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systemagazin-Adventskalender: "Von Klienten lernen"

Wiltrud Braechter: „Boh, wie schön!"

Meine Arbeit als Therapeutin habe ich am intensivsten als eigenen Lernprozess erlebt, wenn sich  KlientInnen in Alter oder sozialem Hintergrund von mir unterschieden. Die wichtigsten  Lernerfahrungen der letzten Jahre habe ich dabei Kindern zu verdanken; hierüber habe ich gerade an anderer Stelle viel erzählt. In dieser Geschichte geht es deshalb um den therapeutischen Prozess mit einer Erwachsenen, mit der ich vor vielen Jahren in einer Frauenberatungsstelle zusammentraf.
Frau F. begegnete mir im Erstgespräch mit äußerster Skepsis; das Gesprächsangebot einer Kollegin hatte sie zuvor bereits zurückgewiesen. Behutsam begann ich damit, ihren Lebenskontext zu erkunden. Dabei stolperte ich über eine Vielzahl von Straßennamen: Adressen, an denen Frau F. in den vergangenen Jahren mit ihrer Familie gewohnt hatte. Als Bewohnerin einer weiter entfernten Stadt sagten mir diese Namen nichts, ich reagierte neutral auf Angaben, die für Ortskundige sofort als Wohnheime oder Übergangshäuser kenntlich gewesen wären.
Noch ganz unter dem Eindruck der neu gelernten Genogrammarbeit begann ich mit einer genauen Datenerfassung. Ich notierte die Straßen und Zeiträume, die Frau F. jeweils dort verbracht hatte, und rekonstruierte so die Geschichte ihres sozialen Aufstiegs: Als Kind vor der Gewalt ihrer Eltern geflüchtet, hatte sie zunächst auf der Straße gelebt, war in die Zwangsprostitution geraten, hatte in einer Drückerkolonne gearbeitet und anschließend eine Zeitlang mit ihrem Freund in einem Zelt am Waldrand gewohnt.
An dieser Stelle ging meine Urlaubsromantik mit mir durch – für mich gehört es zu den schönsten Dingen, bei Kanutouren unterwegs in der Natur zu übernachten. Völlig unbedacht sagte ich: „Boh, wie schön!“. Irritiert sah mich Frau F. an. Ich versuchte, zurückzurudern und meine Bemerkung zu relativieren. Gerade wollte ich erklären, dass es ja einen Unterschied macht, ob man freiwillig und bei schönem Wetter im Freien übernachtet oder ob man keine Alternative dazu hat – da unterbrach mich Frau F. mit den Worten: „Es war auch schön!“
Von diesem Moment an war das Eis zwischen uns gebrochen. Vielleicht passierte es meiner Klientin in ihrer langen Geschichte mit Helfern zum ersten Mal, sich in solcher Form auf gemeinsame Lebenserfahrungen zu beziehen. Vermutlich hatten wir in diesen Sekunden ähnliche Bilder im Kopf: Wiesen und Sonnenaufgänge, Farben, Geräusche, Gerüche,  Atmosphären. Danach war unsere Beziehung jedenfalls eine andere. In Frau F.s weiterer Schilderung ihres Lebenswegs schwang Stolz mit. Aus ihrer Geschichte heraus war es ein riesiger Schritt, mit Mann und Kindern ihre erste eigene Wohnung bezogen zu haben, auch wenn sie in einem sozialen Brennpunkt lag.
Beim nächsten Treffen reagierte Frau F. erneut auf  eine Weise, die ich nicht vorausgesehen hatte. Als ich danach fragte, wie unsere erste Therapiestunde bei ihr nachgewirkt hatte, ging ihre Antwort an meiner Intention vorbei. Statt mir von (den von mir erhofften) positiven Veränderungen zu erzählen, sah sie mich an und sagte: „Keine Beschwerden. Wir können weitermachen.“
Meine Frage nach den Auswirkungen der letzten Sitzung und diese Antwort wurden zu einem Ritual, mit dem wir unsere weiteren Gespräche begonnen. Für Frau F. war es wichtig, von Sitzung zu Sitzung neu zu überprüfen, ob der Gesprächsrahmen für sie noch stimmig war. Fragen nach Fortschritt und Unterschieden standen zurück hinter ihrem Bedürfnis, immer wieder kenntlich zu machen, dass es in ihrer Hand lag, unsere Gespräche weiterzuführen oder abzubrechen. Gleichzeitig bestätigte sie mit ihrer Antwort die therapeutische Beziehung, die zwischen uns entstanden war.
In der folgenden Arbeit mit Frau F. konnte ich viele basale Entwicklungsschritte miterleben, die hier nur angedeutet werden können. Frau F. begann damit, sich selbst wichtiger zu nehmen und sich eigene Wünsche zu erfüllen; sie fing an, mit ihren Kindern einfache Spiele wie „Guckuck-da“  zu spielen; ihre Zuneigung zu Mann und Kindern drückte sie aus, indem sie in der Wohnung für alle Geschenke versteckte (um sich dann zu ärgern, wenn die Kinder die Geschenke des Mannes entdeckten…). Wir näherten uns dem schwierigen Thema, wie ihre Erlebnisse als Prostituierte noch immer die Beziehung zu ihrem Mann belasteten. Vor allem entstand bei Frau F. Einfühlung in die jüngste Tochter, die bis dahin von ihr geschlagen wurde. Sie erkannte, dass diese Tochter in der Familie die gleiche Position des „schwarzen Schafs“ einnahm wie sie selbst früher in ihrer Herkunftsfamilie.
Als ich in ihrem Auftrag versuchte, die Tochter vorübergehend in einer Pflegefamilie unterzubringen, wurde dieses Anliegen mit einer für mich unvorstellbaren Begründung zunächst zurückgewiesen: Frau F. sei in die Frauenberatungsstelle geschickt worden, weil sie sich von ihrem Mann trennen sollte.
Nach dieser Erfahrung konnte ich noch besser nachvollziehen, wieso es für Frau F. von so großer Bedeutung war, sich immer wieder meines Respekts zu vergewissern und ihre Position als Auftraggeberin der Therapie zu behaupten.




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