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Heinz Kersting
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In welchem
Zusammenhang bist Du erstmals dem Namen, der Person oder dem Werk
Niklas Luhmanns begegnet? Und welchen Unterschied hat diese Begegnung
für Dich persönlich gemacht?
Die ersten Schriften Niklas Luhmanns, die ich
gelesen hatte, waren: „Moderne Systemtheorie als Form
gesamtgesellschaftlicher Analyse“, „Sinn als Grundbegriff der
Soziologie“ und „Systemtheoretische Argumentationen“ in dem von Jürgen
Habermas und Niklas Luhmann gemeinsam herausgegebenen Band: „Theorie
der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“, Frankfurt 1971.
Ich wurde 1971 Dozent an einer frisch gegründeten Fachhochschule und
lehrte Sozialarbeit. Im Jahr zuvor, war ich aus einer katholischen
Priestergemeinschaft ausgetreten und Papst Paul VI war so
freundlich, mich in den Laienstand zurück zu versetzen. Natürlich war
ich damals wie viele jungen Hochschullehrer links und angetan von der
Frankfurter Schule, wenn ich auch nicht viel übrig hatte für den
Vulgärmarxismus eines Großteils meiner damaligen StudentInnen. Ich
hatte Ende der fünfziger und Anfang der sechsziger Jahre in Frankfurt
an der Jesuitenhochschule St. Georgen studiert und unser Lehrer in der
katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning hatte uns
„gezwungen“, uns mit den Originalschriften von Karl Marx auseinander zu
setzen. Er ließ jeden – auch mich – rigoros durchs Examen fallen, wenn
der Kandidat glaubte, sich vor dem Studium des Marxismus drücken zu
können. Er entließ mich nach der Prüfung mit den Worten: „Wenn Sie
schon nicht die wichtigen Analysen von Karl Marx zu estimieren wissen,
dann sollten sie zumindest die Theorien der Feinde Ihrer Familie
kennen. Darum müssen sie die Prüfung wiederholen.“ Das gab mir eine
hohe Motivation und mein von da an fleißiges Studium marxistischer
Literatur verlieh mir bei meinen späteren StudentInnen der Sozialarbeit
und den LehramtsstudentInnen an der Pädagogischen Hochschule Rheinland,
an der ich anschließend Assistent war, den Status eines
Marxismusexperten.
Im Streit Habermas-Luhmann habe ich mich damals auf die Seite von
Habermas geschlagen. Für eine Mehrperspektivität war ich noch nicht
offen und bereit. Fürs erste interessierte ich mich nicht mehr für die
„Sozialtechnologie“ Luhmanns, wie wir verächtlich mit Habermas Luhmanns
Theorie bezeichneten.
Etwas später versuchten mir die beiden „Väter“ meiner Doktorarbeit den
Blick zu weiten. Mein deutscher „Doktorvater“, Horst Sitta, war ein
Linguist, mein amerikanischer „Doktorvater“, Louis Lowy, war ein
Sozialwissenschaftler, der wie Luhmann in Harvard bei Talcott Parsons
studiert hatte. Als Linguist interessiert sich Sitta sehr für die
Pragmatik der Kommunikation und so nimmt es nicht Wunder, dass er seine
Doktoranden mit den Theorien Ludwig Wittgensteins und Paul Watzlawicks
vertraut machte. Lowy, ein liberaler, agnostischer Jude, der Auschwitz
überlebt hatte, verwies mich auf die Systemtheorie und war der Meinung,
dass einer der bedeutendsten „Schüler“ Parsons der deutsche Jurist
Luhmann sei. Sehr prophetisch, wenn man bedenkt, dass Luhmann zu der
Zeit seine Hauptwerke noch gar nicht geschrieben hatte. Lowy
kritisierte sehr scharf den eschatologischen Charakter des Marxismus,
der in der „idealen bzw. unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft der
Forscher“ der kritischen Theorie (wovon schon Pierce „geträumt habe“,
so Lowy) und der Transformation der Philosophie (Karl-Otto Apel)
fortgeschrieben würde.
Die wichtigsten Adressaten einer Doktorarbeit sind die begutachtenden
Referenten. Guten Anschluss konnte ich in meiner Dissertation, die sich
mit der Hochschuldidaktik beschäftigte („Agogische Aktion als
Handlungsforschung in der Lehrerbildung“, Frankfurt 1977) an die
Axiome der Palo-Alto-Schule zur Kommunikation finden, worüber ich schon
vorher im Rahmen meiner Supervisionsausbildung bei Lowy gearbeitet und
eine Diplomarbeit verfasst hatte („Kommunikationssystem
Gruppensupervision – Aspekte eines Lernlehrverfahrens“, Freiburg 1975).
Luhmann lag mir weniger. Als ehemaliger Priester, der bei Karl Rahner
in Innsbruck und Joseph Ratzinger in Bonn studiert hatte (der junge
Ratzinger war damals der bei weitem fortschrittlichste katholische
Theologe Deutschlands – später machte er als Nachfolger des römischen
„Großinquisitors“ gekonnt eine Rolle rückwärts – ob er als Benedikt der
XVI wieder progressiv, fortschreitend wird, werden wir sehen. Der Mann
jedenfalls war bislang ein fähiger und begnadeter Umdeuter), konnte ich
- von der Theologie herkommend - eher mit Habermas und Apel konform
gehen.
Beim Wiederlesen meiner Dissertation habe ich festgestellt, dass ich
meine damalige theologische Position geschickt in den Anmerkungen
meiner Dissertation versteckt habe. Diese theologischen Ansichten
hatten viele Berührungspunkte mit dem damaligen
wissenschaftstheoretischen Mainstream an deutschen Hochschulen und
Universitäten, der kritischen Theorie.
Es gibt einen kleineren Text von Ratzinger „Gemeinde aus der
Eucharistie“ (1967), der überaus anschlussfähig ist in Hinblick auf den
philosophischen Diskurs der Moderne. Ratzinger begreift die Feier des
hl. Abendmahls als Gründungsmoment der Kirche: Sie wird so zum Ort der
Kommunikation, verstanden „als Kommunizieren des Herrn mit uns“
einerseits und als Kommunikation zwischen den Menschen andererseits;
zusammen entsteht daraus die „Kommunikation zum Miteinander der
Gemeinde.“
Den Verweis auf den Herrn versteht er als den in der Kommunikation
hinterlegten Telos der Verständigung, der sich erst in der
Gemeindefeier, also der Gemeinschaft der Gläubigen vollenden wird.
Kommunikation und Kommunion versuchte ich mit Ratzinger so zu
verschmelzen: Aus Verstehen wird Verständigung, daraus wächst das
Einander-Verstehen.
Diese eucharistische Theorie des kommunikativen Handelns bei Ratzinger
und vergleichbar auch bei Rahner findet sich in strukturanaloger Weise
auch bei Apel und Habermas. Ihnen geht der Gottesbezug zwar ab, doch
halten auch sie an einem kontrafaktischen Ideal der „gelungenen
Kommunikation“ und der „unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft fest“.
Engführung von Kommunikation und Kommunion bedeutet für sie: der in der
Sprache unhintergehbar angelegte Telos der Verständigung.
Auch wenn Habermas sich inzwischen längst durch die Erfahrung
faktischer Verständigungsverhältnisse belehren lässt, werden sich in
der Theorie Philosophie und Theologie zum Verwechseln ähnlich.
Für den ehemaligen Theologen Heinz Kersting war das ein guter Übergang
in die säkularisierte Welt. Luhmanns nüchterne Beobachterdistanz und
Lowys Warnung vor einem unwissenschaftlichen Eschatologismus fanden in
meiner Dissertation keinen Platz. Pflichtschuldig zitierte ich einmal
Luhmann, dagegen wimmelte es nur so von Bezügen zu Apel und Habermas.
Welches seiner Werke hat eine besondere Bedeutung für Dich und warum?
Bedeutung bekam Luhmann für mich erst über einen Umweg. 1981 gab
Watzlawick den Sammelband „Die erfundene Wirklichkeit“ (München)
heraus. Dieses Buch mit „Beiträgen zum Konstruktivismus“ löste in
Deutschland eine fruchtbare Diskussion aus. Zum ersten Mal wurden
weitere Kreise mit den Ideen von Ernst von Glasersfeld, Heinz von
Foerster und Francisco Varela vertraut gemacht. Da Watzlawick und seine
Genossen von Palo Alto mein Denken und supervisorisches Handeln bisher
schon sehr bereichert hatten, fanden die konstruktivistischen Gedanken,
die Watzlawick in seinem Buch außerdem noch vorzüglich kommentiert
hatte, bei mir bereitwillige Aufnahme. Sie veränderten mein bisheriges
Denken und katapultierten mich aus der moralistischen Enge der
kritischen Theorie in die Perspektivenvielfalt der Zirkularität. Mein
ehemaliger Lehrer Lowy, der mich Mitte der 80er Jahre mehrmals zu
Gastprofessuren nach Boston einlud, hatte seine helle Freude an dieser
Entwicklung und wies mich wieder auf den von mir bisher so schmählich
vernachlässigten Luhmann hin. Dieser hatte sich inzwischen viele der
konstruktivistischen Konstrukte wie z.B. die Autopoiese nach Maturana
und Varela und die Beobachtung zweiter Ordnung nach von Foerster für
seine Beobachtungstheorie von der Gesellschaft zu recht gezimmert und
nannte seine Ausführungen eine Allgemeine Systemtheorie.
1981 hatte ich meine Lehrtätigkeit an der Hochschule Niederrhein
begonnen. Dort stieß ich auf den Kollegen und Organisationsberater
Hans-Christoph Vogel, der so ziemlich alles gelesen hatte, was Luhmann
bis dahin geschrieben hatte. Er war fest davon überzeugt, dass man die
Beobachtung der Gesellschaft, wie Luhmann sie entwickelte, sehr gut für
die Organisationsberatung benutzen konnte. Von ihm bekam ich wichtige
Anregungen. Irgendwann beschlossen wir gemeinsame Seminare zur
Systemtheorie zu veranstalten. Später stieß zu uns ein neuer Kollege,
der ein echter Luhmannschüler war: Theodor M. Bardmann. Jahrelang
leiteten wir zu Dritt Seminare und in wechselnden Konstellationen
Workshops am Institut für Beratung und Supervision in Aachen, was nicht
selten in gemeinsame Veröffentlichungen zur systemischen Sozialarbeit,
Supervision und Organisationsentwicklung mündete.
Bestand bis zum Jahr 1991 meine Hauptlektüre in Werken von Maturana,
Varela, von Glasersfeld und von Foerster, so wurde sie von dem
Zeitpunkt an weitgehend von der Lektüre der Luhmannschen Werke
abgelöst. Wenn ich aus den etwa 4000-Seiten Luhmann, die ich gelesen
habe, die wichtigsten auswählen soll, dann sind im Nachhinein drei
Bücher für mich von besonderer Wichtigkeit gewesen: „Soziale Systeme –
Grundriß einer allgemeinen Theorie“ (Frankfurt 1987). Die vielen
gelesenen Bücher und Artikel zum Konstruktivismus hatten mich für
Luhmanns Theorien aufgeschlossen gemacht. Ganz wichtig sind mir bis
heute die Theoriekonstruktionen „Doppelte Kontingenz“, „System und
Umwelt“ und „Selbstreferenz und Rationalität“. Weiter das Buch:
„Wissenschaft der Gesellschaft“ (Frankfurt 1990), wichtig aus diesem
Buch sind mir „Beobachten“, „Wissenschaft als System“ und „Modernität
der Wissenschaft“. Als drittes Buch: „Gesellschaft der Gesellschaft“
(Frankfurt 1998). Aus der Fülle der in diesem umfangreichen Werk
versammelten Themen greife ich ein paar mir besonders wichtige heraus:
„Gesellschaft als soziales System“, „Differenzierungen“,
„Selbstbeschreibungen“.
Gab es persönliche Begegnungen mit Luhmann und, wenn ja: welche sind Dir besonders in Erinnerung geblieben?
Mehrmals habe ich die beiden Vorlesungsreihen von Luhmann, die auf
Kassetten im Auer-Verlag erschienen sind, gehört. Imponiert haben mir
am Lehrer Luhmann der wunderbare Humor und die Gabe, schwierige Materie
mit interessanten Beispielen zu erklären.
Persönlich begegnet bin ich Luhmann selten. Ein paar Mal auf
Kongressen, z.B. in Heidelberg und Wien. Ich habe mich nie mit ihm
unmittelbar unterhalten.
Inwiefern können Mitglieder der
beratenden Professionen (Psychotherapie, Beratung, Supervision etc.)
von der Lektüre der Werke Luhmanns aus Deiner Sicht profitieren - und
wie würdest Du die Antwort begründen?
Für Luhmann verstand es sich von selbst, dass er sich als Soziologe
nicht bevorzugt z.B. mit Affekten beschäftigte. Das entsprach für ihn
der alteuropäischen Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Psychologie,
in der sich die Soziologie als die Beobachterin der Gesellschaft
betätigen soll und der Psychologie die Beobachtung psychischer Prozesse
zugewiesen wird. In diesem Sinne war Luhmann ein geradezu klassischer
Alteuropäer.
Da das vordringliche Interesse des Soziologen Luhmann der Beobachtung
von sozialen Systemen galt, wurden von ihm die Affekte und die
individuellen Motivationen der Mitglieder von sozialen Systemen unter
den Bedingungen der Umwelt von sozialen Systemen abgehandelt.
Wie weit Luhmanns Ansatz als brauchbares Paradigma auf supervisorische
Prozesse (ich bin Supervisor und Organisationsberater und kein
Therapeut!) übertragen werden kann, ist unter den VertreterInnen der
systemischen Supervision strittig und noch nicht ganz ausdiskutiert.
Luhmann selbst („Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer
Systeme“, in: Fischer, H.R., Retzer A., Schweitzer J. [ Hg.]: Das Ende
der großen Entwürfe. Frankfurt 1992: 117-131) macht in Bezug auf die
Praxis der Systemtheorie auf einem Heidelberger Kongress auf Probleme
aufmerksam, die mit der allzu einfachen Adaptierung der Allgemeinen
Systemtheorie einhergehen, die ja nicht für die Beobachtung von
Beratungssystemen wie der Therapie oder Supervision entwickelt worden
war, sondern der Beobachtung der Gesellschaft dienen soll.
Im Bereich von Teamsupervision, die ich Arbeitssystemsupervision nenne,
und in der Organisationsberatung, wo wir es mehrheitlich mit sozialen
Systemen zu tun haben, halte ich die Konstrukte von Luhmann für äußerst
brauchbar, Sie helfen den Berater- bzw. Beratungssystemen, eine
System-Umwelt-Perspektive einzunehmen. Die oft übliche personalisierte
Sicht in Organisationen und Gruppen kann auf diese Weise systemisch
erweitert werden.
Ich selbst habe versucht („Anregungen für systemisches Denken und
Handeln in der Supervision im Kontext hochkomplexer Gesellschaften“, in
Buer, F., Siller, G. [Hg.]: Die flexible Supervision, Wiesbaden: 143-
158) wichtige Luhmannsche Konstrukte für die systemische Supervision
durchzudeklinieren. Problematisch wird, wenn ich mich an Luhmann allzu
eng anschließe, der Begriff der supervisorischen Kommunikation.
In der derzeitigen Informationsgesellschaft erleben wir, dass die
Massenmedien der ständigen Manipulation verdächtigt werden. Sie müssen
sich permanent anstrengen, diesen Verdacht durch Zeichen der
Glaubwürdigkeit, durch Beteuern von Objektivität und Beweise der
Unbestechlichkeit auszuräumen. Letztlich können sie dem Problem aber
nicht entkommen, da sie immer wieder aufs Neue kommunizieren müssen und
so den Verdacht ständig regenerieren. Sie „scheinen ihre eigene
Glaubwürdigkeit zugleich zu pflegen und zu untergraben“ („Die Realität
der Massenmedien“, Opladen 1996², 78f.).
Luhmann meint, dass wenn im Gefolge der Massenkommunikation und der
–medien „alles, jenseits der Sprache, ein möglicher Gegenstand der
Kommunikation wird, und wenn nichts ausgenommen bleibt, dann kann es
sein, dass die Kommunikation ihre spezifische Funktion, etwas der Welt
hinzuzufügen, verliert.... Wie können wir angemessene Kriterien für
Selektion und Verantwortung finden, wenn der ganze Prozeß eine
totalisierende Zirkularität besitzt?“ („Kommunikationsweisen und
Gesellschaft“, in: Rammen, W., Bechmann, G. [Hg.]: Technik und
Gesellschaft, Jahrbuch 5. Frankfurt a. M., New York 1989, 11-18).
Ich schließe mich im Unterschied zu Luhmann der systemischen Medien-
und Kommunikationswissenschaftlerin Margot Berghaus („Wie Massenmedien
wirken. Ein Modell zur Systematisierung“, in: Rundfunk und Fernsehen
47/1999: 186ff. und
„Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie“, Köln,
Weimar, Wien 2003: 276f.) an. Sie ist der Meinung, dass die von Luhmann
rhetorisch gestellte Frage nach den fehlenden Selektionskriterien
bereits ihre Antwort gefunden habe. Menschen orientieren sich, wenn
alles zum Gegenstand der Kommunikation werden kann und in der
Gesellschaft Kriterien der Selektion fehlen, an den primären Gruppen
ihres Umfelds, an der Familie und dem Freundeskreis, in der Interaktion
unter Anwesenden. Im Zweifelsfall, so meint sie, dient diese ältere
Kommunikationsform als Kontroll- und Orientierungsinstanz über die
jüngeren Formen der heutigen Informationsgesellschaft. Die alte
interpersonale Kommunikationsform als Interaktion unter Anwesenden
würde darum in Zeiten der globalisierten, universellen
Kommunikationserweiterung und Informationsüberflutung als
Selektionsinstanz immer wichtiger.
Wenn die Aufrichtigkeit in Worten nicht mehr kommunizierbar ist, weil
jede sprachliche Beteuerung zu noch mehr Zweifel führt, dann ist
praktisch das evolutionär ältere, nonverbale Ausdrucksverhalten die
Rettung. In den evolutionär älteren Kommunikationssystemen vertrauter
Personen, unter anwesenden Verwandten und Freunden, geschehen die
Selektionen. Dort wird selektiert und verhandelt, z.B. welcher Film
sich lohnt, welcher Schauspieler gut ist, welcher Musiker klasse
spielt, was man wann und wo trägt, welcher Politiker vertrauenswürdig
ist, welche Therapie hilft, welche Medizin heilt und welche Theorie
brauchbar ist.
Die heutige Situation ist vergleichbar der Situation, in der die ersten
Sozialarbeiterinnen in Nordamerika jenes neuartige Reflexionsinstrument
kreierten, das sie später Supervision nannten. Es war der
gesellschaftliche Kontext, der sie herausforderte und der in ihnen den
Wunsch weckte, mit einer neuen Praxis eine Antwort zu geben. Die
herkömmlichen Systeme administrativer und karitativer Hilfeleistung
waren in der Zeit der industriellen Revolution unbrauchbar geworden.
Die Situationen, in denen Menschen sich befanden, waren undurchschaubar
und die Probleme diffuser und komplexer. Die bisherigen Erfahrungen zur
Lösung und das damalige theoretische Wissen waren nicht in der Lage,
schnelle und stituationsnahe Antworten zu geben. Für mich ist das
Erstaunlichste, dass diese Frauen vor der scheinbaren Übermacht der
gesellschaftlichen Komplexität nicht kapitulierten, sondern sich in der
Supervision ein Instrument schufen, diese Komplexität zu nutzen und zu
managen. Die Supervision wurde damals der Ort, an dem im Reflektieren
und Kommunizieren neues Wissen für die Praxis konstruiert wurde.
Sicherlich war das genauso wie heute ein riskantes Wissen, das schnell
veraltete, so wie sich die hochkomplexen Situationen auch damals schon
immer wieder schnell veränderten. Aber es war ein Wissen, das nahe an
den Situationen dran war und vor allem handlungsbezogen eingesetzt
werden konnte. Produziert werden konnte es jedoch nur, weil in den
Supervisionssystemen vertraute Kolleginnen face to face verbal und
nonverbal mit einander kommunizierten. Dort wurde verhandelt und
selektiert, was in der jeweiligen Praxis brauchbar, vertrauenswürdig
und verantwortbar war. In diesen Interaktionssystemen konnte sich
Aufrichtigkeit ereignen.
Ich schließe mich Luhmanns Pessimismus nicht an, denn bei aller
Erweiterung globaler und universeller Kommunikation verliert die alte,
nahe und interpersonelle Kommunikation – als die direkte Interaktion
zwischen Anwesenden – nicht ihre bisherige Bedeutung, sie wird vielmehr
als die vielleicht einzig verbliebene Selektionsinstanz besonders
wichtig. In der Supervision kann diese interpersonelle Kommunikation
der Nähe auch heute noch ihren angemessenen Raum finden.
Mehr als ein Jahrzehnt habe ich mich intensiv mit den Schriften von
Niklas Luhmann auseinander gesetzt. Ich habe in dieser
Auseinandersetzung sehr viel gelernt und bin dankbar für die
Bereicherung.
Luhmann hat mich gelehrt, die Gesellschaft systemisch zu beobachten.
All das Wissen, das er in seinen Schriften mitliefert, war für mich ein
großer Gewinn. Vieles ist nützlich für meine Beratungen. Für mein
praktisches Handeln jedoch waren die Ausführungen von Watzlawick
brauchbarer, für meine ethischen Entscheidungen die von von Foerster
und Varela waren anregender. Jetzt, wo ich älter werde, besinne ich
mich zurück auf meine alten Wurzeln, die sich in meinen frühen Studien
der Philosophie und der Theologie gebildet haben. Ich bin den „letzten
Dingen“ ohnehin näher als vor mehr als 20 Jahren, als ich Luhmann für
mich entdeckte. Einige Jahre habe ich mich nun schon mit der
Religionsphilosophie Emmanuel Lévinas beschäftigt, sie hat mir einen
Zugang zu Jacques Derrida, dem Freund Lévinas, eröffnet. In jüngster
Zeit haben mir einige postmoderne Denker: René Girard, Klaus Berger und
Gianni Vattimo auch wieder einen neuen Zugang zum Christentum eröffnet.
Dahinter verblasst Luhmann.
Es mag paradox klingen. Nach dem Ende der absoluten Gewissheiten, habe
ich eine letzte Gewissheit zurückgewonnen, nämlich die, an eine letzte
Gewissheit zu glauben. Es ist ein christlicher Glaube, der sich von
allen Dogmen befreit hat.
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