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Rudolf Welter: Innehalten – Kapitel 2, Teil 2

Rudolf Welter
Der Heimat beraubt

Im Jahre 1931 ist im Voralpengebiet der Innerschweiz der Bau einer Staumauer in Planung. Sie soll Wasser von den umliegenden Bergen zu einem See anstauen. Von dort wird das Wasser dann über eine Druckleitung ins Tal fallen und Turbinen antreiben. Im Gebiet des zukünftigen Sees wohnen rund 1800 Menschen mit ihren Tieren und Habseligkeiten. Alle und alles muss umgesiedelt werden. Der See wird das Wohn- und Siedlungsgebiet überfluten. Wohnhäuser werden abgerissen, die Kirche und Heuschober bleiben stehen, weil der Abbruch mit zuviel Aufwand verbunden wäre. Beim Steigen des Wasserspiegels wird der Kirchturm noch einige Zeit aus dem Wasser ragen (ohne Glocken) und die Kühe werden ein letztes Mal auf den noch nicht überfluteten Weiden grasen.
Die Großfamilie Steinmann lässt sich noch kurz vor dem Auszug aus ihrem Haus von einem Photographen ablichten. Auf dem Bild sind die Eltern mit ihren elf Kindern zu sehen. Das Jüngste, in Mutters Armen, ist schätzungsweise vier Monate, das Älteste sechzehn Jahre alt. Die meisten der Kinder blicken in Richtung Kamera. Vater Steinmann senkt den Blick zu Boden. Sein Gesicht ist vom Hut und wahrscheinlich auch von Sorge überschattet. Sorge um die Familie, die ausziehen muss aus der gewohnten Umgebung. Beschäftigt mit der Frage, wie es sich im neuen Heim auf einer Anhöhe in der Nähe Wohnen und Bauern lässt. Die Familien im Gebiet des Stausees haben nicht die Wahl zu bleiben. Der erzwungene Auszug sollte kompensiert werden durch den Einzug in neue Häuser, die den Familien zur Verfügung gestellt wurden.
Auf große Leiterwagen, von Pferden gezogen, werden Möbel und der übrige Hausrat verladen. Es ist Winter. Die schmalen, eisernen Radreifen schneiden tiefe Furchen durch Schnee und Schlamm. Die Familie ist zu Fuß unterwegs. Hinter der Familie die Kuhkarawane, gefolgt von Hund und Katzen. Sie sind die letzten Lebewesen, die den Hof verlassen.
Während der Wasserspiegel steigt, wird schon die Einweihung der Staumauer vorbereitet. Wie es wohl den Familien zumute ist, die zusehen müssen, wie ihr einstiges Lebensgebiet überflutet wird? Wegsehen ist wohl kaum eine Alternative.

Noch lebende Bewohner und Bewohnerinnen einer vor 35 Jahren überfluteten Ortschaft (Stausee) in Portugal vernehmen durch einen Zeitungsartikel, dass Überreste ihres Dorfes, das sie damals bewohnten, wieder an der Oberfläche auftauchten. Die Berichterstatter haben allerdings mit ‚Auftauchen’ einen missverständlichen Begriff gewählt: Teile des Dorfes können nicht schwimmend an der Wasseroberfläche aufgetaucht sein. Vielmehr hat sich laut Zeitungsbericht der Wasserspiegel des Stausees im Laufe regenarmer Jahre so weit gesenkt, dass Überreste des Dorfes wieder sichtbar wurden.
Einige Bewohner und Bewohnerinnen machen sich zu einem Besuch ihres vormals intakten Dorfes auf. Mit gemischten Gefühlen allerdings. Sie wissen nicht genau, was sie zu sehen bekommen werden. Mit einigem Erstaunen sehen sie dann erhalten gebliebene Strassen und Mauerreste. Letztere haben die Flutung und das Scheuern des Wassers beim Heben und Senken der Wassermassen überstanden, weil sie mit Grantblöcken errichtet worden waren. Alles noch Vorhandene ist allerdings mit einer dicken, bräunlichen Sedimentkruste überzogen.  
Der Anblick der verkrusteten Überreste führt bei Besuchern unabwendbar dazu, dass sie kraft ihrer Gedächtnisse die Mauerresten zu intakten Häusern komplettieren, Räume  zwischen Häusern mit Wiesen und Rasen begrünen und Gärten anlegen, Bäume entlang den Strassen und Masten mit Lampen setzen, um sich an künstlich erhellte, warme Nächte zu erinnern. Sie tauschen Bilder aus, wie sie als Kinder auf Plätzen gespielt, ihren Eltern im Hof und Stall geholfen haben. Wie sie als junge Erwachsene Liebe gesucht und unter Bäumen in sattem Wiesland am Dorfrand machten. Und wie sie als Erwachsene dann erfahren haben, dass das Dorf wegen eines geplanten Stausees überflutet werde. Sie erinnern sich, wie sie sich gegenseitig halfen, mit dieser folgenschweren Botschaft fertig zu werden. Einander halfen ihre Häuser zu räumen und das Geräumte auf Wagen zu laden. Und wie sie dann an einem neuen Ort ein neues Leben begannen. Vielleicht haben einige die Verpflanzung schwierig erlebt oder nicht überlebt. Vielleicht versuchten einige, sich ohne ehemalige Mitbewohner woanders niederzulassen.

Anna W. entscheidet sich, nach langer Abwesenheit das Dorf aufzusuchen, in dem sie aufwuchs. Sie musste einst ihren Heimatort verlassen, weil es dort keine Arbeit für sie gab. So machte sie sich auf eine Reise, die sie weit weg vom Dorf brachte. Dort lebte sie bis ins hohe Alter, wollte aber vor dem Abschied - nehmen - müssen von dieser Erde nochmals den Ort ihrer Herkunft besuchen.
Wir treffen nun Anna W. auf der Reise dorthin. Sie ist sehr aufgeregt. Was sich wohl im Dorf verändert hat? Kenne ich noch Menschen? Gibt es das Elternhaus noch? Mit dem Näher kommen bildet sie das Bild des Dorfes im Kopf immer genauer ab. Als sie in der Region, in dem das Dorf liegt, ankommt, gibt es zu ihrer Verwunderung hier keine Dörfer mehr, sondern nur noch einen großen See. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hat, fragt sie einen Vorübergehenden, was denn hier geschehen sei. Die Gegend wurde überflutet und ein Stausee entstand, war die Antwort. Dies geschah vor vielen Jahren.
Entsetzt nimmt sie die Tatsache war, dass sie ihr Dorf nie mehr wird sehen können. Sie ist entsetzt und gleichzeitig gekränkt. Wie konnte man ohne ihr Wissen ihr Dorf überfluten, vom Erdboden verschwinden lassen. Niemand hat ihr das mitgeteilt. In keiner Zeitung hat sie dazu eine Notiz gelesen. Welche Beleidigung! Welche Enttäuschung! Welcher Schmerz, wie bei der Amputation von Gliedmassen!




Grundrisswanderer
Halter sagt, er lese Grundrisse von Gebäuden wie andere Menschen Bücher. Er sagt, dass das Wort Grundriss nichts mit Rissen in Grund und Boden zu tun hätte. Ein Grundriss gehöre zu einer Reihe von Anleitungen für den Bau von Häusern. Folgendes Bild könne erklären, was ein Grundriss sei, sagt er: Es sei, wie wenn ein Gebäude horizontal aufgesägt würde und die offen gelegten Räume und aufgeschnittenen Mauern aus der Vogelschau betrachtet würden.
Halter sagt, er könne auf den vor ihm ausgebreiteten Grundrissen von Raum zu Raum wandern. Dabei würde im Kopf ein Film ablaufen. Es sei, wie wenn er wirklich durch Räume ginge.
Wenn er beim Wandern auf fette Linien stoße, wisse er, dass es sich dabei um tragende Wände handelt. Als dünne Linien gezeichnete Mauern seien Mauern, die nicht tragend sind. Sie müssten im Grunde genommen gar nicht gebaut oder könnten später entfernt werden. Halter radiert in Gedanken eine dünne Linie aus und daraus ergibt sich für ihn eine neue, reizvolle Raumabfolge. Dieser entlang gehend, könne er gleich noch Tische, Sitzgelegenheiten und Büchergestelle platzieren, da und dort Bilder an Wände hängen, oder Beleuchtungskörper installieren.
Stößt er auf eine Treppe - im Grundriss sind deren Auftritte eingezeichnet und Pfeile zeigen, in welche Richtung sich die Treppe nach oben und unten windet - weiß er, wohin die Treppe führt.
Legt er die Grundrisse aller Geschosse wie Buchseiten übereinander, kann er diese umblättern und dabei die Lage der Stockwerke zueinander im Kopf speichern.
Halter trifft beim gedanklichen Wandern auf Symbole, die Einrichtungen zum Wohnen bezeichnen. Zum Beispiel Schränke, Lavabos oder Toiletten. Sie werden später unverrückbar eingebaut sein. Dagegen kann er Möbel beliebig an verschiedenen Orten aufstellen, versuchsweise wieder umstellen und sich vorstellen, darauf oder daran zu sitzen, mit Gästen Gespräche zu führen, Musik zu hören oder von dort durch ein Fenster zu schauen. Er sagt, Möbel (kommt von mobil) seien nicht angeschraubt, nur in den Köpfen wären solche Vorstellungen noch recht häufig anzutreffen.
Zahlen in den Plänen geben Aufschluss über die Ausmaße der Räume, über die Dicke von Mauern oder etwa, auf welcher Meereshöhe sich einmal eine Fensterbrüstung  befinden wird.
Es komme vor, gesteht Halter, dass er sich in seiner Vorstellungskraft  täuscht. Zum Beispiel, wenn er durch gebaute Gebäude gehe und die Räume nun um etliches größer oder kleiner seien, als er sich diese auf Zeichnungen vorgestellt hatte. Oder wenn sich das durch ein Fenster gerahmte Bild der Außenwelt sich nicht an dem Ort befände, wo er es erwartet hatte.
Er sagt, er lese Grundrisse von Gebäuden wie andere Menschen Bücher. Er blättere in Grundrissplänen wie Leser in Buchseiten. Die Symbole der Grundrisssprache würden ihm helfen, sich auf seinen imaginären Wanderungen zu orientieren. Er könne sehen, wie Räume begrenzt seien, oder offene Räume ausfransen wie Sätze, die am Ende, statt mit einem Punkt mit einem Gedankenstrich oder einer Reihe von Punkten enden.
Beim Wandern durch Grundrisspläne frage er sich gelegentlich, sagt Halter, ob die später im Gebäude Wohnenden, oder Arbeitenden oder Schutz Suchenden oder Ferien Machenden das Gebäude auch so aufmerksam lesen würden, wie es sich der Autor des Gebäudes erhofft.



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