geld verdienen, weil wir hier
nichts verdienen - absolut nichts! Ich persönlich habe 100.000.000 Lire
13 (Kurs 1979: 1.000 Lire = 2.23 DM) verloren, weil ich meinen Beruf
aufgegeben habe. Sie können sich also selbst ausrechnen, wieviel ich in
10 Jahren verloren habe. Ich bin aber keine Jeanne d‘Arc, ich habe
Spaß, ich amüsiere mich. Jeder amüsiert sich so wie er kann, ich
amüsiere mich, indem ich Forschungen betreibe - andere Leute fahren
vielleicht mit ihrem Segelboot. Ich verdiene hier also nichts. Guiliana
hat ihre Privatpraxis - Montag nachmittags, Dienstag, Freitag und
Samstag. Inzwischen verdienen Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin
Geld, weil sie Ausbildungen durchführen, und diese Ausbildung ist nicht
sehr teuer - jedoch teuer genug, daß sie dabei etwas verdienen können:
Nach 10 Jahren Hunger und Opfer verdienen sie jetzt Geld. Ich
persönlich hasse es, Ausbildung zu betreiben, deshalb mache ich es
nicht. Aus diesen Gründen liegen die Gesamtkosten für eine
Familientherapie höchstens bei 1.500.000 Lire, wenn man die Inflation
mit einbezieht, das Minimum für eine arme Familie liegt bei 300.000
Lire für 10 Sitzungen, das ist sehr wenig.
Können Sie mit Zuschüssen von Krankenkassen oder Sozialämtern rechnen?
Nur die Familien selbst, nachdem die Familien bei uns bezahlt
haben, können sie einen Zuschuß beantragen. - Manchmal bekommen sie
einen solchen Zuschuß, der Betrag ist jedoch sehr gering.
Haben Sie eine Warteliste für Familientherapie und lassen Sie ihre Familien aus strategischen Gründen warten?
Wir hatten eine sehr, sehr lange Warteliste - über viele, viele
Monate. - Inzwischen riskieren wir, wieder eine sehr lange Warteliste
zu bekommen. Wir haben Perioden: Im Dezember und Januar hatten wir eine
ungeheure Zahl von Bewerbern - um die 100, das ist unmöglich. Deshalb
schicken wir inzwischen Familien zu unserer kleinen Gruppe, dem 2.
Zentrum, also zu den Leuten, die von uns trainiert wurden. Aber es gibt
Schwierigkeiten, denn die Familien glauben, das andere Zentrum sei
zweitrangig.
Wie gehen Sie mit Anmeldungen zur Therapie um, wenn der Anrufer
behauptet, die anderen Familien seien nicht bereit mitzukommen?
Wir akzeptieren solche Fälle nicht. Es ist aber wichtig
hinzuzufügen, daß es sich in einem solchen Fall um eine Manipulation
dieses Familienmitgliedes handeln könnte. Ich weiß ja nicht, ob es wahr
ist, was es sagt - vielleicht will es die Familie nur verlassen.
Deshalb akzeptieren wir solche Fälle nicht.
Wie stehen Sie zum Problem der „selegierten Stichprobe“? Manche
Kritiker nehmen bei sehr erfolgreichen Psychotherapeuten an, diese
hätten es mit einer selegierten „Stichprobe“ zu tun. Man könnte es etwa
so ausdrücken: „Wenn wir schon zu den berühmten Mailänder
Familientherapeuten gehen, wollen wir auch gesund werden!“
Das Problem ist genau das Gegenteil - genau das Gegenteil. Ich
bereite z.Zt. einen sehr amüsanten Artikel vor, den ich auch in
„Familiendynamik“ und in einem französischen Journal veröffentlichen
möchte. Dieser Artikel soll folgenden Titel haben: „Schläue der
Dummheit oder die Potenz der Impotenz“ 14( SELVINI PALAZZOLI, M. &
PRATA, J. (1980): Die Macht der Ohnmacht. In: DUSS-von WERDT, J. &
WELTER-ENDERLIN, R. (eds): Der Familienmensch. Klett-Cotta, Stuttgart.)
. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn eine Familie mit einem Problem der
Anorexie hierher kommt und von Dr. Prata empfangen wird, wird sie ganz
wild und sagt: „Wir wollen Dr. Selvini haben!“ und Dr. Selvini ist
nicht da. Deshalb scheuen die Familien keine Anstrengung, keinen Erfolg
zu haben, weil sie Dr. Selvini haben möchten. - Wir haben derart
lustige Sachen gemacht: Einmal hatten Dr. Prata und Dr. Cecchin eine
Familie in Therapie, die jedoch gekommen war, um von der berühmten Dr.
Selvini therapiert zu werden - also: 1. Intervention, 2. Intervention,
3. Intervention - immer dasselbe. Wir haben darauf entschieden, daß das
Problem darin bestand, daß Dr. Selvini nicht bei den Sitzungen anwesend
war. Als wir die Familie danach fragten, dementierte sie dies. Aus
diesem Grund haben wir uns entschlossen, ein indirektes Experiment zu
machen: Die Sitzung war gerade zu Ende und die Therapeuten gingen
hinaus. Als sie zurückkamen, sagten sie - wie zwei arme Idioten: „Wir
sind verzweifelt, heute versteht Dr. Selvini überhaupt nichts.“ Die
Eltern sagten: „Wir haben Sie doch so gebeten - das ist unmöglich,
unser Mädchen ist doch so schwer krank - die Situation ist tragisch!“
Damit sehen Sie die vollständige Verwerfung der Therapeuten: Sie
existieren für die Familie überhaupt nicht. Danach verschwand die
Familie und die Patientin war sofort geheilt - sofort! - Diese Familie
stammt aus Turin, die Großmutter lebte jedoch in Mailand, und jedesmal
nach der Sitzung gingen sie die Großmutter besuchen, um mit ihr
zusammen Mittag zu essen und danach mit dem Zug zurück nach Turin zu
fahren. Nach dieser Sitzung betrat das Mädchen das Haus der Großmutter
und rief sie, um ihr zu sagen: „Dr. Selvini hat ausgedient, sie
versteht überhaupt nichts mehr. Jetzt muß ich an mich selbst denken: 2
Portionen Spaghetti und Käse!“
Sie haben also erfahren, daß ihr Ruf ein sehr erfolgreiches Therapeutenteam zu sein, Sie behindert hat?
Ja, weil viele Familien die kommen, fast immer das Buch (Paradoxon
und Gegenparadoxon) sehr aufmerksam gelesen haben. In unseren Sitzungen
gibt es also immer eine weitere Person: Das Buch. Aus diesem Grund
müssen wir jedesmal was Neues erfinden - und je fähiger wir werden,
desto symmetrischer werden die Familien: Sie wollen sich ändern,
gleichzeitig jedoch nicht - sie wollen dem Therapeuten nicht die
Befriedigung vermitteln, daß die Familie sich geändert hat. Und wenn
sie sich ändern und der designierte Patient seine Symptome aufgibt und
wir am Ende der Therapie fragen: „Was denken Sie über die Therapie? Was
denken Sie, daß z.B. Alexander keine Symptome mehr hat?“ antworten sie
z.B.: „Ich glaube, die Phase zwischen 15 -17 Jahren war entscheidend.“
- Sie erkennen niemals das Verdienst der Therapeuten an, niemals,
niemals! - Und das ist gut für uns.
Es gibt einige Kritiker, die behaupten, Ihr familientherapeutisches
Modell sei für italienische Familien zugeschnitten. Man denkt v.a.
daran, das italienische Familien sich durch einen starken
Familienzusammenhalt auszeichnen. Demnach müßte es so sein, daß ihr
Modell nicht anwendbar ist bei Familien, deren Mitglieder relativ
leicht austauschbar sind. Sie haben selbst in ihrem Buch „Der
entzauberte Magier“ auf einen ähnlichen Zusammenhang hingewiesen.
Ich weiß, daß Minuchin von sehr verstrickten Familien spricht und
von losgelösten Familien - ich denke, das ist ein weiteres falsches
Konzept von Minuchin, weil wir in Wirklichkeit nicht erkennen können,
ob die Familie wirklich losgelöst ist oder sich nur so zeigt. Es gibt
die Art, das Spiel „verstrickt zu spielen“ und die Art, es „losgelöst
zu spielen“. Auch wenn die Familie offensichtlich losgelöst ist,
besteht die Aufgabe des Therapeuten darin, diese Familie in einer
solchen Weise zu schocken, daß sie mit Hilfe des Therapeuten ein sehr
starkes System bildet. - Wir wissen nicht, was war und was wirklich
ist. Wir müssen jedoch die Familien gerade wenn sie losgelöst spielen -
in einer Weise erschüttern, daß sie daran interessiert sind, daß das
Supersystem Familie plus Therapeut eine engagierte Gruppe wird.
Sie haben die Frage von ihrem konzeptuellen Unterschied zu Minuchin
beantwortet, meine Frage betraf jedoch die unterschiedliche
Familienkonstellationen in verschiedenen Nationen.
Das sind Dummheiten: Wir waren in den USA und haben dort
schizophrene und anorektische Familien behandelt - diese Familien sind
vollständig identisch mit italienischen Familien. Ich bin absolut
sicher, daß es notwendig ist, einen Patienten mit schizophrener
Symptomatik mit seiner Familie zu behandeln, weil er seine Familie nie
verlassen hat. In Italien, in Amerika, in Afrika, auf dem Nordpol und
in Alaska - überall ist die Familie des Symptomträgers verstrickt. Nun
gibt es am Ackerman-Institut eine Gruppe, die von Lynn Hoffmann
geleitet wird; diese Gruppe behandelt amerikanische Familien mit
unseren paradoxen Methoden und sie haben sehr gute Ergebnisse - dort
gibt es also amerikanische Familien. Es ist also keine Methode für d i
e italienische Familie, es gibt eine spezifische Erklärung dafür. Das
systemische Modell erklärt es: Das Leben ist paradox. Weil wir lebendig
sind, sind wir in Paradoxien gefangen. Das Paradoxon ist die Basis des
Lebens, das Gegenparadox die Basis der Therapie - warum? Wenn ich lebe,
heißt dies, daß ich mich ständig in einem Äquilibrium zwischen
Homoöstase und Veränderung befinde. Dieses Äquilibrium ist zwar stetig,
jedoch nicht stabil - das ist paradox. Ein weiteres wichtiges Paradox
besteht in etwas, was dem Menschen immanent ist, wenn er den Menschen
transzendiert. Ich mache zwei Dinge gleichzeitig: Ich beeinflusse und
werde beeinflußt, ich leite und werde geleitet - also es ist immer
paradox. Wenn wir nun die Doppelbindung nehmen, haben wir nur deshalb
ein pathologisches Paradox, weil verschiedene Kontextebenen verwirrt
wurden. Aus diesem Grund müssen wir gegenparadoxale Interventionen
machen, weil in diesem Fall das Gegenparadox das pathologische Paradox
- nämlich die Verwirrung von Kontextebenen - bricht. Damit habe ich
also ihr Problem geklärt.
Was macht eine therapeutische Verschreibung zur paradoxen Verschreibung? Kann eine paradoxe Verschreibung gefährlich sein?
Das wurde bereits in „Menschliche Kommunikation“ (s.o.) und in
„Paradoxon und Gegenparadoxon“ beschrieben. Wir haben viele
verschiedene Interventionstypen erfunden: Das erste sind die
„Familienrituale“; sie sind origineller als Paradoxe. - Familienrituale
sind unsere Erfindung. Wir haben viele, viele Familienrituale erfunden,
sie sind ganz anders als therapeutische Paradoxe, denn ein
„Familienritual“ ist eine Verschreibung, die die Regeln einer Familie
verändert, ohne dies zu erklären. Die Familie, die sich dem
„Familienritual“ unterwirft, gewinnt eine neue Erfahrung, die anders
ist, als die Erfahrung, die sie vorher hatte, denn dieses Ritual
vermittelt Regeln, die sich von den vorausgehenden unterscheiden. Das
ist unsere eigentliche Erfindung. Wir haben also „einfache
Verschreibungen“, „paradoxe Interventionen“ und „ritualisierte
Verschreibungen“. Die ritualisierte Verschreibung finden sie nicht in
unserem Buch. Sie ist veröffentlicht im „Journal of Marriage and Family
Counseling“ im August letzten Jahres „Odd Days and Even Days“
15(deutsch: SELVINI PALAZZOLI, M. et.a1.: Gerade und ungerade Tage. In:
Familiendynamik 1979, 4: 139147. ) ... Die paradoxe Intervention ist in
unserem Buch beschrieben - die Sache ist klar: Wir bewerten nicht nur
das Verhalten des Patienten positiv, sondern das Verhalten der gesamten
Familie und verschreiben das Spiel - es gibt keine Gefahren. Manchmal
versagen wir jedoch, weil wir dumm sind - wir haben dann der Familie
nicht das richtige Spiel verschrieben, weil die Familie ein Spiel
spielt, das wir nicht verstanden haben. Wir machen also Fehler, weil
wir dumm sind.
An welche Voraussetzungen ist also eine erfolgreiche paradoxe Systemintervention gebunden?
Sie müssen die Sitzung in einer korrekten Weise gemäß den drei
Prinzipien - Hypothesenbildung und Kontrolle der Hypothese,
Zirkularität und Neutralität - führen 16(SELVINI PALAZZOLI, M. et al.
(1981): Hypothetisieren - Zirkularität - Neutralität. Drei Richtlinien
für den Leiter der Sitzung. In: Familiendynamik, 6: 123-139.) .
Das ist doch nicht alles?
Nein, aber erst danach können Sie besser verstehen, worin das
wirkliche Spiel der Familie besteht und es zerschlagen - das wirkliche
Spiel der Familie verschreiben. Wenn Sie nicht das wirkliche Spiel der
Familie verschreiben, gibt es einen schrecklichen Mißerfolg - und wir
machen sehr oft diesen schrecklichen Fehler.
Müssen paradoxe Interventionen immer in einer gewissen Weise
„mystisch“ für die Familien erscheinen, damit die Familie nicht
versteht, worin die eigentliche Arbeit besteht?
Ja, erkläre nichts, belehre nicht! Wir erklären nichts: Gestern
z.B. erhielt ich während der Familientherapie eine große Hilfe von Dr.
Prata, denn sie rief mich aus der Sitzung heraus und empfahl mir,
insbesondere die Funktion der Großmutter zu erfragen. Dies erwies sich
als richtig, denn das Problem war die heimliche Allianz zwischen
Großmutter, Vater und designierter Patientin. Ich glaube, ein
unerfahrener Therapeut würde gestern nichts verstanden haben, absolut
nichts verstanden haben. Er wäre wie ein dümmlicher Mann dem Sog des
Symptoms, dem Weinen der Mutter usw. erlegen. Ich habe gestern das
symptomatische Verhalten der Familie sofort unterbrochen. Auch
Beschreibungen des Symptoms interessierten mich nicht. Ich habe meine
Hypothesen im Kopf. Ich verfolge präzise Fährten, ich habe die
Initiative - nicht die Familie. Andererseits hat die Familie die
Initiative: „Wir kommen zur Sitzung, um zu zeigen, wer verrückt ist und
wer schlecht ist, das ist das Ziel der Familie.
Bei Ihrem familientherapeutischen Vorgehen gibt es also eine
bestimmte Abfolge therapeutischer Schritte: Telefoninterview,
Hypothesenbildung, 1. Familieninterview, Diskussion des Interviews im
Team und Korrektur der Hypothesen, 1. Intervention usw.
Ja, immer. In jede Sitzung gehen wir mit einer Hypothese. Am Ende
der ersten Sitzung machen wir eine Voraussage, eine Hypothese, und in
der zweiten Sitzung kontrollieren wir die Hypothese der ersten Sitzung
- in jeder Sitzung gibt es also eine Hypothese ...
... und Sie gehen explizit in dieser Weise vor ...
... explizit in dieser Weise ...
Haben sie bereits Erfahrungen mit Nacherhebungen gemacht?
Sehr interessante! Wir sind dabei, die Nachfolgeuntersuchungen der
Fälle durchzuführen, die wir in „Paradoxon und Gegenparadoxon“
beschrieben haben - nach mehreren Jahren also. Dabei haben wir sehr,
sehr interessante Neuigkeiten gefunden. Wir fanden viele geheilte
Patienten, die am Ende der Therapie noch nicht geheilt waren. Unsere
Heilungsquote bei anorektischen Patienten liegt vielleicht bei 90% -
selbst wenn wir ursprünglich den Eindruck hatten, daß die Behandlung
ein Mißerfolg war. Wir setzen diese Arbeit z.Zt. fort. Wir stehen erst
am Anfang mit den Kontrollerhebungen. Ich habe den Eindruck, wenn wir
eine Familie mit einem paradoxen Kommentar behandeln, ist dies wie eine
Waljagd - die Jagd nach dem weißen Wal: „Wir fahren mit dem Schiff, wir
jagen den weißen Wal und schießen dann das Paradoxon in den Körper des
Wals, und der Wal verschwindet - aber mit einer Harpune im Körper, die
langsam weiterarbeitet“. - Genauso arbeitet das Paradoxon am Ende der
Therapie bei der Familie wieter, der Prozeß ist also nicht
abgeschlossen - das ist etwas sehr dynamisches. „Wenn es gelingt, den
Wal mit einer Harpune zu treffen, arbeitet das weiter“ - über Jahre und
Jahre, das ist sehr, sehr interessant. Wir hatten z.B. einen Fall, an
den ich mich gut erinnere: Familie Tuzzi, diese Familie hatte ein
anorektisches Mädchen. Die Familie war absolut nicht motiviert, nicht
im geringsten. Sie hatten eine einzigartige 13-jährige Tochter. Wir
haben die Nacherhebung nach 6 Jahren gemacht, die Tochter ist heute 19
Jahre alt. Damals kam die Familie, Vater, Mutter und das kleine
Mädchen, das seit 4 Jahren anorektisch war, seit ihrem 9. Lebensjahr
also. - Sie war zu der Zeit klein, wie ein Zwerg. Ich habe damals die
Sitzung durchgeführt und die Familie war sehr unglücklich mit diesem
schrecklichen kleinen Mädchen, diesem Zwerg. Nach der Sitzung bin ich
mit einem Kollegen zu dem Schluß gekommen, daß der Widerstand dieser
Familie so mächtig war, daß ich eine enorme, schrecklich grausame
Intervention machen müßte, um den Widerstand zu brechen. Ich ging also
zur Familie zurück und erzählte ihr in einer sehr kryptischen Weise,
daß es zwar eine Indikation für Familientherapie gab, ich mich aber
entschlossen hätte, sie nicht durchzuführen, denn es sei viel besser,
daß das Mädchen anorektisch bleibe, weil, wenn sie geheilt würde und
essen würde, sie erkennen müßte, daß sie ein Zwerg sei, denn zu diesem
Zeitpunkt sei das Knochenwachstum bereits beendet. Es sei unmöglich,
daß nach 4 Jahren Anorexie die Knochen weiterwuchsen. Sie sei für immer
ein Zwerg. Deshalb spielte ich darauf an, daß es besser sei, daß sie
wegen ihrer Anorexie sterbe, als daß sie geheilt und ein armer
unglücklicher Zwerg würde. Die Familie war wie wild, und ich war sehr
traurig. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten in 6 Monaten wieder
anrufen, weil ich z.Zt. nicht den Mut hätte, diese Therapie zu machen,
weil es zu schrecklich wäre, diesen kleinen Zwerg zu sehen, und selbst
mit der Therapie würde das Mädchen ihr ganzes Leben lang ein Zwerg
bleiben. Nach 6 Monaten jedoch riefen sie nicht an und kamen auch
nicht. Inzwischen sind 6 Jahre vergangen. Vor 2 Wochen hat Giuliana
(Prata) Nachuntersuchungen gemacht und dabei stieß sie auf Familie
Tuzzi und ihre Daten: Nur eine Sitzung usw.. Darauf hat sie die Familie
angerufen: Der Vater war am Telefon so wild, als sei die Sitzung
gestern gewesen, er sagte: „Sie sind Dr. Prata vom Mailänder Institut
für Psychotherapie? Sagen Sie dieser Type von Professor Selvini, diese
dumme idiotische Professorin, sagen Sie ihr, sie sei ein Zwerg, denn
sie ist sehr klein. Meine Tochter ist innerhalb eines Jahres 20 cm
gewachsen und hat 20 kg zugenommen.“. Sie und ihre Familie wurden
geheilt durch die Wut, die sie auf mich hatten. Dies ist der Beweis
dafür, wie falsch es ist, von Liebe, Betroffenheit, Mitleid usw. zu
sprechen. Mitleid hat noch niemanden geheilt, man muß etwas
Nützlicheres tun. Diese Familie wurde durch Raserei geheilt - der Vater
war rasend: „Sie sind ein Zwerg - Dr. Selvini ist ein Zwerg“.
In Ihrem familientherapeutischen Modell haben Sie - wenn ich Sie
richtig verstanden habe den „psychischen Krankheitsbegriff“ über Bord
geworfen: Impliziert der Begriff „Psychische Krankheit“ eine „negative
Symptombewertung“ - ist er also für therapeutische Zwecke hinderlich?
Sicher!
Können Sie das bitte etwas eingehender erklären?
Wir wissen, daß jedes gestörte Verhalten ein Verhalten ist, das
auf eine bestimmte Weise mit dem Verhalten der Gruppe abgestimmt ist -
deshalb gibt es keine psychische Krankheit. Aber es gibt
Manifestationen des Spiels, und man muß dieses repetitive Spiel
brechen; basta!
Kann man die klassische psychoanalytische Widerstandsdeutung ebenfalls als negative Symptombewertung bezeichnen?
Nein, ich bin sicher, daß der Widerstand nur die Konsequenz aus
der Dummheit des Psychotherapeuten bzw. des Psychoanalytikers ist. Dies
liegt v.a. daran, daß der Psychoanalytiker dem Patienten vermittelt,
daß er ihn verändern will - aus diesem Grund zeigt der Patient
Widerstand, wenn man als Therapeut jedoch darauf insistiert, daß man
den Klienten nicht verändern will, widersetzt er sich nicht ...
... man sollte dem Klienten also vermitteln: „Bleib‘ so, wie Du bist!“...
... ja, der Widerstand ist also nur die Konsequenz. Nehmen wir ein
Beispiel: Wir sagen oft, die und die Familie zeigt einen starken
Widerstand, aber die eigentliche Ursache liegt darin, daß wir zu dumm
sind. Die Familie widersetzt sich, weil wir nichts verstehen - würden
wir verstehen, würde sie sich nicht widersetzen. Gestern am Ende der
Sitzung hat sich die Familie nicht widersetzt. Die Mutter sagte mir:
Ja, das ist wahr, meine Schwiegermutter wollte nicht, daß ich ihren
Sohn heiratete“. Sie zeigte jedoch keinen Widerstand, weil ich recht
hatte. Hätte ich jedoch unrecht gehabt, hätte sie sich widersetzt.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen individualpsychologischer
Interpunktion und dem Denken in psychischen Krankheitskategorien, die
ja Kategorien „für“ Einzelindividuen sind?
Oh ja, ja! Die Familie, die einen designierten Patienten
präsentiert, ist immer eine Familie, die im Rahmen des linearen Modells
denkt: „Wer ist schlecht, wer ist verrückt, wer ist die Ursache der
Krankheit usw. usw.?“ Wenn man Familien zwingt, im zirkulären Modell zu
denken, ändern sich auch ihre diesbezüglichen Gedanken. Das lineare
Modell stellt immer die Basis des Symptoms des designierten Patienten
dar.
Sie und Ihre Kollegen haben in dem Buch „Paradoxon und
Gegenparadoxon“ geäußert, daß die verschiedenen Familienmitglieder
nicht verschiedene „Eigenschaften haben“ bzw. in einer bestimmten Weise
„sind“, sondern daß sie sich gemäß den Regeln des Familiensystems in
jeweils spezifischen Weisen „zeigen“. In diesem Zusammenhang gebrauchen
Sie den Begriff „Spiel“. Es gibt verschiedene Autoren, die den
„Spielbegriff“ - mehr oder weniger explizit definieren - jedoch meist
auf individualpsychologischer Ebene, gebrauchen. - M.E. implizieren
Konzepte wie „sich-so-zeigen“ und „Spiel“ Veränderbarkeit: Können Sie
erläutern, was ein „systemisches Spiel“ ist und worin Sie die Vorteile
des „Spielkonstruktes“ sehen?
Ich denke, daß das klar ist: Bateson hatte die Idee, daß die
Familie ein „Programm“ hat, wie ein Computer. Wenn die Menschen über
eine gewisse Zeit zusammenleben, entwickeln sie Regeln. Diese Regeln
sind die Regeln des Spiels - Spiel in dem Sinne, daß die Interaktionen
der Familie durch diese Art der Regeln fixiert sind. - Also muß man die
Regeln verändern. Wenn ich sage, sie „zeigen“ sich, ist dies nicht die
Realität. Ich gebrauche das Verb „zeigen“, um das Verb, „sein“ zu
vermeiden, denn wir wissen nicht, ob die Familienmitglieder in dieser
Weise „sind“. Wir wissen, daß sie sich „zeigen so zu sein“ - gemäß den
Regeln des Spiels. Z.B. wenn die Familie einen Vater präsentiert, der
„zeigt, daß er dumm ist“, und wir diesen Mann wie einen cleveren Mann
behandeln, so wird er clever sein. Dadurch wird also klar, daß sein
Verhalten, nicht etwas darstellt, was er „ist“. Wir erklären das durch
das „als ob“, weil wir es ändern können.
Das ist das, was ich meine: Die Begriffe „zeigen“ oder „spielen“
implizieren Veränderbarkeit. Man kann ein Spiel, bzw. dessen Regeln
verändern, aber man kann keine Person oder eine Familie ändern, die so
oder so „ist“.
Genau, genau, genau. Aber „zeigen“ ist auch nicht das richtige
Wort, denn wenn ich ihnen sage, „Sie zeigen, daß Sie interessiert
sind“, impliziert dies in unserer Sprache, eine Konnotation von
Heimtückischsein oder eine verborgene Absicht haben. Das stimmt für die
Familie nicht, weil sie sich nicht bewußt sind, daß sie etwas zeigen.
Wir gebrauchen das Verb „zeigen“, um uns zu zwingen, daß Verb „sein“
aufzugeben.
Sie möchte also die negative Konnotation ausschließen.
Ja.
Zum Abschluß möchte ich Ihnen eine allgemeine, sozialpolitische
Frage stellen: Im Gegensatz zur BRD gab und gibt es in Italien eine
sehr starke antipsychiatrische Bewegung. Stimmen Sie mit der Auffassung
überein, die besagt, die Sozialpsychiatrie sei die Synthese aus
Psychiatrie und Antipsychiatrie oder würden Sie mehr Thomas SZASZ
zustimmen, der fürchtet, daß wir auf einem psychiatrischen bzw.
psychotherapeutischen Staat zutreiben, indem - extrem gesagt - nur noch
Psychiater und Psychotherapeuten regieren 17 (Vgl. dazu: SIMON, R.
(1984): The Myth of Family Therapy. An Interview with Thomas SZASZ. In:
The Family Therapy Networker, 8: 20-27 und 62-67 Sowie SZASZ, T. S.
(1984): The Therapeutic State. Psychiatry In The Mirror of Current
Events. Prometheus Books, New York. )
Das ist alt, diese Ideen sind überholt. Diese Gefahr der
Psychiatrie bestand vor 10 Jahren, als es die Psychoanalyse gab. Heute
lacht jeder über die Psychiater und Psychologen, jeder lacht, und in
den USA sagt man: „Nimm Medikamente, nimm Pharmaka, erkläre nichts,
erzähle keine Romane über die Patienten! Jeder hat genug von der
Geschichte der komplizierten Psychiatrisierung usw. Das ist sehr alt.
Wenn ich für mich spreche: Wir sind keine Antipsychiater, weil es keine
Psychiater gibt. Nehmen wir einen absolut dummen Sachverhalt heraus:
Psychiater müssen Familien behandeln? Das ist lächerlich! Warum
Psychiater? Psychiater sollen Psychopharmaka bei den Leuten
verabreichen, die sie für „geisteskrank“, für „schizophren“ halten,
weil es unmöglich ist, Familientherapie durchzuführen, während man
selber einen Anstaltsinsassen behandelt. Der normale Psychiater
verabreicht Drogen. Zur Zeit befinden wir uns in einer Forschungsphase.
Mit der Psychiatrisierung ist es jetzt zu Ende, weil jeder genug hat
von psychoanalytischen Interpretationen, Erklärungen usw. - kein Kult
mehr! Das sind Romane, das ist Literatur.
Welchen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die
Familientherapie? Man kann ja sagen, daß im Rahmen der Familientherapie
nicht nur das „Beobachtungsfeld“ ausgedehnt wird, sondern auch das
„Beeinflussungsfeld“. Welche sozialpolitischen Implikationen hat die
Familientherapie?
Das ist ein schreckliches Problem: 1. Familientherapie ist sehr
jung und wir befinden uns zur Zeit in einer Phase der absoluten
Forschung. Ich teile nicht die Auffassung von Minuchin, der meint, daß
sie bereits „etwas“ haben. 2. Nachdem nun in Italien die
psychiatrischen Kliniken geschlossen wurden, werden inzwischen „lokale
Einheiten“ entwickelt. Vielleicht ist es in einigen Jahren möglich,
„Spezialisten für Kontextintervention in Familien, Schulen und
Kindergärten“ heranzubilden, die vorbeugend eingreifen, wenn
dysfunktionale Spiele auftreten. Das wird die wirkliche
Sozialintervention bzw. -prävention sein. Aber das Problem liegt
woanders: Wir wissen, daß unsere Gesellschaft Abweichende braucht - und
vielleicht braucht unsere Gesellschaft gerade Schizophrene,
Chareteropathen und andere. Es könnte sein, daß die Gesellschaft ein
Äquilibrium zwischen funktionalen und dysfunktionalen Bereichen,
solchen, die adaptativ und solchen, die nicht adaptativ sind, braucht.
Vielen Dank für das Interview.
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